Brief an einen jungen Philosophen
Seite 3: Misstraue der Sprache
Die Sprache ist für den Philosophen Werkzeug und Werkstoff zugleich. Es kommt also darauf an, dass der Philosoph die Sprache beherrscht, und dass nicht die Sprache den Philosophen beherrscht.
Du sagst, Sprache sei Deine Begabung, und dass Du sie selbstverständlich beherrschst.
Welch ein Irrtum.
Die Sprache ist als Mittel der Kommunikation entstanden. Ein Schwätzchen zwischen Nachbarn bringt sie näher. Gemeinsames Singen stiftet Verbindung. Schimpfen und Streiten ersetzen vielleicht körperliche Auseinandersetzungen.
Die Sprache dient auch zum Austausch von einfachen Informationen, wie z. B., dass es regnet oder dass der Zug Verspätung hat. Sie gibt dem Einzelnen die Möglichkeit mitzuteilen, was er von einem anderen will, wie er sich fühlt, was er denkt und meint.
Aber schon der innere Dialog, das Selbstgespräch, war nicht im Sinne des Erfinders. Die Alltagssprache ist auch nicht dafür geschaffen, komplexe Sachverhalte und ewige Wahrheiten zu formulieren, abzuleiten und zu beweisen. Die Wissenschaften benutzen dazu ihre eigenen Wissenschaftssprachen, die dadurch gekennzeichnet sind,
- Dass modal Wendungen (man kann, man muss, man soll, man darf usw.) in der Regel nicht verwendet werden. Der Modus der Wissenschaft ist der Indikativ.
- Der wissenschaftliche Satz lautet allgemein, dass "etwas" sich generell so und so verhält. "Etwas" ist eine Leerstelle, in die generelle Terme (Begriffe) einzusetzen sind. Sätze über singuläre Terme (Einzeldinge) interessieren die Wissenschaft weniger. "Verhält sich so und so", ist eine Leerstelle, in die ein Prädikat einzusetzen ist.
- Gute Wissenschaft (es gibt natürlich auch viel schlechte) zeichnet sich dadurch aus, dass Begriffe und Prädikate als Fachtermini wohl definiert sind. Dies steht im Gegensatz zur Umgangssprache, in der Begriffe und Prädikate häufig mehrere Definitionen haben, das heißt mehrdeutig sind (Seele als unsterblicher immaterieller Kern des Menschen, als Innenleiter eines Koaxialkabels, und als oberschwäbisches Frühstückgebäck. Fritz hat Franz geleimt, heißt nicht, dass Franz jetzt klebt. Usw.). Mehrdeutigkeit hat in der Wissenschaft nichts zu suchen.
Es ist klar, dass die Wissenschaftssprache nur einen Teil dessen sagen kann und will, was die natürliche Sprache sagen kann. Was wir wollen, was wir sollen, was wir befürchten, was wir hoffen, was sein könnte, was wir als schön empfinden - darüber wird in der Wissenschaft nicht gesprochen. Die Wissenschaft sagt nur, was der Fall ist, und ihr Kriterium ist das der Wahrheit. Was sie aber sagt, sagt sie im besten Fall sehr präzise.
Die Philosophie kann auch über Gebiete reden, die nicht von den Wissenschaften besetzt sind. Wo sie aber über das, was der Fall ist, redet und den Anspruch auf Wahrheit ihrer Sätze erhebt, steht sie mit den Wissenschaften in Wettbewerb. Sie muss sich dann an diesen messen lassen.
Schon von Anfang des philosophischen Diskurses an hatte sich herausgestellt, dass die Sprache eine unzuverlässige Person ist. An der Seite der Rhetoren, und wir können die Schönredner, die Politiker, die Demagogen und all die übrigen Dummschwätzer hinzufügen, kümmerte sie sich wenig um die Wahrheit. Und als die Sophisten darlegten, dass sie imstande wären, jede Aussage und auch ihr Gegenteil zu beweisen, bemühte man sich, dieser käuflichen Person Fesseln anzulegen. Diese Fesseln heißen Logik.
Deshalb rate ich Dir auch zuerst "collegium logicum" und zwar in der modernen Kalkül basierten Form (formale Logik). Wenn der Dozent an Deiner philosophischen Fakultät zu viel über Aristoteles und seine Syllogismen redet, dann wechsle lieber zu einer entsprechenden Vorlesung der Informatiker oder Mathematiker. Wichtiger als z. B. die Erkenntnis, dass "wenn alle Serben Slawen sind und kein Spanier Serbe ist, dann einige Nicht-Spanier Slawen sind" und dergleichen leere Sätze, ist die Einsicht, dass Logik nur ein Kalkül mit von Menschen erdachten Regeln und Axiomen ist.
Logik ist uns nicht von Gott gegeben, nicht von der Natur und auch nicht a priori von "der Vernunft". Logik ist Vereinbarungssache. So könnten wir auch vereinbaren, dass jede Aussage nicht entweder 'richtig' oder 'falsch' ist, sondern als drittes noch 'unentscheidbar' (ternäre Logik) sein kann. Oder wir halten die Aussagen für mehr oder weniger wahrscheinlich (Fuzzy Logik, Schwellwertlogik). Die Wahrheiten der Logik sind also nichts als das, was wir in sie als Vereinbarungen hineingesteckt haben, oder wie Wittgenstein pointiert sagt: "Alle Sätze der Logik sagen aber dasselbe: nämlich nichts" [ Tractatus 5.43]. Wichtig für den Diskurs ist aber mitzuteilen, welcher Logik wir uns bedienen, und dass wir uns dann an die Spielregeln halten.
Jetzt ist auch der richtige Zeitpunkt gekommen, eine formale Sprache bzw. eine Programmiersprache zu erlernen. Hier bietet sich natürlich PROLOG an, auch wenn Du damit keine bunten Fenster über den Bildschirm schubsen kannst.
Du wirst an dieser Stelle vielleicht mit Erschrecken festgestellt haben, dass Logik eine Disziplin der Mathematik ist, und der Mathematik wolltest Du ja eigentlich in Deinem Studienfach entkommen. Aber da musst Du nun durch, wenn Deine Rede nicht auf dem Niveau von Geschwätz stehen bleiben soll. Ich möchte Dir aber zwei Einführungen (Propädeutiken) empfehlen. Es sind dies die "Logische Propädeutik, Vorschule des vernünftigen Redens" (1967) von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen sowie die "Logisch-semantische Propädeutik" (1983) von Ernst Tugendhat und Ursula Wolf. Diese beiden wohlfeilen Bändchen solltest Du gründlich durcharbeiten (besser dreimal als zweimal lesen).
Leider hat sich die Hoffnung, dass die Logik Geschwätz verhindert, nur zum Teil erfüllt. Wenn alle Klubse Trapse sind und kein Pips Klubs ist, dann sind einige Nicht-Pipse Trapse. Dieser Satz ist logisch völlig wahr.7 Aber er ist auch ohne Sinn. Soviel zur Überbewertung der Kategorie der logischen Wahrheit. Hier zeigt sich auch, dass eine dreiwertige Logik mit den Wahrheitswerten - 'wahr', 'falsch' und 'nicht entscheidbar' =def 'unsinnig' - für Geschwätz angebrachter wäre als die duale Logik.
Die Logik kümmert sich leider zu wenig um die elementaren Sätze und ihre Elemente, die Worte. Dabei liegt doch in diesen der eigentliche Gehalt von Wissenschaft wie Philosophie. Und hier kommen wir zur eigentlichen Sprachkritik, das heißt der Analyse ihrer Schwächen, die uns fast unvermeidlich fehlleiten. Dies möchte ich Dir anhand eines bekannten Lehrsatzes eines unserer größten zeitgenössischen deutschen Philosophen veranschaulichen:
"Der Ball ist rund." (Josef Herberger8)
Ich nehme an, dass Du glaubst, den Sinn dieses einfachen Satzes verstanden zu haben, und dass Du ihm zustimmen kannst. Zunächst aber, was Du hier vor Dir auf dem Papier erblickst, ist natürlich nicht der Satz, die Klangfolge, die Herberger ausgesprochen hat. Es ist lediglich eine Transkription, eine Interpretation dessen. Auf dem Papier erblickst Du 14 Buchstabenzeichen, ein Satzzeichen und drei Zwischenräume (Leerzeichen).
Welchen Sinn haben nun die einzelnen Zeichen, welchen Sinn hat z. B. das zweite Buchstabenzeichen 'e'. Offenbar für sich alleine keinen. Aber sie tragen auf unterschiedlicher Weise zum Sinn des Satzes bei. Das wichtigste Zeichen in diesem Satz ist der Punkt. Die Bedeutung des Punkts ist: "Ich, Josef Herberger behaupte, dass ...". Natürlich hat Herberger das nicht so explizit gesagt. Lediglich die Satzmelodie, die wir auf dem Papier nicht darstellen können, sagt uns, dass dieser Satz nicht als Frage gedacht war.
Wichtige Zeichen sind auch die drei Leerstellen, die den Satz in Wörter gliedern. Herberger hat zwischen den Wörtern keine Pause gemacht, sondern den Satz in einem Atemzug ausgesprochen. Wir interpretieren die Schnitte in diesem Satz, weil uns die Klänge 'Ball', 'ist' und 'rund' geläufig sind. Wäre uns der kasachische Fußballspieler Derbal Istrund geläufig, hätten wir die Klangfolge des Satzes auch so schneiden können: 'Derbal ist rund' oder 'Derbal Istrund'. Wieder wird lediglich durch die Betonung angedeutet, welche Wörter er gemeint haben könnte. Nehmen wir also an, wir hätten genau zugehört, und unsere Interpretation entspräche in erster Näherung dem, was Herberger gemeint hat. Wir sind jetzt bei den Worten angelangt, die Träger einer eigenen Bedeutung sein können.
Zunächst scheiden wir den Artikel "der" und das Verb "ist" aus. Sie haben keine eigenständige Bedeutung, lediglich eine grammatikalische Funktion. Artikel sind so etwas wie die schlechte Angewohnheit deutscher Substantive. In unserem Beispiel hat der Artikel die Funktion, darauf hinzuweisen, dass Herberger keinen speziellen Ball, sondern alle Bälle, den Ball als Begriff gemeint hat. Sicher ist das aber nicht. Er hätte ja auch auf einen Ball auf dem Tisch zeigen können und sagen: "Der (betont) Ball ist rund."
Das Verb 'ist' verdanken wir der Gewohnheit, dass der vollständige deutsche Satz ein Verb als grammatikalisches Prädikat aufweisen muss, selbst dann, wenn wir, wie im Beispiel, nicht äußern wollen, dass das Subjekt etwas tut oder ihm etwas geschieht. 'Ist' ist also hier kein 'Tätigkeitswort', und so nennen es schlaue Leute die Kopula, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es zum Sinn des Satzes nichts beiträgt. Wenn uns ein Kleinkind stolz seinen Ball hinhält und sagt: "Ball rund", dann verstehen wir den Sinn des Satzes. Dieser Satz ist von allem Überflüssigen gereinigt, und nur pedantische Deutschlehrer würden darauf bestehen, dass er grammatikalisch nicht korrekt sei.
Jetzt verbleiben noch das Eigenschaftswort 'rund' und das Dingwort 'Ball' und ihre Bedeutungen. Diese Wortklassen verbalisieren unsere Konzepte von Dingen und ihren Eigenschaften. Diese allgemeinen Konzepte selbst sind vorsprachlich. Sie werden von den Bildverarbeitungs- und Mustererkennungsprogrammen unseres Gesichtssinnes und anderer Sinne konstruiert. Deshalb darf ich annehmen, dass Deine intuitive Vorstellung von Dingen und ihren Eigenschaften mit meiner Vorstellung übereinstimmen, zumindest solange wir nicht darüber vernünfteln. Es ist dies vielleicht dem aufrechten Gang vergleichbar. Er ist, auch wenn wir ihn als Kleinkind erst einüben müssen, uns von Natur mitgegeben. Sollten wir aber versuchen, unser Gehen durch die Vernunft steuern zu lassen, werden wir unvermeidlich straucheln.
Was nun den Sinn des Wortes Ball angeht, so könnte man versuchen, ihn über seine Eigenschaften zu definieren (intensionale Definition):
Ball =def Ding (a1 und a2 … und <nicht b1> und <nicht b2>…).
Dabei sind die ai Eigenschaften, die das 'Ding Ball' notwendig aufweisen muss und die bi sind Eigenschaften, die ein Ball nicht haben darf, um ihn von anderen 'Dingen' zu unterscheiden. Wäre 'rund' eine dieser definierenden notwendigen Eigenschaften, wäre unser Satz nur eine Erinnerung daran, d. h. eine Tautologie. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich alle deutschsprachigen Menschen auf den gleichen Satz definierender Eigenschaften einigen würden. Und dabei denke ich noch nicht einmal daran, dass wir mit dem Wort Ball auch ein Tanzvergnügen bezeichnen, oder dass wir das Wort analog auch auf 'Nicht-Bälle' (z. B. den Erdball) anwenden. Auch die andere Methode anzugeben, was alles 'Ball' bedeutet, ist rein fiktiv. Dabei stellt man sich die Bälle der Welt auf einem Haufen vor, zeigt auf sie und spricht: "Das sind alle Bälle, was da nicht liegt, ist kein Ball" (extensionale Definition).
In der Realität lernen wir die Bedeutung des Wortes 'Ball' dadurch, dass man uns in der Kindheit einige verschiedene Bälle zu spielen gibt. Unser genialer visueller Cortex erkennt in den verschiedenen Bällen ein Muster. Dieses Muster bildet ein erstes Konzept. Man sagt uns, dass dies Bälle seien, und wir verbinden dieses Wort mit unserem vorverbalen Konzept. Ein Begriff entsteht. Jetzt lernen wir auch, dass runde Gegenstände unterschiedlicher Farbe oder Größe Ball genannt werden können. Dann bekommen wir Glasmurmeln und hören, dass diese nicht 'Ball' genannt werden. Genau so wenig werden Luftballone, Eier, Klöße oder Zwiebeln 'Ball' genannt, obwohl sie doch viele Merkmale mit Bällen gemeinsam haben. Unser Begriff von 'Ball' differenziert sich. Später sehen wir im Fernsehen noch Fußbälle, Basketbälle, Tennisbälle. Unser Begriff erweitert sich. Bei einer solchen zufälligen Genese des Begriffs wäre es verwunderlich, wenn zwei Individuen genau die gleiche Vorstellung von 'Ball' hätten.
Wir haben versucht den Ball über seine Eigenschaften zu definieren. Eigenschaften, die er aufweisen muss, bzw. die er nicht haben darf, um ihn von anderen Dingen zu unterscheiden.
Da wäre es nun wichtig zu wissen, was eine Eigenschaft überhaupt ist.
Eigenschaftsworte sind nur dann nützliche generelle Terme, wenn man sie mehreren Dingen zusprechen kann, um diese Dinge zu vergleichen, zu kategorisieren oder zu definieren, wohl wissend, dass es keine zwei vergleichbaren Dinge gibt. 'Rund' ist eine solche Eigenschaft. Wir könnten versuchen zu definieren, was rund ist. Wir können z. B. von einer geschlossenen geometrischen Fläche sagen, dass sie rund sei, wenn sie in jedem Punkt stetig ist und die ersten und zweiten partiellen Ableitungen dort ebenfalls stetig sind (Krümmungsstetigkeit).
Diese Definition ist aber völlig unbrauchbar, da kein realer Körper diese idealen Eigenschaften aufweist. Wir haben ja bereits gesehen, dass kein Körper eine selbstverständliche Oberfläche besitzt, dass er vielmehr weit in den Raum wirkend d. h. wirklich ist. Dabei müssen wir nicht einmal darauf hinweisen, dass jeder einzelne Ball, unter dem Mikroskop betrachtet, rau, zerklüftet und porös, also nicht rund erscheint. Wer will, kann jetzt behaupten, es gäbe keine realen runden Dinge, wohl aber die Idee der Rundheit in irgend einer höheren Sphäre. Wenn diese 'Erkenntnis' die Produktion seiner Glückshormone stimuliert, wer wollte ihm dies missgönnen.
In der Realität erleben wir die Eigenschaft 'rund', wenn wir Dinge wie Bälle, Eier, Glasmurmeln usw. gesehen haben, ihre Oberfläche betastet haben, sie in die hohle Hand genommen haben. Wir sehen diese Dinge in vergleichbarer Weise auf dem Tisch rollen. Aus all diesen Sinneseindrücken konstruieren unsere Mustererkennungsalgorithmen die Eigenschaft 'rund'. Für uns persönlich haben all diese Dinge dann diese generelle Eigenschaft, obwohl nicht zwei Dinge vergleichbare 'Rundheit' bis in die mikroskopische Ebene aufweisen. Wieder muss ich Dich daran erinnern, dass es verwunderlich wäre, wenn zwei Individuen genau die gleiche Vorstellung von 'rund' hätten.
Wir stehen jetzt nun vor der befremdlichen Situation, dass wir einen Begriff 'Ball' und eine generelle Eigenschaft 'rund' haben, die wir beide nicht exakt definieren können und von denen jeder Sprecher vermutlich eine etwas andere Vorstellung hat. Wie schön, dass uns wenigsten unsere Sprache in Sicherheit wiegt. Wenn wir Worte wie 'Ball' und 'rund' haben muss es ja doch so etwas Generelles wie den Begriff 'Ball', die 'Ballheit' und seine 'Rundheit' geben.
Mauthner nennt diese Einstellung 'Wortaberglauben'.9 Begriffe, das heißt, generelle Terme wie 'der Ball', 'die Rundheit' existieren nicht. Es sind lediglich menschliche Konstrukte, die uns erlauben zu sprechen. 'Da draußen' existieren nur jeweils unvergleichbare 'Einzeldinge', die wir zwar einzeln benennen könnten. Aber abgesehen davon, dass uns bei der großen Zahl der Einzeldinge bald die Worte ausgingen, könnten wir überhaupt nichts aussagen, wenn wir nur singuläre Terme hätten.
Wenn man dem Begriff 'Ball' näher kommen will, dann nützt es nichts, so eine aufgeblasene Lederblase unter das Mikroskop zu legen. Dann muss man sich selber in ein fMRT oder ein PET legen, so grob diese Instrumente heute auch noch sind. Dann muss man versuchen zu verfolgen, was in unserem Gehirn vorgeht, wenn man einen Ball sieht, wenn man das Wort Ball hört, wenn man sich einen Ball vorstellt.
Dass generalisierte Vorstellungen (Konzepte, bzw. Kategorien) vorverbal sind, erkennt man daran, dass auch die sprachlosen Tiere solche Vorstellungen kennen: Ich spiele mit meinem Hund im Garten. Ich werfe einen kleinen roten Ball und fordere ihn auf: "Such das Bällchen". Er läuft sofort los, und apportiert das Bällchen und nicht das Stöckchen, mit dem wir gestern gespielt haben. Manchmal findet er aber auch den blauen Ball, mit dem meine Kinder tags zuvor gespielt haben. Dann bringt er mir diesen. Schließlich hat er bereits die Vorstellung 'Ball' generalisiert.
Vermutlich wird dieses Hundekonzept eines Balles von unserem verschieden sein. Für ihn muss ein Ball vielleicht die Eigenschaft haben, dass man in ihn hinein beißen kann, dass er einen spezifischen Ballgeruch aufweist usw.. Und weil mein Hund ein philosophischer Hund ist, hat er mit seinem Ballkonzept auch schon ein Geräusch assoziiert, nämlich das Wort "Bällchen". Natürlich nur die diminutive Form. Ein bisschen Abstand zum Homo sapiens muss schließlich noch bleiben.
Ich bin vielleicht etwas zu ausführlich bei den letzten Überlegungen gewesen, und ich kann Dir nachempfinden, wenn Du diese Zeilen ungeduldig überflogen hast. Ich muss Dich aber noch über andere aufgeblasen leere Hüllen aufklären, die sich leider zuhauf in unserer Sprache finden. Sie verdanken ihre Existenz der Leichtigkeit, mit der Verben, Substantive und Adjektive ineinander überführt werden können (Beispiele: das Laufen ← laufen läufig, räumen ← Raum geräumig, Schönheit ← schön schönen).
Wir haben uns an diese Flexibilität der Sprache gewöhnt, die uns damit manchen Nebensatz erspart (wir haben uns daran gewöhnt, dass wir flexibel sprechen können …). Wir vergessen dabei die Gefahren, die diese Worttravestie in sich birgt. Am schlimmsten treibt man es dabei mit den Verben und Adjektiven, die zu Substantiven aufgeblasen werden. Man erkennt sie z. B. an Endsilben wie -heit, -keit, -ung, -tät usw. Häufig reicht es auch schon, Verben oder Adjektiven einen Artikel wie ein Adelsprädikat voranzustellen. Und dann wird aus dem bescheidenen Hilfszeitwort 'sein', seine Exzellenz 'das Sein'. Aus dem alten Verb 'wesen' (vergleiche gewesen) wird 'das Wesen'. Das schlichte Verb 'stellen' erhebt sich zur 'Gestalt'.
Die Beispiele für diese Worttransvestiten sind Legion. Sie treiben sich bevorzugt in den Studierstuben gewisser Philosophen um, wo sie ihren eigentümlich muffigen Geruch verbreiten. Um diesen Muff zu vertreiben, gibt es ein einfaches Verfahren: Man ersetzt das Substantiv durch das ursprüngliche Verb bzw. Adjektiv.
Bei dieser Rückführung benötigen wir bei substantivierten Eigenschaftsworten die Dinge, denen im Zusammenhang die Eigenschaft zugesprochen wird. Bei substantivierten Verben benötigen wir ein Subjekt und bei transitiven Verben auch noch das Objekt. Gehen diese nicht eindeutig aus dem Zusammenhang hervor, dann streiche man das Abstraktum:
Die Elektrizität ist der reine Zweck der Gestalt ...
Der, die, das elektrische was? (unklar Ladung, Feld, Spannung, Strom, Leistung …?) ist der, die, das (unklar wer oder was?) bezweckt10 (unklar wen oder was?), und der, die, das (unklar wer oder was?) stellt (unklar wen oder was?)…
Es bleibt: Die ? ist der reine ? der ? ...
Aber nicht nur Verben und Adjektive sind von der üblen Angewohnheit der Substantivierung betroffen. Selbst vor Pronomina und anderen Partikel macht man nicht halt. Wie soll man nun 'das Ich', 'das Es' auf einen verantwortlichen Sprachgebrauch zurückführen?
Ein besonderer Höhepunkt des philosophischen Substantivismus ist aber 'das Nichts', das aus dem Verneinungspartikel 'nicht' über das bereits obskure Indefinitpronomen 'nichts' in den Adelsstand zu 'das Nichts' erhoben wurde. Und weil einem Nichts, so allein, vielleicht langweilig ist, erfindet man noch schnell ein Verb dazu: nicht seien/tun nichten. Und dann schreibt man über die Jahrhunderte ganze Bibliotheken darüber voll, ob 'das Nichts' nicht doch 'Etwas' sei und ob "das Nichts nichtet". Offen gesagt, wie will man das entscheiden, wenn man nicht vorher geklärt hat, ob 'das Und undet' und/oder 'das Oder odert'.
Derartige Abstrakta sind im besten Fall bequeme Abkürzungen. Als solche können sie in der Umgangssprache, im Feuilleton und überall, wo es nicht so genau darauf ankommt, verwendet werden. Sie haben nichts mit unseren konkreten Begriffen gemeinsam. Sie lassen sich nicht einsehen oder begreifen. Sie deuten auf nichts Konkretes hin, sie haben also keine konkrete Bedeutung. Ein Philosoph muss daher derartige Abstrakta so sehr meiden, wie der Teufel das Weihwasser meidet.
Lieber S., wenn Du diesen Brief bis hierher gelesen hast, dann muss ich Dich für deine Geduld loben. Und vielleicht wirst Du jetzt aus purer Höflichkeit zustimmen: "Also gut, die Aussage 'Der Ball ist rund' ist richtig, aber für einen Philosophen nicht besonders interessant." Da muss ich Dich nun leider wieder enttäuschen. Der Satz "Der Ball ist rund" ist nämlich weder wahr noch falsch, weil er gar keine Aussage ist. Dieser Satz ist eine Regel, die lediglich in der Form einer Aussage daher kommt.
Die Sprache täuscht uns also wieder, indem sie nicht deutlich zwischen Aussage und Regel unterscheidet. Eine Regel erkennt man daran, dass das Subjekt des Satzes ein genereller Term, ein Begriff ist. Eine Regel kann zutreffend oder nicht zutreffend sein, nicht aber wahr oder falsch. Von einer Aussage muss man fordern, dass ein Verfahren vereinbart wurde, mit dem der Wahrheitsgehalt überprüft werden kann. So kann man z. B. die von der FIFA geforderte Rundheit eines Fußballs mit einem vereinbarten Messgerät und nach einem vereinbarten Messverfahren überprüfen. In dieses Messgerät kann man verständlicherweise nur einzelne Fußbälle, nicht aber den Begriff 'Ball' einspannen. Folglich kann man auch nur von jedem einzelnen Ball aussagen, ob er im Auge der FIFA rund ist oder nicht.
Man kann eine Regel in eine Aussage überführen, indem man den generellen Term durch einen singulären Term ersetzt: "Dieser Ball ist rund." Man kann aber auch zu einer Aussage kommen, indem man den generellen Term durch einen 'Quantor' bindet:
Alle Bälle sind rund.
Einige Bälle sind rund.
Es gibt mindestens einen runden Ball.
Kein Ball ist rund.
Wenn man in der Umgangssprache Regeln wie Aussagen benutzt, hat man meist eine Generalisierung im Sinn. "Frauen sind schlechte Autofahrer", sagt Mann, und meint damit 'alle Frauen' oder doch zumindest die 'meisten Frauen'. Hätte er eine Aussage formuliert: "Alle Frauen sind schlechte Autofahrer", wäre natürlich sofort aufgefallen, dass Mann Unsinn redet. Deshalb generalisiert man gerne seine Vorurteile in der Form einer Regel. Da Regeln weder wahr noch falsch sind, kann man jedenfalls nicht widerlegt werden.
Du wirst leicht philosophische Traktate finden, in denen sich eine solche als Aussage verkleidete Regel an die nächste reiht, ohne dass es dem Autor aufgefallen wäre, dass er eigentlich gar nichts sagt.
Generalisierungen sind aber auch aus einem weiteren Grund problematisch. Sie sind nämlich häufig nicht beweisbar. Hätte man z. B. von dem Begriff 'Ball' eine exakte Definition, und wäre in dieser Definition ein notwendiges und hinreichendes Kriterium, dass ein Ball rund sein muss, um als Ball aufgefasst zu werden, dann wäre der Beweis möglich, die Regel selber aber eine Tautologie. Tautologien sind, wie bereits gezeigt, auch alle logische Wahrheiten und darüber hinaus alle analytische Wahrheiten. Hat man nur eine extensionale Definition des Begriffs, dann muss man, um den generellen Satz zu beweisen, zeigen, dass: (Ball1 ist rund) und (Ball2 ist rund) und (Ball3 ist rund) … und (Balln ist rund). Wären wir mit Balln fertig, hätte Adidas schon wieder Tausende neue Bälle produziert, und wir wären mit unserem Beweis nicht zum Ende gekommen.
Bei Begriffen mit einem großen und/oder erweiterbaren Umfang ist ein solcher Beweis also nicht zu führen. Was aber möglich ist, ist die Generalisierung zu widerlegen (Prinzip der Falsifizierbarkeit). Dazu genügt es, einen einzigen Ball vorzulegen, der nicht rund ist (z. B. einen Federball). Gleiches gilt auch für die verneinte Generalisierung. So hat beispielsweise Milka den Satz: "Keine Kuh ist lila" durch ein einziges Exemplar der 'Lila Kuh' widerlegt. Solche Sätze, die nicht beweisbar, aber widerlegbar sind, sollte man folglich auch nicht Aussagen, sondern Hypothesen nennen. Hypothesen sind die häufigsten Sätze in den empirischen Wissenschaften.
Nun wirst Du vielleicht denken, dass, wenn Josef Herberger ein großer Philosoph war, er mit seinem Satz keine Aussage über irgendeine Eigenschaft realer Bälle machen wollte. Er muss diesen Satz wohl als ein Gleichnis, eine Metapher verstanden haben. Vielleicht wollte er auf "das Hineingeworfensein aller menschlichen Existenz in die Kontingenz eines blinden Fatums" hinweisen. So wie ein Gedicht aus dem Dreißigjährigen Krieg11 sagt:
dem glück trau ja zu sehr kein mann,
es ist, sagt man, rund wie ein ball.
Aber da muss ich nun aufs Entschiedenste widersprechen. Gute Philosophen vermeiden Metaphern, wo immer sie können. Sind doch schon die Begriffe unscharf genug. Da wird es auch nicht besser, wenn man sie durch Vergleiche, die immer hinken müssen (entschuldige die missglückte Metapher, aber ich bin schließlich kein Philosoph), versucht, sie zu veranschaulichen. Du kannst in Gleichnissen reden, wenn Du vorhast, eine Religion zu gründen oder ein philosophisches Trugsystem aufzurichten. Damit kannst Du dann vielleicht eine Herde von Exegeten in Lohn und Brot setzen. Wenn Du aber klar reden willst, dann meide Metaphern.
Nun hat aber Mauthner gezeigt, dass die meisten Worte der Sprache bereits Metaphern sind. Wenn wir für ein neues Konzept ein Wort suchen, erweitern wir lieber die Bedeutung eines bekannten Worts, als dass wir ein neues Wort erfinden. Wir benutzen dann die Worte analog oder in übertragener Bedeutung. In der Regel vergrößern wir dadurch nur ihre Mehrdeutigkeit.
In den seltensten Fällen ist die Metapher geglückt, wie z. B. beim Wort 'Essenz'. Ursprünglich ist das Wort die Substantivierung des lateinischen Verbs esse = sein. 'Essenz' ist dann der vornehmere Zwillingsbruder des 'Sein'. Nun glauben ja viele Philosophen, man käme zum 'Sein', zum 'Wesen' der Dinge oder der Begriffe, wenn man nur genügend oft abstrahiert, von was auch immer. Analog dachten die Alchemisten, dass man zum Wesen der Stoffe käme, wenn man nur genügend oft läutert oder destilliert. So fände man nach wiederholter Destillation die 'Quintessenz', also das Wesen der Stoffe.
Die moderne Chemie weiß heute, dass nach mehrmaliger Destillation eines beliebigen Stoffgemischs als 'Essenz' nur noch 'Schlunz' übrig bleibt. Man kann diese Erkenntnis nun analog auch auf das Verfahren der Abstraktion anwenden. Wenn man nur genügend häufig abstrahiert, bleibt zum Schluss nur geistiger 'Schlunz' übrig. Heute benutzt man das stolze Wort 'Essenz' in Deutschland nur noch für die Essigessenz und für den Franzosen ist 'essence' lediglich noch ein Kraftstoff für Ottomotoren, also das, was wir im Deutschen auch als 'Sprit' bezeichnen. Aber hier soll nun nicht weiter erläutert werden, was 'Spiritus' und 'Geist' mit Ottokraftstoff zu tun hat.
Du wirst nun vermutlich fragen, was uns Josef Herberger sagen wollte, wenn er keine Aussage machen wollte, und uns auch kein Gleichnis geben wollte. Ich glaube, Herberger wollte uns einen Ball des Anstoßes in unser Feld legen, einen Stolperstein, über den wir straucheln müssen, um uns dann selbstständig, das heißt durch eigenes Denken, wieder aufzurichten. Einen besseren Zweck kann ein philosophischer Text nicht haben.
Ich habe Dir nun versucht zu zeigen, wie uns die Sprache durch mehrdeutige Begriffe und Metaphern, durch leichtfertige Vertauschung der Wortarten und durch ungenügende Unterscheidung der Satzarten dazu verleiten kann, Unsinn zu reden. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Diese Mängel sind mehr oder weniger allen natürlichen Sprachen eigen. Alle Ansätze eine künstliche Sprache der Logik zu konstruieren (Leibnitz, Frege …), sind bislang aber nicht zur Durchführung gekommen. Es bleibt die Mathematik oder die reduzierten Computersprachen.
Wer käme aber auf die Idee, ein Gedicht von Heine, einen Roman von Hesse in Algebra oder PROLOG zu übersetzen? Auf die Schönheit, den Reichtum und die Komplexität unserer Muttersprachen können wir selbst dann nicht verzichten, wenn wir nur einen einfachen Gedanken mitteilen wollten.
Um aber die Fallen der Sprachen zu vermeiden, müssen wir uns mehr um sie kümmern. Wenn Wittgenstein sagt: "Alle Philosophie ist Sprachkritik" (Tractatus 4.0031), möchte ich ergänzen: "Sprachkritik ist die beste Philosophie." Und da gibt es nun nichts Besseres, als dass man sich als Student der Philosophie in eine Einführungsvorlesung 'Linguistik' setzt. Zusätzlich sollte man Fremdsprachen lernen. Es macht aber keinen Sinn noch eine Sprache aus der indoeuropäischen Sprachfamilie zu lernen. Diese sind zu stark verwandt und machen folglich alle ähnliche Fehler. Ich würde Dir empfehlen: Lerne Chinesisch. Dann hat Dein Philosophiestudium wenigstens auch einen nützlichen und verwertbaren Aspekt.
Damit habe ich meine Empfehlungen für ein Grundstudium Philosophie abgeschlossen und will sie hier nochmals rekapitulieren:
- Formale Logik (Aussagelogik, Prädikatenlogik 1.Stufe) möglichst an der mathematischen Fakultät.
- Erlernen einer modernen Programmiersprache (bevorzugt PROLOG)
- Einführung in die moderne Psychologie
- Einführung in die Neurologie (kognitive Neurologie)
- Vorlesung Sinnesphysiologie (z. B. über die neuronalen Prozesse des Sehens)
- Einführung in die Linguistik
- Erlernen einer Fremdsprache, die nicht aus dem indoeuropäischen Kreis stammt (z. B. Chinesisch)
Wenn Du dieses Curriculum ernst nimmst, dann wirst Du wenig Gelegenheit finden, Deine Zeit in philosophischen Vorlesungen zu vergeuden. Jetzt ist es im Übrigen auch an der Zeit, sich um einen Personenbeförderungsschein zu bemühen. Dieser wird Dir in Deinem ganzen Leben als Philosoph äußerst nützlich sein. Es gibt nämlich kaum einen Brotberuf, in dem man so viel Zeit zum Spekulieren und Philosophieren hat, und der daher so geeignet und attraktiv für alle Philosophen ist, wie der Beruf des Taxifahrers.
Und wenn Du dann später einmal einen chinesischen Fahrgast durch B. chauffierst, wobei Dir Deine Ausbildung unzweifelhaft einen Vorteil vor Deinen nicht philosophierenden Kollegen bietet, wird dieser Fahrgast staunend die überaus gründliche Ausbildung der deutschen Taxifahrer registrieren.