Blutiges Spektakel in Erinnerung an den vorbildlichen Opfertod
Foto-Bericht von der Ashoura-Feier der Schiiten im Libanon, die einen alten Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zum Ausdruck bringt
Gestern feierten weltweit rund 200 Millionen Schiiten "Ashoura", den wichtigsten Festtag des Jahres. Wie immer am 10. Moharram, im ersten Monat des moslemischen Kalenders. Nach den Sunniten (90 %) sind die Schiiten (10 %) die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft des Islams. Überschattet wurden die Feierlichkeiten durch Attentate im Irak und in Pakistan, bei denen insgesamt fast 200 Menschen ums Leben kamen. Im Libanon fanden die Prozessionen zum Gedenken an den Helden "Hussein", der vor gut 1300 Jahren getötet worden war und seitdem das Sinnbild für "Widerstand gegen Ungerechtigkeiten" ist, ohne Zwischenfälle statt.
Morgens gegen 8 Uhr ist in Nabatiye, einem kleinen Ort im Südlibanon, unweit der israelischen Grenze, noch nicht viel los. "Du sollst mir als Märtyrer folgen und wenn nicht, dann findest du keine Erlösung" steht auf einem der vielen schwarzen Banner, die quer über die Strassen des Städtchens gespannt sind. Je näher man dem Ortszentrum mit der Moschee kommt, begegnen einem immer mehr Kinder, kaum älter als 10 Jahre, deren Gesichter blutüberströmt sind. Unaufhörlich schlagen sie sich mit der Hand auf den Kopf, wo sich offensichtlich die Wunde befindet, von der das Blut über Gesicht und auf den ganzen Körper läuft. Entlang der Strassen stehen unzählige Erste-Hilfe-Zelte verteilt, mit Liegen und Bahren auf dem Boden. Die Rotkreuzler trinken Kaffee und rauchen bei einem geruhsamen Plausch ihre Morgenzigarette.
In der "Masjed", der örtlichen Versammlungshalle, wo sonst auch gebetet wird, tut sich mehr. Kinder und Jugendliche stehen Schlange, um sich von einem der ganz in weiß gekleideten Männer mit einem langen Rasiermesser in die Kopfhaut ritzen zu lassen. In einer Art Hinterzimmer erzählt der "Imam" vor rund 150 Zuhörern die Geschichte von Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammeds. Die pathetische und emotionsgeladene Rede wird über Lautsprecher in die Halle und nach draußen auf den Vorplatz übertragen.
Für alle Schiiten war Hussein der einzig legitime Nachfolger des Propheten Mohammeds, der 652 n. Chr. plötzlich gestorben war. Nur ein Verwandter des Propheten konnte (und kann noch heute) ihrer Meinung nach das "Kalifat" aller Moslems übernehmen. Ausschließlich ein Familienmitglied habe die erforderliche spirituelle Kraft, das "baraka". Im Gegensatz dazu standen die Sunniten, für die das "Kalifenamt" keine religiöse Autorität bedeutete, sondern nur militärische Führung, Verwaltung und Richterspruch. Als nun die Omajjaden die Macht übernahmen, stellte sich Hussein dagegen, um für die wahre, also seine Nachfolge, einzutreten. In einem aussichtslosen Kampf wird er mit seinen 72 Gefährten am 18.10. 680 in Kerbala getötet. Von den Schiiten wird dies als "Opfertod" interpretiert, da Hussein nicht die geringste Chance hatte, die Schlacht zu gewinnen.
Sein "Opfertod" ist Hintergrund der schiitischen Glorifizierung der "Märtyrer", die für eine gerechte Sache in den Tod gehen. Das Leben im Kampf gegen Ungerechtigkeit zu lassen, ist heute ein selbstverständlicher Bestandteil schiitischer "Philosophie". Ein Soldat der Hisbollah bestätigte mir, "dass es fast eine Schande sei, lebend von einer militärischen Operation gegen den Feind" zurückzukehren. Diese extreme Einstellung ist hauptsächlich ein Produkt der "Islamischen Republik Iran" und von Ayatollah Khomeini, der den "Ashoura-Ritus" und den "Märtyrer-Mythos" wiederbelebte und für seine politischen Zwecke propagandistisch benutzte. Während des Iran-Irak-Krieges gab es viele Soldaten, die am Schrein von Kerbala lautstark beklagten, dass sie nicht im Kampf gefallen waren.
Die Bereitschaft, bedingungslos zu sterben, spielt auch bei den Auseinandersetzungen zwischen israelischem Militär und Hisbollah eine wichtige Rolle. Während die einen Angst haben, getötet zu werden, ist es für die anderen eine Ehre und Erfüllung ihrer religiösen Würde, auf dem "Schlachtfeld" zu sterben.
Als der Imam in Nabatiye den Tod des "Husseins" vor 1300 Jahren schildert, beginnt er klagevoll zu schluchzen und bricht dann, wie auch der Großteil seiner Zuhörer, in Tränen aus. In der Vorhalle der "Majed" watet man inzwischen durch das Blut auf dem weißen Marmorboden. Mittlerweile haben sich rund 3000, meist Jugendliche und Männer im mittleren Alter, mit den langen Rasiermessern ihre kahlrasierten Schädel ritzen lassen. Bei vielen werden die alten Narben der Vorjahre wieder aufgeschnitten. Kleine Babys und vier-, fünfjährige Kinder werden von den Eltern gebracht, um ihnen scheinbar in einer Art "Initiationsritus" einen ersten Eindruck vom Leiden und Kampf "Husseins" zu gegeben. Man posiert fürs Familienalbum, um das "erste Blut" des Sprösslings zu feiern. Vater und Sohn, Brüder und Freunde lächeln gemeinsam mit blutenden Köpfen in die Kameras als wäre es die "Erste Kommunion".
Draußen auf dem Vorplatz und in der Stadt haben sich mittlerweile rund 20.000 Menschen versammelt, die meisten davon Zuschauer aus dem ganzen Libanon. Zwei- bis dreitausend Menschen ziehen immer wieder durch die Straßen, lange Schwerter schwingend. Ihre Gesichter kann man oft nicht mehr erkennen, sie sind bedeckt mit einer Mischung aus frischem Blut und Schleim. Auch Hemd und Hose sind meist blutgetränkt. Immer wieder schlagen sie sich rhythmisch unter lauten "Hidar, Hidar"-Rufen auf ihre Kopfwunden, um sie noch mehr bluten zu lassen.
Die Rot-Kreuz-Helfer haben mittlerweile viel zu tun. Manche der Prozessionsteilnehmer, die es offensichtlich mit dem symbolischen Mitleiden am Tode Husseins zu ernst genommen haben, liegen nach Schwächeanfällen auf den Bahren am Boden. Einige lassen sich auch ihre Wunden verarzten, die in der Hitze des Gefechts etwas zu heftig ausgefallen waren.
Wem es in dem blutigen Treiben nach einer Ruhepause zumute ist, kann sich in einem Zelt, das als Replika der Moschee von Kerbala dekoriert ist, die Schlacht vom 18. 10. 680 in Krippenspielmanier anschauen. In Europa muss man zu Weihnachten in katholischen Kirchen auf den Lichtschalter drücken, um Maria und Josef im Stall von Bethlehem in Puppengröße zu sehen. In Nabatiye liegt "Hussein mit seinen Gefährten" tot im Sand von Kerbala. Rotierende Scheinwerferkegel erzeugen zusammen mit sehr theatralisch gehaltener Untergangsmusik einen "schauerlichen Eindruck". Das "Kerbala-Zelt" ist der einzige Beitrag der Hisbollah zu den Festivitäten in Nabatyie, in dem ansonsten die grünen Flaggen, T-Shirts und Schals der "Amal", einer rivalisierenden schiitischen Partei Libanons, dominieren. Das "Hussein-Puppenzelt" ist nur ein kleines Vorspiel, am Spätnachmittag wir die Schlacht, ganz im christlichen Stil der österlichen Passionstheater, mit Pferd und Reiter auf großem Gelände nachgespielt.
Die Hisbollah, die größte und bekannteste, schiitische Partei des Libanons, ist gegen die "blutige Version" des Ashoura-Rituals. "Aus gesundheitlichen Gründen", wie es von offizieller Seite der "Partei Gottes" heißt. Die Hisbollah führt zeitgleich zu Nabatyie ihre "Prozession" in Haret Hreik durch, einem vorwiegend von Schiiten bewohnten Stadtteil von Beirut. "Demonstration" wäre aber eher die richtige Bezeichnung dafür. Zwar gibt es natürlich lange Reihen von Kindern und Erwachsenen, die sich symbolisch im Wehklagen auf die Brust schlagen, doch letztendlich erscheint alles als wohl organisierte und geordnete militärische Parade. Hier kann niemand seinen Gefühlen der Trauer freien Lauf lassen.
Der Hisbollah eigene Sender AL Manar TV strahlt live aus, wobei er eine lokale und internationale Version produziert. Man wolle auf kontroverse Szenen, die andere muslimische Glaubensgemeinschaften kompromittieren könnten, laut Hassan Fadlullah, der Nachrichtenchef von Al Manar, besser verzichten. Er spielt damit auf die Schuld der Sunniten am Tode von "Hussein" an, die das schiitische "Ashoura-Ritual" letztendlich zum Ausdruck bringt. Wichtig sei es, durch die Gedenkfeiern "eine Einheit zu erzeugen und die Massen zu mobilisieren", so Hassan Fadlullah weiter:
Wir haben so viele Gemeinsamkeiten und müssen deshalb alle Versuche, die einen konfessionsbedingten Konflikt im Irak, Libanon oder sonst wo provozieren wollen, bekämpfen.
Nach den gestrigen Bombenattentaten im Irak ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, hatte zwar als Reaktion auf die Angriffe in Kerbala gesagt, "die einzigen, die von diesen Attacken profitieren, sind die USA". Im Irak wird diese Interpretation wenig Gehör finden. Ein Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten um eine Vormachtstellung ist vorprogrammiert. Viele werden das als eine Neuauflage der Spaltung beider Gruppen sehen, die vor 1300 Jahren mit dem Tod Husseins begann.
Doch selbst im Libanon nach 15 Jahren Buergerkrieg ist eine religiöse "Einigkeit", selbst unter Moslems, noch in weiter Sicht. Wie sagte doch mein sunnitischer Lebensmittelhändler, als ich im erzählte, dass ich in Nabtiye war:
Ach, bei den Verrückten!