Birth of the cool

Die nebulöse Geburt der Klimaanlage aus dem kühlen Geist des Kapitalismus

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Miles Davis war wohl ein Schwindler, als er 1949/1950 mit "Birth of the cool" eine der erfolgreichsten Jazz-LPs aller Zeiten auflegte. Hatte doch Karl von Linde bereits 1876 den Kühlschrank entwickelt, und schon der Philosoph Francis Bacon (1561 - 1626) hatte in einem für ihn allerdings tödlichen Experiment die Möglichkeit erkannt, Tierkadaver mit Schnee über längere Zeit zu konservieren. Mindestens so cool war aber die Erfindung der Klimaanlage, die am 17.Juli 2002 ihren hundertsten Geburtstag feiert.

Die Geburt dieser Coolness verdanken wir Willis H. Carrier, der seinen 1906 patentierten Apparatus for Treating Air in einer Großdruckerei in Brooklyn im Juli 1902 installierte. Techniken der Beheizung von Wohnräumen bis hin zu Zentralheizungssystemen waren schon Griechen, Ägyptern und Römern geläufig, während sich die menschliche Herrschaft über die Kühle langsamer entwickelte. Selbst der Siegeszug der Klimaanlage stellt sich historisch gemächlich dar. Erst innerhalb der letzten fünfzig Jahre hat sich Air Conditioning vor allem in Geschäfts- und Verkaufsräumen stärker durchgesetzt und das Autofahren in den letzten zwanzig Jahren erträglicher gemacht. Der Fama zufolge soll Carrier sein kühle Eingebung gehabt haben, als er auf einem Bahnsteig auf seinen Zug wartete und Nebel aufkam. Der "Apparatus for Treating Air" besaß ein System zum Sprühen von Wasser, das im Kühlsystem nebelartige Bedingungen simulierte, um eine präzise zu justierende Luftfeuchtigkeit zu ermöglichen.

Cool Daddy Carrier war in jenen Tagen ein junger Ingenieur, der seine epochale Apparatur indes nicht zur Humanisierung des Arbeitsplatzes entwickelte, um etwa heiße sweat jobs erträglicher zu machen. Vielmehr klagte ein Druckunternehmer über seine von Feuchtigkeit und Hitze ruinierten Tinten und Papiere. Das war ein Problem, das auch andere Unternehmer plagte, wenn zum Beispiel bei der Süßwarenherstellung die Luftfeuchtigkeit Pralinen und Bonbons aneinander kleben ließ oder bei der Textilproduktion sich Wolle und Garne bei wechselnden Temperaturen zusammenzogen oder ausdehnten.

Carrier war nicht der einzige, der sich mit dem Problem herumschlug, Räume zu kühlen, aber er gilt als derjenige, dem es endlich gelang, Temperatur und Feuchtigkeiten zu stabilisieren. Denn das Geheimnis des Air Conditioning liegt in der gleich bleibenden Luftfeuchtigkeit, die notwendig ist, um Produkte mit mehr oder minder identischen Qualitäten zu garantieren, aber in der Folge eben auch, um Arbeiter und Kunden nicht heiß laufen zu lassen.

Wohltemperierter Lifestyle oder perfides Ausbeutungsinstrument?

Wie Thomas Edison war Carrier nicht nur Erfinder, sondern zugleich auch Geschäftsmann. Bereits 1907 gründete er sein eigenes Unternehmen und startete 1915 mit 35.000 Dollar richtig durch, um mit der Massenproduktion von Klimatisierungssystemen für unterschiedlichste Gebäude, Fabriken, Shops und Hotels, sein kühles Imperium zu bauen. Was als industrielles Desiderat begann, entwickelte sich dann allmählich zum wohltemperierten Lifestyle. In Minneapolis wurde in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts die erste Klimaanlage in einem Haus installiert, weil der Eigentümer seine Braut mit der futuristischen Technologie beglücken wollte. Der amerikanische Traum wäre eben ohne seine technoimaginäre Glückseligkeit unvollständig. Stolzer Kostenpunkt damals: 10.000 Dollar.

Die nächste Luftkonditionierung galt als kleine Sensation, als der supercoole Speisewagen der Baltimore-Ohio Eisenbahn 1930 das Reisen schweißfreier gestaltete. Der Automobilhersteller Packard stattete zum Ende der Dreißigerjahre dann das erste Auto mit Air Conditioning aus. Längst hat sich die Klimaanlage zu einem - vor allem westlichen - Standard entwickelt, der das menschliche "Mängelwesen" medial ähnlich aufrüstet wie die Glühbirne und andere Virtualisierungen von Umweltbedingungen. Ohne die Klimatechnik wäre auch die Eroberung des Weltraums unmöglich gewesen, weil Temperaturschwankungen von minus 120 Grad bis plus 120 Grad Celsius ohne Raumanzüge mit Kühlsystemen für Astronauten unerträglich wären.

Als Carrier 1928 das U.S. Capitol abkühlte, stießen die Wirkungen seiner Coolness per Knopfdruck allerdings noch auf geteilte Meinungen. Mitglieder des Kongresses waren besorgt, dass die Wähler glauben könnten, dort fröne man dem lässigen Wohlleben. Marsha Ackermann hat der Philosophie des künstlichen Stay cool kürzlich sogar eine Dissertation mit dem anspielungsreichen Titel "Cool Comfort: America's Romance with Air-Conditioning," gewidmet, die auch den Ambivalenzen artifizieller Kühlung nachspürt. Ackermann räsonniert über die Schattenseiten menschlicher Lufthoheit in geschlossenen Räumen, weil Menschen eben dadurch auch in die Lage versetzt würden, länger zu arbeiten, als ihnen lieb sein mag.

Sollte Air Conditioning ein perfides, wenngleich perfekt getarntes kapitalistisches Ausbeutungsinstrument sein? Gewissermaßen das technische Pendant zur sozialen Kälte, die Theodor W. Adorno ohnehin als das Medium bürgerlicher Existenz erschien. Ackermann ist jedenfalls der Auffassung, dass Menschen schwitzen müssen und sich gerade jetzt zum Jahrestag der Klimaanlage mal ein kühles Plätzchen ohne apparative Unterstützung suchen sollten. Wem so viel kritische Reflexion der Abkühlungsforscherin aber uncool erscheint, sollte sein Sommerloch besser weiterhin mit der ultimativen Coolness künstlicher Klimaherrscher ausfüllen ... It's cool, man.