Boris Johnson plant Werbekampagne für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich
Nicola Sturgeon fordert ein zweites Referendum, die britische Regierung sperrt sich. Auch in Wales werden Forderungen nach Unabhängigkeit laut
Nicola Sturgeon soll endlich verstehen, dass sie verloren hat und aufhören, dauernd von einem zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendum zu reden. So knapp lässt sich die Positionierung der britischen Regierung unter Premierminister Boris Johnson zur schottischen Frage zusammenfassen. Die schottische Regierungschefin fordert von London die Erlaubnis zur Durchführung eines solchen Referendums, London sagt nein. Somit gibt es ein Patt.
Doch so einfach ist es nicht. Tatsächlich macht sich Boris Johnson wohl größere Sorgen, als er sich nach außen anmerken lässt. Laut Informationen des Onlineportals "politics home" hat er die Bereitstellung von Geldmitteln in Höhe von fünf Millionen Pfund in die Wege geleitet. um ab dem kommenden Valentinstag die schottische Bevölkerung mit einer Werbekampagne für die "Vorteile der Mitgliedschaft in der Union" zu beglücken. Gemeint ist natürlich die Mitgliedschaft in der Union mit England, Wales und Nordirland im Rahmen des Vereinigten Königreichs, nicht die Europäische Union. Geplant sind laut "politics home" Werbespots für Kinos, Fernsehen, Radio und digitale Medien.
Johnsons Sorgen sind berechtigt. Im Januar gaben Meinungsumfragen erstmals eine knappe Mehrheit von 51 Prozent für die Unabhängigkeit Schottlands an. Unionistische Parteien wurden bei den Parlamentswahlen im Dezember 2019 marginalisiert. Die für die Unabhängigkeit eintretende schottische Nationalpartei SNP hält 48 von 49 schottischen Sitzen im britischen Unterhaus. Lediglich einer entfällt auf die Labour-Partei, 2017 waren es noch acht. Die Konservativen halten nur noch sechs Sitze, vorher waren es immerhin 13.
Nicht nur in Schottland gibt es Bestrebungen zum Austritt aus dem Vereinigten Königreich
Die Einheit des Vereinigten Königreichs steht nicht erst seit heute auf wackeligen Beinen. Jahrzehnte neoliberaler Politik haben dafür gesorgt. In Schottland ist laut Angaben der Nichtregierungsorganisation Joseph Rowntree Trust jede fünfte Person von Armut betroffen.
Auch außerhalb Schottlands steht die Einheit Großbritanniens unter Druck. So gab es in Wales von Frühling bis Herbst eine Reihe von größeren Demonstrationen, auf denen die walisische Unabhängigkeit gefordert wurde. 5000 Personen beteiligten sich beispielsweise in Merthyr Tydfil, dem ehemaligen Wahlkreis vom Gründer der Labour-Partei Keir Hardy. Im Mai demonstrierten 2000 Menschen in Cardiff für die Unabhängigkeit, 8.000 waren es im Juli in Caernarfon.
Laut einer vom YouGov-Institut durchgeführten Meinungsumfrage vom September vergangenen Jahres befürwortet zwar nur eine Minderheit von 24 Prozent die walisische Unabhängigkeit. Allerdings stand die Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit wenige Monate vor dem Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 auch nur bei 28 Prozent. Diese niedrig erscheinende Unterstützungsrate nahm der damalige britische Premierminister David Cameron überhaupt erst zum Anlass, einem Referendum zuzustimmen. Er ging davon aus, dass das unionistische Lager mit Leichtigkeit gewinnen würde. Bekanntlich wurde es am Ende aber ziemlich knapp - 45 Prozent aller Wähler stimmten für die Loslösung Schottlands von Großbritannien.
Die Demonstrationen in Wales wurden von einer Massenbewegung inspiriert, welche in Schottland Hunderttausende zu Großdemonstrationen für die Unabhängigkeit mobilisieren kann. 800.000 Teilnehmer wurden bei dem letzten Event dieser Art am 11. Januar gezählt. Der Druck wächst. Am 1. Februar beschloss zum Beispiel der Vorstand von Schottlands größter Gewerkschaft UNISON eine Resolution, in welcher "das souveräne Recht der schottischen Bevölkerung darüber, selber zu entscheiden, welche Regierungsform ihren eigenen Bedürfnissen entspricht", anerkannt wird. UNISON unterstützt nun auch die Forderung nach einem zweiten Referendum.
Ironischerweise ist es gerade die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon, die diesen Druck am unangenehmsten spürt. Den großen Straßenmobilisierungen für die Unabhängigkeit steht sie skeptisch gegenüber, teilgenommen hat sie an keiner einzigen. Sehr wohl hat sie aber im vergangenen Jahr an Kundgebungen in London gegen den Brexit teilgenommen. Dort teilte sie die Bühne mit prominenten unionistischen Politikern. Nun ist der Brexit da, und sie steht unter Zugzwang.
Dem versuchte Sturgeon mit einer Grundsatzrede am 31. Januar anlässlich des EU-Austritts Großbritanniens zu begegnen. Darin stellte sie zunächst fest, dass sich die Lage auf der Insel durch den Brexit fundamental geändert habe. Der "Status quo", für den die Mehrheit beim Referendum 2014 gestimmt hatte, existiere nicht mehr.
Für zweites Referendum, aber ordentlich und nicht wie in Katalonien
Hier spielt Sturgeon darauf an, dass damals vom unionistischen Lager ein drohendes Herausfallen Schottlands aus der EU als zentrales Argument für den Verbleib im Vereinigten Königreich angeführt wurde. Heute hofft Sturgeon auf Unterstützung durch die EU. Bekannt sind jüngste Aussagen des ehemaligen Europaratspräsidenten Donald Tusk, wonach sich dieser nach dem Brexit "sehr schottisch" fühle (Plötzlich wartet die EU "eifrig" auf das unabhängige Schottland). Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass es in vielen EU-Staaten, darunter Spanien, Frankreich und Belgien, ein großes Interesse gibt, Unabhängigkeitsbewegungen nicht zu befördern.
Sturgeon führt weiter aus, dass es nun "einen materiellen Wandel der Bedingungen" gegeben habe. In vergangenen Jahren hat Sturgeon ein zweites Referendum nur unter der Vorbedingung eines solchen Wandels befürwortet. Diese sieht sie nun scheinbar erfüllt. In ihrer Rede sprach Sturgeon von einem "in Eisen gegossenen Mandat seitens der Öffentlichkeit und des schottischen Parlaments für ein Referendum".
Gleichzeitig drückt sie auf die Bremse. Ein solches Referendum müsse durch Gesetze und Rechtsprechung gedeckt sein. Ein so genanntes "wildes" Referendum lehnt sie explizit ab. Damit spricht sie sich gegen eine Situation wie in Katalonien aus, wo die dortige Autonomieregierung gegen den Willen des Zentralstaates ein Unabhängigkeitsreferendum organisierte welches von heftiger staatlicher Repression begleitet war. Sturgeon sucht somit weiter das Zugeständnis der britischen Regierung. Deshalb wird die schottische Regierung in den kommenden Wochen und Monaten eine Reihe von Berichten veröffentlichen, welche aufzeigen sollen, wie ein Übergang zur Unabhängigkeit funktionieren kann.
Referendumswahlkampf
Es scheint also, als ob die Schotten in der nächsten Zeit eine Art Referendumswahlkampf ohne Referendum erleben werden, in welchem sowohl SNP als auch die britische Regierung um Zustimmung für ihre Positionen buhlen, ohne dass die Bevölkerung wirklich etwas zu entscheiden hat.
Hier sind auch Konflikte über das Ausmaß der Rolle der schottischen Regierung bei der Weltklimakonferenz in Glasgow im November einzuordnen. Die SNP fordert als Regierung mit am Tisch sitzen zu können, Boris Johnson verhält sich in der Frage eher bedeckt und spricht von einer "angemessenen" Rolle für Schottland. Spannend bleibt, ob die außerparlamentarische Bewegung diesem Theater nur als Zaungast beiwohnen oder zunehmend selber in die Ereignisse eingreifen wird.