Blutbad am Maidan: Wer waren die Todesschützen?

Seite 2: Mittlerweile kann man besonders im Internet so ziemlich jede Version der Ereignisse ungestraft als Verschwörungstheorie bezeichnen

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Mal allgemein formuliert: Wer vermutet, dass eine offizielle Lesart nicht der Wahrheit entspricht, oder wer meint, dass hinter einer Tat, einem Verbrechen, jemand anderes steckt, als es, sagen wir: regierungsamtlich verlautet wird, setzt sich schnell dem Ruf aus, einer Verschwörungstheorie verfallen zu sein. Ist man Ihnen im Hinblick auf ihre Recherchen mit dem Vorwurf begegnet, ein Verschwörungstheoretiker zu sein?

Stephan Stuchlik: Sehen Sie, Verschwörungstheorien sind so definiert, dass sie einer eigentlich vernünftig nachvollziehbaren Argumentation ein relativ, sagen wir, phantasievolles, möglichst umfassendes Gegenbild entgegensetzen, meistens mit einem sehr einfachen Erklärungsmuster für sehr komplizierte Phänomene. In unserem Fall war es umgekehrt: Wir hatten ein sehr einfaches Erklärungsmuster von Seiten der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft präsentiert bekommen und haben, davon ausgehend, versucht zu zeigen, wie kompliziert die Realität gewesen ist und wie sehr sie sich gerade einem einfachen Deutungsmuster (wie etwa dem der Staatsanwaltschaft) entzieht. Mir ist viel vorgeworfen worden in Zusammenhang mit diesem Fall, aber als Verschwörungstheoretiker hat mich noch keiner bezeichnet.

Screenshot aus einem Video vom 20. Februar

Wie sehen Sie das: Ist es nicht so, dass der Begriff Verschwörungstheorie längst zu einem Kampfbegriff geworden ist. Er ist so negativ konnotiert, dass alleine schon die Verwendung des Begriffs zu einer Art Stigma führt. Ist es nicht Zeit, dass wir als Journalisten mit dem Begriff reflektierter umgehen und unsere Arbeit nicht davon leiten lassen, was als Verschwörungstheorie gilt und was nicht?

Stephan Stuchlik: Sie haben Recht, mittlerweile kann man besonders im Internet so ziemlich jede Version der Ereignisse ungestraft als Verschwörungstheorie bezeichnen. Der Begriff ist ein inflationärer Kampfbegriff. Für die journalistische Arbeit ist doch nur relevant: Ist eine Frage, mit der ich mich beschäftige, wichtig? Gibt es berechtigte Zweifel an der momentan gültigen Version dazu? Ist man in der Lage, diese Version zu überprüfen? Hat man eine Redaktion im Rücken, die willens ist, so eine ergebnisoffene Recherche zu unterstützen und mitzutragen? Ob irgendjemand eine Version der Ereignisse im Internet als Verschwörungstheorie bezeichnet, sollte nicht Maßstab unserer Arbeit sein.

Nun mal weiter zu Ihren Recherchen: Wie lange haben Sie für ihre Geschichte recherchiert?

Stephan Stuchlik: Insgesamt war unser Team in unterschiedlichen Zusammensetzungen drei Wochen in Kiew.

Was haben genau Sie herausgefunden?

Stephan Stuchlik: Die Staatsanwaltschaft sagt: Wir wissen, wer schuldig war, es waren die Janukowitsch-Leute, wir kennen die Berkut-Soldaten, die für das Massaker verantwortlich waren. Wir glauben genügend Beweise und Augenzeugenberichte zu haben, die zeigen: So einfach kann es nicht gewesen sein.

Zum einen wurde den Demonstranten an diesem Tag augenscheinlich in den Rücken geschossen, das ist deswegen wichtig, weil sich im Rücken der Demonstranten mit dem Hotel Ukraina am 20. Februar eigentlich eines ihrer Hauptquartiere befand. Dann ist im Funkverkehr der Janukowitsch-Scharfschützen zu hören, wie die sich wundern, dass da Leute umgebracht werden - und zwar von professionellen Schützen, die sie nicht kennen. Wer hat da noch mitgeschossen? Warum sagt uns ein Arzt, er habe aus Verwundeten und Toten beider Seiten dieselbe Art Kugeln herausoperiert? Wieso wurde mit großer Wahrscheinlichkeit aus der einen Richtung auf beide Parteien, also auf die Opposition und auf die Miliz geschossen?

Ich kann nicht, wie mir von vielen unterstellt wird, sagen, diese oder jene Leute waren verantwortlich, vor allem: das waren etwa radikale Kräfte der Opposition selbst, die Chaos säen wollten, die die Schuld Janukowitsch in die Schuhe schieben wollten oder ähnliches. Aber es gibt Spuren, die genau in dieser Richtung Fragen aufwerfen. Bei der Wichtigkeit dieser Fragen: Warum lassen die offiziellen Ermittler diese Merkwürdigkeiten gänzlich unbeantwortet? Warum wird bestimmten Spuren - das sagen uns auch hochrangige interne Ermittler - augenscheinlich nicht nachgegangen? Ist es wirklich so, wie sich einer der Anwälte der Nebenklage uns gegenüber geäußert hat, dass die Staatsanwaltschaft parteiisch ist? Versucht Oleg Magnitskij von der rechtsnationalen Svoboda-Partei am Ende irgendjemand zu decken? Wenn nein, sollte er schleunigst Beweise für seine Version des Tathergangs auf den Tisch legen und uns eine befriedigende Antwort auf die eben genannten offenen Fragen präsentieren.

Aus Ihrem Beitrag für Monitor wird ersichtlich, dass es einen großen Unmut über die Ermittlungsarbeit gibt. Anwälte der Opfer und Hinterbliebenen gehen mit den Ermittlungen scharf ins Gericht. Sie haben es ja schon ansatzweise dargelegt: Einen echten Aufklärungswillen vonseiten der neuen Regierung scheint es nicht zu geben.

Stephan Stuchlik: Wir haben mit sehr viel Menschen gesprochen, darunter auch mit vielen, deren Aussagen und Beweisstücke unserer Meinung nach für die Klärung der vielen offenen Fragen wichtig wären. Es waren Leute darunter, die sich selbst schriftlich an die Generalstaatsanwaltschaft gerichtet und gesagt haben: "Achtung, ich glaube, ich habe da ein wichtiges Dokument, ich kann zur Klärung der Situation um soundsoviel Uhr wesentliches beitragen." Niemand hat auch nur eine Rückmeldung bekommen.

Ich kann nicht beurteilen, ob der Staatsanwaltschaft in diesen Fällen die Erkenntnisse auf andere Art und Weise zugänglich waren, als Signal aber ist so ein Verhalten natürlich fatal. Es ist für mich ein Zeichen dafür, wie sehr sich die neue Regierung in einem Politbetrieb einzurichten versucht, der sich mehr und mehr von den Menschen löst, die sie mit ihrem persönlichen Engagement an die Regierung gebracht haben. Wenn bei so einem schwierigen Tathergang nach wenigen Wochen bereits Schuldige präsentiert werden, zu einem Zeitpunkt, an dem in unseren Augen wichtige Zeugen noch gar nicht gehört wurden, dann bringt das natürlich auch die Basis der neuen Regierung in der Bevölkerung ins Wanken, das können Sie sich vorstellen.

Ich habe eine Szene miterlebt, wo ein Rada-Abgeordneter vor der Tür des Parlaments von wütenden Passanten angegangen wurde, etwa mit der Botschaft: "Wir haben hier unseren Kopf hingehalten und ihr wollt mal wieder alles unter der Decke halten." Ich kann diesen Unmut nach meinen zwei Wochen in Kiew durchaus verstehen.

In Ihrem Beitrag ist zu sehen, dass der Tatort längst noch nicht sauber abgesucht wurde, noch immer Patronenhülsen gefunden werden.

Stephan Stuchlik: Jeder wird verstehen, dass man nach einem chaotischen Bürgerkrieg, wie er Ende Februar in Kiew getobt hat, keine Tatortsicherung nach gewohnten westlichen Standards durchführen kann. Wir haben aber glaubhafte Zeugenaussagen dafür, dass man erst vier Tage nach dem Massaker überhaupt angefangen hat, das Gelände abzusperren. Bis dahin hatten bereits Teilnehmer an den Kämpfen oder Schaulustige große Teile der Patronen oder Kugeln als Souvenirs mit nach Hause genommen. Teile des Platzes, übrigens auch Teile der Dächer, von denen geschossen wurde, wurden vor dem späten Eintreffen der Ermittler gesäubert. Es sind also wichtige Beweise vollständig verschwunden.

Auf der anderen Seite werden Sie sehen, dass man mit ein bisschen Hartnäckigkeit noch jetzt, sechs oder sieben Wochen nach den Ereignissen, wichtige Spuren vor Ort finden kann, die die Tatortsicherung augenscheinlich übersehen hat. Da frage ich mich zum einen, wie hoch die Qualität dieser Arbeit zu bewerten ist und wieso auf der anderen Seite der Generalstaatsanwalt schon jetzt so sicher sagen kann, wer die Schuldigen waren.

Ich kann nicht ausschließen, dass neben Janukowitsch-Schützen möglicherweise die viel zitierte "dritte Seite" an den Schießereien beteiligt war

"Das waren Söldner", sagt ein Zeuge in Ihrem Bericht, und ein hochrangiges Mitglied der Ermittlungsgruppe sagt: "Das, was mir an Ergebnissen meiner Untersuchung vorliegt, stimmt nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft erklärt." Wenn es tatsächlich weitere Scharfschützen gab, die nicht von der Regierung waren, wer waren sie dann? Haben Sie eine Vermutung?

Stephan Stuchlik: Wir glauben, dass viele der Toten vom 20. Februar von oben gezielt getötet wurden, oder, um es anders zu sagen: von professionellen Scharfschützen. Das ist übrigens eine der Erkenntnisse, die in Ermittlerkreisen kursiert und dort als unstrittig gilt. Das ist natürlich im Gegensatz zur Theorie der Staatsanwaltschaft: Der Großteil der Berkut-Truppe befand sich nach allgemeiner Meinung unten auf der Straße.

Dass die Janukowitsch-Seite professionelle Sniper hatte und Menschen gezielt getötet hat, steht fest. Wenn die Schützen im Rücken der Opposition auch Janukowitsch-Scharfschützen waren: Warum kannten sie ihre Kollegen im Funkverkehr nicht? Wie sind sie durch die Reihen der Opposition ins Hotel Ukraina gelangt? Und: Warum stehen sie nicht unter Anklage? Wenn die Schützen aus den Reihen der radikalen Opposition kamen: Woher kam ihre professionelle Ausbildung? Wurden Profis eingekauft? Warum haben sie auf ihre eigenen Leute geschossen? Aus Versehen? Um Chaos zu säen? Ich habe noch viel zu viele offene Fragen, um in diesem Punkt auch nur eine Vermutung zu äußern.

: Zum Schluss Ihres Beitrags heißt es: "Möglicherweise gibt es auch noch andere Kräfte, die an den Schießereien beteiligt waren." Was meinen Sie damit?

Stephan Stuchlik: Ich kann beim jetzigen Stand unserer Recherchen nicht ausschließen, dass neben Janukowitsch-Schützen möglicherweise die viel zitierte "dritte Seite" an den Schießereien beteiligt war. Gucken Sie auf die einschlägigen Internetforen, wer da alles angeführt wird: die Russen, die Georgier, die Briten, die USA. Zu allen diesen Tatversionen gibt es Erklärungsmodelle. Man kann so eine Beteiligung nicht ins Reich der Fabeln verweisen, dafür waren die Ereignisse in Kiew weltpolitisch zu bedeutsam. Um ganz ehrlich zu sein: Es ist vor allem die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft im Interview mit uns so eine Möglichkeit kategorisch ausschließt, die mich darüber nachdenken lässt.

Bleiben Sie an dem Thema dran?

Stephan Stuchlik: Bei der Wichtigkeit des Themas, bei der vielen mühsamen Arbeit, die wir investiert haben, erübrigt sich diese Frage beinahe. Natürlich machen wir weiter, denn die endgültige Antwort auf die Frage: "Wer hat da eigentlich geschossen?" haben wir im Gegensatz zur Generalstaatsanwaltschaft noch nicht gefunden.