Brexit: Fisch ist den Briten nicht Wurst
Nach einem ergebnislosen Telefonat mit Ursula von der Leyen will Boris Johnson nach Brüssel reisen
Gestern Abend gaben der britische Premierminister Boris Johnson und die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach einem mehrstündigen Telefonat bekannt, dass es nichts bekannt zu geben gibt - außer, dass der britische Premierminister Boris Johnson bald für weitere Verhandlungen nach Brüssel reisen wird.
Schnell vergessene Ankündigungen
Letzte Woche hatte die BBC unter Berufung auf den irischen Außenminister Simon Coveney, einen nicht namentlich genannten Botschafter und andere Informanten noch gemeldet, dass eine Einigung in den nächsten Tagen erwartet werde. In dieser letzten Woche hatten Vertreter der EU und des UK wieder Vor-Ort-Gespräche in London aufgenommen, nachdem sie in den Wochen davor aufgrund eines positiven Sars-CoV-2-Tests des EU-Chefunterhändlers Michel Barnier ausschließlich online geführt worden waren.
Verhandeln beide Seiten härter als die ehemalige britische Premierministerin Theresa May, können sich die Meldungen schnell drehen, weil jede Seite die andere davon überzeugen will, dass sie es ernst meint: Boris Johnson erreichte auf diese Weise ein Abkommen für die erste Etappe, das die EU-Führung vorher ausgeschlossen hatte - und Michel Barniers Verlautbarung, dass es "bis Ende Oktober ein endgültiges Abkommen" geben müsse, "wenn wir eine neue Partnerschaft ab 1. Januar 2021 beginnen wollen", war im November so schnell vergessen, wie sie im September ausgesprochen wurde.
Genauso erging es Johnsons im selben Monat ausgesprochener Ankündigung, nach dem 15. Oktober nicht mehr über ein neues Partnerschaftsabkommen mit der EU, sondern nur mehr über ein Abkommen zu technischen Standards und Normen im Rahmen der Regeln der Welthandelsorganisation WTO zu verhandeln (vgl. Brexit 2. Teil: Australische Lösung?).
Internal Markets Bill im Vermittlungsausschuss
Johnson bereitete das UK aber auf solch eine Lösung vor, indem er einen Gesetzesentwurf für eine Internal Markets Bill vorlegte, den man in Brüssel und in Teilen seiner eigenen Partei als faktische Änderung des Abkommens zur ersten Ausstiegsetappe verurteilte: Das UK-Binnenmarktgesetz soll greifen, wenn sich das UK nicht bis zum 31. Dezember auf ein Partnerschaftsabkommen mit der EU einigt.
Es überträgt Kompetenzen zur Energieeffizienz von Gebäuden, zur Luftqualität, zum Tierschutz und eine Reihe weiterer Zuständigkeiten, die bislang bei der EU liegen, auf die vier britischen Landesteile England, Schottland, Wales und Nordirland.
Die neuen von den Regionen gesetzten Standards dürfen aber nicht dazu führen, dass Produkte aus einem britischen Landesteil nicht mehr in jedem anderen verkauft werden dürfen. Bei Waren, die aus England, Wales oder Schottland nach Nordirland gehen, sollen britische Minister deshalb darüber entscheiden, ob das "Risiko" eines Weiterverkaufs in die EU so groß ist, dass sie mit EU-Zöllen belegt werden.
Außerdem bekommen die Londoner Minister die Befugnis, Regeln zum Warenverkehr und zu Subventionen zu modifizieren oder nicht anzuwenden (vgl. UK: Streit um Plan B für Nordirland). Nachdem Jacob Rees-Mogg am Freitag angekündigt hatte, Entschärfungen, die das House of Lords in dieses Gesetz einfügte, am Montag im House of Commons wieder zu entfernen, teilte die Downing Street gestern mit, die Gespräche im Vermittlungsausschuss dauerten an und ein Ergebnis werde "in den kommenden Tagen erwartet".
Bangers & Mash
Auf EU-Seite drohte man unter anderem mit Maßnahmen, die an eine Episode aus der satirischen Serie Yes Minister erinnerten: Mit einem Einfuhrverbot für nicht bei mindestens minus 18 Grad Celsius tiefgekühlte britische Würste wie die Cumberland-Schnecke, die Lincolnshire-Bangers, die Newmarket Sausages aus der Schweineschulter, den Hog's Pudding aus Cornwall, den blutwurstähnlichen Black Pudding und die wienerähnliche Saveloy.
Der Vorstoß erwies sich jedoch insofern als Eigentor der EU-Verhandler, als Johnson mit der Drohung konterte, in so einem Fall auch die Einfuhr von Wurst aus den EU-Ländern deutlich strenger zu regulieren. Danach zeigte sich vor allem der irische Landwirtschaftsminister Charlie McConalogue, dessen Land jährlich mehr als 300.000 Tonnen Fleisch und Fleischprodukte im Wert von insgesamt 1,3 Milliarden Euro in das UK ausführt, wenig begeistert. Aber auch deutsche und italienische Landwirte und Fabrikanten müssten in so einem Fall deutliche Einbußen fürchten.
Streit über Streitschlichtungsmodi
Uneinig sind sich Johnson und von der Leyen vor allem in drei Bereichen: Der erste Bereich ist, nach welchen Modi und von welchen Institutionen Streits, die man auch nach einem Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und dem UK erwartet, geschlichtet werden,
Der zweite Bereich betrifft eine unterschiedliche Auslegung des im letzten Jahr vereinbarten "Level Playing Fields". Diese an den Ballsport angelehnte Metapher soll aussagen, dass alle Teilnehmer unter den gleichen Bedingungen spielen. Hier verlangt Brüssel, dass London nicht nur bereits vereinbarte Produktionsvorschriften zum Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz übernimmt, sondern auch alle zukünftigen - und zwar automatisch.
London sieht in so einem "Dynamic Alignment" einen unverhältnismäßigen Eingriff in die zurückgewonnene Souveränität und möchte, dass sich die Volksvertreter dort zukünftige Brüsseler Regeln erst ansehen dürfen, bevor sie ihnen zustimmen - oder nicht. Einen britischen Kompromissvorschlag, dass Brüssel diese Position akzeptiert, wenn London dafür einige EU-Zölle auf britische Waren hinnimmt, bei denen die EU nach eigenen Angaben Bedenken vor britischen Billigangeboten hat, lehnte Barnier einem Bericht der Daily Mail zufolge ab.
Brüssel will sich weiter an den Fangmengen der Jahre 1973 bis 1978 orientieren
Im dritten Bereich geht es um nur etwa 0,1 Prozent der Bruttoinlandsprodukte des Vereinigten Königreichs und der EU - aber um eine Angelegenheit, die auf der Insel symbolisch aufgeladen ist. Dort glauben viele Bewohner von Hafenstädten, dass Margret Thatcher sie zu billig verkaufte, als sie sich Anfang der 1980er Jahre auf das GFP-Kontingentsystem einließ, welches den Fischereiflotten aller EU-Länder Zugang zu den britischen Gewässern gewährt. Eine Überfischung soll in diesem System dadurch verhindert werden, dass Brüssel den Mitgliedsländern Fangkontingente zuteilt, die sich an den Fangmengen der Jahre 1973 bis 1978 orientieren.
Barnier will an diesem alten System festhalten. Der britische Premierminister Boris Johnson argumentiert dagegen, dass eine nach dem Vorbild des EU-Fischereiabkommens mit Norwegen gestaltete und jedes Jahr neu ausgehandelte Kontingentregelung nicht nur britische Fischer, sondern auch britische Fische besser schützen würde. Mit ihr könnten nämlich lokale Bestandsdaten berücksichtigt werden, die nicht überall gleich sind.
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