Brauchen wir einen EU-Wiederaufbaufonds?

Seite 2: Keine Alternative: einfache Verzinsung ohne Risikoprämie

Würde in dieser Situation die einfache Verzinsung ohne Risikoprämie gewählt, erfolgte die Begleichung der vollen Darlehenssumme durch den riskanten Darlehensnehmer erst gegen Ende der Laufzeit. In Verbindung mit der Zinseszinsmethode führt die Risikoprämie jedoch zu einer beschleunigten Begleichung der Darlehenssumme.

Die riskante Anfangsphase des Darlehens, die mit schlechten oder gar keinen Kreditsicherheiten abgesichert ist, wird verkürzt, während das Risiko für den Darlehensgeber mit jeder Ratenzahlung weiter sinkt. Die gleichzeitigen Ratenzahlungen von Tilgung und Zinsen führen nach geraumer Zeit zur vollständigen Bezahlung des Darlehensbetrages durch den Darlehensnehmer.

In diesem Augenblick reduziert sich das Ausfallrisiko des Darlehensgebers auf Null. Ab diesem Zeitpunkt ist die Investition8 der Bank vollständig gesichert und die darauffolgenden Zahlungen erfolgen lediglich auf die Zinsen, also den Preis des Darlehens.

Die Risikoprämie kann folglich durch eine Kreditsicherheit ersetzt werden und sie beschleunigt die Zahlungen in der kritischen ersten Phase von riskanteren Darlehen. Es ist daher korrekt die Risikoprämie als Kreditsicherheit sui generis zu bezeichnen.

Es ist der kreditsicherheitsersetzende Charakter der Risikoprämie, der die Investition der Kreditgeber in Form der Darlehenssumme schützt, während die Risikoprämie Kredite für Darlehensnehmer mit unzureichenden oder keinen Kreditsicherheiten verfügbar macht.

Ex ante, stellt jeder Kunde ein anderes Risiko für die Bank dar, was unterschiedliche Risikoprämien und damit Preise bedingt, um Verluste zu verhindern. Das wirkliche Risiko des Darlehensnehmers lässt sich jedoch erst ex post bestimmen.

Sollten sich risikoreiche Kunden als ebenso zuverlässig erweisen, wie wohlhabende Kunden, sind unterschiedliche Preise für dieselben Darlehen nicht gerechtfertigt, sondern stellen eine Diskriminierung aufgrund des Vermögens dar.

Die Diskriminierung aufgrund des Vermögens ist durch zahlreiche Rechtsinstrumente verboten.9

Auch Gerichte unterstützen zunehmend das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Vermögens.10 Unterschiedliche Preise für dasselbe Darlehen mit demselben Risiko können jedoch leicht dadurch verhindert werden, indem die Risikoprämie am Ende zurückgegeben wird, oder Risikoprämien und Zinsen entsprechend des abnehmenden Risikos im Laufe der Zeit angepasst werden.11

Die Risikoprämie kann angepasst bzw. zurückgegeben werden, da sie Teil des Zinses ist und nicht das Eigentum des Darlehensgebers. Als Kreditsicherheit sui generis bleibt die Risikoprämie ohnehin Eigentum des Darlehensnehmers.

Daher muss die Risikoprämie wie jede andere Kreditsicherheit zurückgegeben werden, sobald die Investition der Bank, als die die ursprüngliche Darlehenssumme betrachtet werden kann, vollständig vom Kunden beglichen wurde.

Es widerspricht sicher der gängigen Praxis von Banken, wenn die Risikoprämie als Kreditsicherheit behandelt, der Eigentumsschutz auf die Darlehenssumme beschränkt (anstatt ihn wie bisher auch auf Preise wie die Zinsen auszuweiten) und die Diskriminierung aufgrund von Vermögen verhindert wird.

Aber die vollständige Aufrechterhaltung der Risikoprämie über die gesamte Laufzeit des Darlehens, ohne sie dem schwindenden Ausfallrisiko entsprechend anzupassen, widerspricht dem öffentlichen Interesse, verstößt gegen das Diskriminierungsverbot und verletzt häufig die Grundrechte der Darlehensnehmer.

So kann eine diskriminierende Zinspolitik vermieden werden

Die Anpassung von Zinsen und Risikoprämien hingegen verhindert Diskriminierung, indem alle Darlehensnehmer gleichbehandelt werden, nachdem sie ihre hauptsächliche Zahlungspflicht erfüllt haben. Stellt man auf den Moment ab, in dem der Darlehensnehmer die Darlehenssumme an den Darlehensgeber vollständig bezahlt hat, ermöglicht man den Interessenausgleich zwischen den Vertragsparteien.

Diese Vorgehensweise belastet Banken nicht zusätzlich; sie korrigiert lediglich eine schlecht konzipierte Finanzpraxis, ohne die Vertragsfreiheit oder Marktkräfte zu beeinflussen, indem Zinsen endlich rechtlich als Preise anstatt als Eigentum der Kreditgeber und indem Risikoprämien als Kreditsicherheiten der Darlehensnehmer behandelt werden.

Diese Haltungsänderung wäre außerdem kein Kostentreiber: Aufgrund der Basler Abkommen haben Banken ihre Daten für das Risikomanagement mindestens vierteljährlich zu aktualisieren.12

Banken sind demnach bereits jetzt rechtlich verpflichtet die Daten regelmäßig zu erheben, die für die Anpassung der Zinsen und der Rückgabe der Risikoprämien an ihre Kunden notwendig sind.

Während dies eventuell kurzfristig zu Gewinneinbußen mancher Banken führen könnte, würden alle Banken auf lange Sicht von zuverlässigerem Risiko und einem stabileren Finanzmarkt profitieren, da Zahlungsausfälle und Konkurse weniger wahrscheinlich würden, wovon gelegentlich auch Banken bedroht sind.

Laut Bundesbank beläuft sich der deutsche Schuldenstand derzeit auf ca. 2.057 Milliarden Euro.

Wenn davon nur 15 Prozent auf ohne Rechtsgrund zu zahlende Risikoprämien zurückzuführen wären, könnte sich die Ersparnis für die Bundesrepublik allein auf 308 Milliarden Euro belaufen.

Das heißt, allein die deutschen Ersparnisse würden bereits bei dieser niedrigen Schätzung fast dem von der EU-Kommission geforderten Kreditvolumen für den Wiederaufbaufonds entsprechen. Die Anpassung von Risikoprämien ist demnach der geringstmögliche Eingriff, um die von der EU-Kommission beabsichtigten Ziele zu erreichen.

Durch die Anpassung von Risikoprämien würden die EU Mitgliedsstaaten in die Lage versetzt, die nötigen Geldmittel ohne Kreditgeber, ohne zusätzliche Verschuldung und in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu erlangen.

Staaten stünde sofort mehr Haushaltsspielraum gegen Covid-19, zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte zur Verfügung, Unternehmen erhielten Kapital für Investitionen und Bürger Geld für ihren täglichen Bedarf.

Die Zinsanpassung gemäß des tatsächlichen Risikos würde voraussichtlich auch den Bedarf an Quantitative Easing (QE) signifikant reduzieren. Auf den von der Bundesbank und vielen anderen kritisierte Ausnahmeschuldenmechanismus könnte verzichtet werden, weil er rechtlich nicht vorgesehen ist, die Verschuldung der EU-Bürger erhöht und so die politischen Gestaltungsmöglichkeiten einschränkt. Der EU-Wiederaufbaufonds ist somit nicht erforderlich.

Das Bundesverfassungsgericht könnte folglich in seiner Erforderlichkeitsprüfung zu dem Schluss kommen, dass der NextGenerationEU-Kredit nicht erforderlich ist und dass es den Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern entschärfen könnte, indem es die EU-Kommission und die Bundesregierung auf die grundrechtsschonende Möglichkeit der Zinsanpassung verweist.

Am 31. Mai 2011 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes festgestellt, dass das Gericht in einem solchen Fall alle verfassungsrechtlichen Umstände frei bewerten könne: "Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen.

Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und Wertungen seitens anderer Gewalten hinsichtlich dessen, was im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus."13

Das bedeutet letztlich auch, dass das Bundesverfassungsgericht etwaige im Vorgriff auf die Verschuldung der EU geschlossene Vereinbarungen der EU-Kommission nicht in Betracht ziehen muss. Stattdessen kann sich das Bundesverfassungsgericht auf seine Aufgabe konzentrieren, das Grundgesetz zu schützen und die Durchsetzung der Grundrechte der Bürger zu sichern.14

Oliver Pahnecke ist Doktorand der Middlesex University, London, und forscht im Bereich Staatsschulden und Menschenrechte