Blasen, Trolle, schlechtes Wetter - zum Bildprogramm der vernetzten Welt
Seite 2: Erosionen und Abschiede
Nicht leicht zu sagen, welchen Anteil postmodern-konstruktivistische Theorie an der Verbreitung aktueller Fake-News-Kulturen hat. Weniger Zweifel wird es allerdings daran geben, dass die Abgesänge auf die Wahrheit in akademischen Debatten ihren Reiz und ihre Berechtigung haben mögen, dass sie sich außerhalb dieser Diskurse - etwa im journalistischen Nachrichtenalltag oder in der Rechtsprechung - jedoch zum handfesten Alptraum auswachsen können, der kaum absehbare Destabilisierungen zur Folge hat.
Ähnlich den post-truth-Trends überdrehter Medienkosmen zeigen sich Zerfallsvorgänge derzeit auch im Wirkungskreis des identitätspolitischen Aktivismus, der in seinen extremen Formen große Schwierigkeiten mit einer rationalen Basis für gegenseitige Verständigung und Kritik hat. In der Verneinung einer verbindlichen Grundlage kommt er mit faktenbefreiten Einstellungen überein. Denn das entscheidende Kriterium ist für ihn Zugehörigkeit, nicht Vernünftigkeit.
Anstatt der begründenden Auseinandersetzung und der Qualität von Argumenten soll es die (essentielle) Verbundenheit einer Person mit einer bestimmten Gruppe sein, die ihre Äußerungen legitimiert oder eben als unberechtigt ausweist. Unterschiede hinsichtlich ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Alter werden so zu unüberbrückbaren Kommunikationsbarrieren.
Unter aufklärerischen Gesichtspunkten ist ein solcher Abschied von der Vernunft als anerkanntem Prinzip gelingender Verständigung - zurückhaltend formuliert - nicht eben erfreulich. Denn insbesondere die moderne pluralistische Gesellschaft zerfällt nach einer überspitzten kulturrelativistischen Herdenlogik in selbstzentrierte Scharen ohne Minimalbasis für Übereinkünfte und gemeinsame Ziele. Es zählt nur die im eigenen Lager versammelte community, und was in den Nachbarhöhlen geschieht, muss unverständlich bleiben.
Konservatorische Gegenwirkungen
Die fortschreitende Durchsetzung der Welt mit technischen Strukturen bringt mit sich, dass unsere handfesten Umgebungen immer weniger zu trennen sind von der Onlinesphäre. Das Internet of Things findet seine Fortsetzung im Internet of Everything, einer planetarischen Synchronvernetzung ohne tote Winkel. Die zur Anleitung unseres Weltverstehens herangezogenen Bilder funktionieren umfassend; elektronische Datenübertragung, Warenverkehr, Migration und die Verbreitung von Ideen sind allesamt Teil untrennbar verwobener Großbewegungen geworden.
In Die schrecklichen Kinder der Neuzeit hat Peter Sloterdijk die heutige Welt verglichen mit "einem gigantischen Delta, in dem Ströme aus Strömungen ein Hyper-Labyrinth von Wasseradern mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten bilden."
Hier kommt zum Ausdruck, was für den Einzelnen während seiner überschaubaren Lebensspanne schon erfahrbar ist und nicht erst von zukünftigen Historikern aus der Distanz rekonstruiert zu werden braucht: die Erosion hergebrachter Ordnungen, Entgrenzungsprozesse, Destabilisierungen von Lebensformen, zunehmende Unübersichtlichkeit. Ergänzen ließen sich noch mentale Tendenzen zu florierender Unruhe, Depression und erhöhter Gereiztheit von nicht selten überforderten Populationen, die sich mit ihrem Dasein in labyrinthischen Verflüssigungszonen noch nicht arrangiert zu haben scheinen.
In einer derart labilen Szenerie können Blasenbildungen und ähnliche Grenzerrichtungen als konservatorische Reaktionen und Überreaktionen gelten, die auf Stabilitätsbedürfnisse hindeuten. In diesem Sinne können die oben gewählten Beispiele als ausgeprägte Fälle antifluider Gegenwirkungen verstanden werden.
Der Umstand, dass sie in moralisch sehr fragwürdigem Licht stehen, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass niemand ohne Haltepunkte im Uferlosen existiert. Bewegen sich nicht auch progressive Fürsprecher von Auflösung und Subversion, all jene also, die die Verhältnisse "zum Tanzen" bringen möchten, mit spezifischen Vorstellungen und Absichten vorzugsweise in ihren Milieus?