Brics-Gipfel: Die Angst des Westens vor einer neuen Weltordnung

Seite 2: Subimperialismus oder unabhängige, progressive Bewegung?

Doch trotz dieser Trends ist Kritik an falschen Hoffnungen in Hinsicht auf den Gipfel und das Brics-Projekt durchaus angemessen. Denn man muss sich erinnern, wie es Patrick Bond tut, Professor und Direktor des Zentrums für sozialen Wandel an der Universität von Johannesburg, dass das Bündnis vor dem Aufschwung an seinen inneren Widersprüchen zu zerbrechen drohte.

Während der Covid-19-Pandemie konnten über drei Jahre keine Zusammenkünfte stattfinden. Zudem unterminierte die rechtsextreme Regierung in Brasilien unter Jair Bolsonaro von 2019 bis 2022 eine Fortführung des Blocks, was vor allem bei der Patentaussetzung für Impfstoffe sehr schädlich war.

Dazu kommen Gebietsstreitigkeiten zwischen China und Indien im Himalaja. Das militärische Gerangel geht vor allem um den Zugang zu großen Wasservorräten, die die südwärts strömenden Flüsse in sich tragen. Gigantische chinesische Staudammprojekte blockieren sie für die Nachbarstaaten.

Viertens hat der russische Krieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 nicht nur die Region destabilisiert, sondern auch, im Verbund mit den westlichen Sanktionen, die Energie- und Nahrungsmittelmärkte geschädigt. Daher reist Wladimir Putin auch nicht nach Johannesburg, da ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen ihn verhängt wurde.

Auch gibt es in Brics-Staaten Unruhen. Nach Lulas Wahl starteten Bolsonaro-Anhänger:innen einen Aufstand, jetzt muss sich der neue brasilianische Präsident mit einem von Bolsonaro-Getreuen dominierten Kongress herumschlagen.

Im Januar 2023 meuterte Putins enger Verbündeter Jewgeni Prigoschin und seine Wagner-Söldnertruppe. In China verschwand der Außenminister Qin Gang auf unerklärliche Weise.

Narendra Modis rechtsgerichtete Hindu-Nationalisten-Regierung führt Indien mit autoritärer Hand. Und in Südafrika könnte die Partei von Ramaphosa die absolute Mehrheit verlieren, wegen Korruptionsverfahren und der im Land grassierenden Stromausfälle.

Was die Brics im Moment für viele Länder (bezeichnenderweise auch im geopolitisch wichtigen Nahen Osten) so attraktiv macht, sind die ständige Unberechenbarkeit der Vereinigten Staaten von Amerika (siehe auch Trumps weiter drohende "Make America Great Again"-Agenda) und ihrer Außenpolitik, die finanzpolitischen Strafaktionen der US-Finanzministerin Janet Yellen im März gegen Russland und der Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht, die sich selbstbewusst den Befehlen aus Washington nicht unterordnet. Der von Beijing vermittelte Deal zwischen Saudi-Arabien und Iran zeigt schlaglichtartig, wie China die USA an die Seitenlinie platzieren konnten.

Eine Expansion der Brics birgt aber zugleich Gefahren und könnte das Bündnis für eine progressive Agenda schwächen. Denn unter den Beitrittskandidaten sind viele Länder, in denen die fossile Energiewirtschaft dominiert und die in politischer Hinsicht diktatorisch regiert werden, z. B. Algerien, Bahrain, Belarus, Kasachstan, Kuwait, Marokko oder Nigeria. Unter anderem deswegen ist Brasilien unter Lula gegen eine Erweiterung und verlangt strenge Aufnahmekriterien.

Bisher hat der Brics-Bund auch noch nicht seinen selbst gesteckten Anspruch erfüllt, eine echte Alternative zum sogenannten westlichen Washington Konsensus auf wirtschaftlicher Ebene zu bieten. So argumentiert Patrick Bond, dass sich die Brics-Institutionen wie das mit 100 Milliarden US-Dollar ausgestattete Contigent Reserve Arrangement (CRA) oder die Entwicklungsbank NDB nicht von der räuberischen Kreditvergabe und den westlichen Austeritätsregimen verabschieden konnten.

NDB-Leiterin Rousseff hat zwar jetzt erklärt, man wolle bis 2030 den Kreditbestand des NDB auf 30 Prozent in lokalen Währungen (gegenüber US-Dollar-Krediten) ausbauen, um unabhängiger zu agieren. Aber das sei viel zu wenig, viel zu langsam. Und aus dem Hype um die Entdollarisierung oder eine eigene Brics-Währung wurde schon vor dem Gipfel wieder die Luft herausgelassen. Im Moment kein Thema, hieß es in Südafrika.

Doch man sollte auch bedenken, dass die Brics-Gruppe noch nicht lange existiert, deren Entwicklungsbank sogar erst 2015 gegründet wurde und noch gar nicht seitdem wirklich operiert hat.

Ob nun die Brics oder Brics+ unter chinesischer Führung eine Form des Subimperialismus darstellen, wie David Harvey bereits 2003 prophezeite, mag dahingestellt sein. Die Organisation bietet zumindest eine Plattform, um eine unabhängige Entwicklung im Globalen Süden jenseits von den Diktaten des Westens und seiner Konzerne zu fördern. Sie setzt einen Rahmen für finanzpolitische und wirtschaftliche Selbstständigkeit, der letztlich kontrolliert werden kann von den Gesellschaften der Brics-Länder und eben nicht mehr von westlichen Staaten.

Richtig ist aber auch, dass ohne progressive Bewegungen, die innerhalb der Brics-Staaten in den letzten Jahren entstanden sind, Fortschritt für die Menschen in den ärmeren Ländern und faire Handelsbeziehungen unter ihnen nicht wirklich erreichbar sind. Sie kämpfen für soziale, menschenrechtliche und Umwelt-Standards, siehe die Landlosen-Bewegung in Brasilien, die Demokratiebewegungen in Russland und China oder die Gewerkschafter:innen in Südafrika.

Nur sie können letztlich gewährleisten, dass die gewünschte Süd-Süd-Kooperation nicht eine neue Variante von Ausbeutung, ökologischer Zerstörung und Unterdrückung hervorruft. Vor diesem Potenzial des Brics-Projekts haben die Eliten im Westen tatsächlich am meisten Angst: eine unabhängige Bewegung, die den Menschen vor Ort zugutekommt, Erfolge zeitigt und wegen ihrer inneren Stabilität von außen nicht oder kaum beinflussbar ist.