Brief an einen jungen Philosophen

Seite 2: History of Philosophy: Just say no [Gilbert Harman]

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Vergeude deine Zeit nicht mit der Lektüre der alten Philosophen. Was würdest Du von einem Medizinstudium halten, bei dem bis zum Physikum nur die Schriften von Hippokrates, Galen, Celus, Orebasius, Avicenna, Rhazes gelesen werden, allenfalls noch, um auch einigen modernen Autoren eine Chance zu geben, Hildegard von Bingen und Theophrastus Bombastus von Hohenheim. Würdest Du das Wissenschaft nennen? Würdest Du Dich von einem so ausgebildeten Arzt behandeln lassen?

Nein, die Alten haben in zu Vielem geirrt. Das will ich ihnen nicht zum Vorwurf machen. Schließlich sind wir heute, dank der Arbeit von Generationen, im Besitz von Erkenntnissen und Methoden, die sich die Alten noch nicht haben vorstellen können. Aber dass diese Unkenntnis unverschuldet war, verpflichtet uns noch nicht, ihre Arbeiten ernst zu nehmen.

Zudem sind viele ihrer Traktate in einem unerträglichen Maß durchseucht mit Spekulationen über Gott, die Engel und sonstige Geister. Das liegt natürlich daran, dass Philosophie über lange Zeit der Zeitvertreib unbefriedigter Mönche und Kleriker war, und dass man Theologie als eine Wissenschaft ansah. Wenn man Gott allmächtig, dem alles möglich ist, auch das Unmögliche, als Prinzip in die Wissenschaft einführt, dann darf man sich nicht wundern, dass mit diesem paradoxen Konstrukt alles und nichts bewiesen werden kann.

Selbst ein so nüchterner Philosoph wie John Locke, immerhin einer der Väter des Empirismus, hat in seinem "Versuch über den menschlichen Verstand" noch ausführlich über Substanz, Dichtheit und Ausdehnung von endlichen Geistern spekuliert. Und Leibniz, immerhin einer der Väter der Infinitesimalrechnung, hat ihm assistiert, er könne beweisen, dass diese Geister einen organischen Körper haben müssen.5

Gut, es ist vielleicht noch nicht endgültig geklärt, ob nicht doch in einigen abgelegenen englischen Landhäusern solche endlichen Geister ihr Unwesen treiben. In einer Wissenschaft hat dieser Spuk jedenfalls nichts zu suchen. Es dauerte leider viel zu lange, bis die Philosophie ihre Scheuklappen von Dogma und Religion abgelegt hatte.

Du wirst einwenden, dass die Alten doch auch einige Wahrheiten gefunden haben. Aber genau das ist das Schlimmste: eine Melange von Wahrheiten, Binsenweisheiten und Unsinn. Wenn sie ausschließlich das Falsche geschrieben hätten, wären sie wenigstens verlässlich, und man könnte daraus das Richtige ableiten.

Du wirst einwenden, dass die Studienordnung die Lektüre der alten Philosophen von Dir verlangt. Du müssest Deine Pflichtmodule nachweisen, und ohne die Kenntnisse der Alten erhielte man in den Seminaren keinen der notwendigen Scheine. Ach so, aber wenn Du nicht ein 'Schein'-Philosoph bleiben willst, dann beschränke Deine Lektüre zumindest auf das absolut Notwendige. Wenn Du irgendwann nach Deiner Pensionierung zu viel Zeit hast, und Deine Kreativität erloschen ist, kannst Du dich immer noch über die Geschichte der Philosophie informieren. Die Volkshochschulen bieten dazu nette Kurse an, die vollkommen ausreichend sind.

Erlerne Philosophie wie ein Handwerk

Jeder Handwerkslehrling weiß, dass er zuerst sein Werkzeug und das Material, das er bearbeiten will, kennen und beherrschen lernen muss. Und er weiß, dass zur Beherrschung seiner Kunst viel Übung notwendig ist. Nur die Philosophen glauben häufig, dass ihnen das alles von Natur aus gegeben ist.

Die Werkzeuge, mit denen der Philosoph arbeitet, sind sein Gehirn und seine Sinne. Du wirst bemerkt haben, dass ich nicht lediglich von Vernunft, Verstand oder Intellekt gesprochen habe. Über die Vernunft haben die Alten ja häufig spekuliert. Dabei dachten sie meistens an das, was überwiegend bewusst in unserem inneren Dialog abläuft. Das Eigengespräch, in dem wir unsere Gedanken sprachlich entwickeln. Aber dies ist nur der geringste Teil unseres Denkens.

Wer, glaubst Du, ist es, der, wenn Du sprichst, Dir die Sätze in den Mund legt? Der bewusste Verstand? Dann würdest Du so sprechen wie der Anfänger in einer Fremdsprache: Zunächst empfindet er das, was er ausdrücken will. Dann sucht er die richtigen Vokabeln. Dann versucht er, die syntaktisch richtige Satzstellung zu finden und für die Vokabeln die richtigen konjugierten beziehungsweise deklinierten Formen zu bilden. Schließlich sucht er noch nach der richtigen Aussprache. Dies alles macht er weitgehend verstandesgesteuert und bewusst. Er darf sich dann nicht wundern, wenn diese ersten Sätze ihm nur stammelnd über die Lippen kommen.

Wenn Du redest, läuft dagegen alles unterbewusst ab. Deine Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen. Es redet Dich. Und manchmal schießt Es auch über das Ziel hinaus. Dann sagst Du: "Sorry, das wollte ich so gar nicht sagen." Aber wer wollte es dann? Wer färbt deine Sätze mit Emotionen ein? Wer gibt Dir ein, was Du sagen willst? Deine Vernunft? (Bitte antworte auf diese Fragen nicht mit "Ich". "Ich" ist ein Personalpronomen, dessen Benutzung im Grundkurs Philosophie strikt verboten ist.)

Du siehst, Dein Werkzeug ist viel mehr als diese dünne Kruste bewussten Verstandes. Und wenn Du dieses Werkzeug kennenlernen willst, ist es am einfachsten, Du setzt dich in eine Grundvorlesung der Psychologie und eine Vorlesung der Neurologie. Nicht dass Du Psychologe oder Neurologe werden sollst. Aber Du musst die wissenschaftlichen Konzepte dieser Disziplinen kennen, wenn Du über Menschen und auch Dich selbst richtig urteilen willst. Insbesondere aus der Neurologie sind in der Zukunft Erkenntnisse zu erwarten, die auch die philosophische Anthropologie beeinflussen werden. Wer diese, mangels Grundverständnis, nicht verstehen und einordnen kann, läuft Gefahr, weiterhin beim Geschwätz stehen zu bleiben.

Noch ein paar Hinweise zu unseren Sinnen. Gewissen Schulen der Philosophie gefiel es ja, sich abfällig über unsere Sinne zu äußern. Sie behaupteten, sie täuschen uns und seien unzuverlässig. Welch ein Widersinn. Das Auge sieht, was es sieht (nämlich elektromagnetische Wellen mit Wellenlänge zwischen ca. 680 und 400 nm), und das Ohr hört, was es hört (nämlich periodische Druckschwankungen der Luft mit Frequenzen zwischen ca. 30 Hz und 16000 Hz).

Das Auge sieht keinen Tisch und das Ohr hört keine Worte. Wenn Du einen Tisch erblickst, dann beginnt der Teil Deines Gehirns, der für die Verarbeitung der aus der Netzhaut kommenden Nervenimpulse zuständig ist, zu arbeiten. Und nachdem er in einem äußerst komplexen und genialen Prozess diese Daten gefiltert, komprimiert, korreliert und mit deinem Gedächtnis abgeglichen hat, übergibt er eine erste Interpretation dieser Sinnesdaten an das Bewusstsein: "Achtung, da könnte ein Tisch stehen."

Es bleibt dann die Aufgabe des Bewusstseins, diese Hypothese zu verifizieren und in einen Zusammenhang einzuordnen. Es könnte ja auch nur ein Spiegelbild sein oder das projizierte Bild eines Tischs auf einer Leinwand. Wenn es bei der ersten Interpretation zu Fehlern kommt, dann sind es nur selten die Sinne, die uns täuschen6, sondern in der Regel ist es der Apparat, der die Sinnesdaten verarbeitet, der fehlgeleitet wird.

Im Übrigen ist dieser Apparat, der vollkommen unbewusst arbeitet, sensationell schnell, effektiv und zuverlässig bei der Erkennung der für uns wichtigen Muster. Er ist es auch, der die, für die Philosophen so wichtigen Konzepte, wie 'Dinge', 'Eigenschaften und Konstanz der Dinge', 'Bewegung' und 'Raum' als zuerst erfunden hat, und zwar lange bevor die Evolution uns noch das bisschen Verstand verlieh. Wenn Du neben Deinen Vorlesungen in Psychologie und Neurologie noch Zeit findest, solltest Du Dich unbedingt auch über Sinnesphysiologie und kognitive Neurologie informieren.

Du wirst mich jetzt vielleicht einen naiven Realisten schelten. Davon bin ich weit entfernt. Schon der Tischler, der den Tisch hergestellt hat, weiß, dass da nicht ein 'Ding', eine Instanz aus der Klasse der Tische steht, sondern etwas Zusammengesetztes. Er sieht vier, hoffentlich gleichlange, Tischbeine, er sieht, auch wenn sie verdeckt sind, die Bretter des Tischrahmens, die mit Schwalbenschwanzverbindern in die Beine eingreifen. Er sieht die Tischplatte, aus einem anderen Holz, das geschliffene Edelholzfurnier, die Lasur, die den Tisch schützt.

Als Chemiker sehe ich die Zellen des Holzes, ihre Zellwände aus Zellulose und Lignin. Ich sehe, dass die Zelluloseketten aus Glukoseeinheiten zusammengesetzt sind, die Ligninmasse aus substituierten Phenolen. Ich sehe, dass der Tisch nur eine geordnete Struktur von Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatomen ist.

Als Physiker sehe ich, dass diese Atome sich aus der Elektronenhülle und den Atomkernen zusammensetzen. Ich sehe wie die Elektronen mit dem Licht wechselwirken. Ich sehe die Neutronen und Protonen der Atomkerne. Ich sehe, dass diese 'Teilchen' nur einen kleinen Teil des Raumes einnehmen, dass also der Tisch zum größten Teil leerer Raum ist. Ich sehe, dass diese Teilchen nichts mit den Partikeln gemein haben, die ich aus der makroskopischen Welt kenne. So sind die Elektronen z. B. unteilbar, haben keine Vorder- oder Rückseite, keine linke oder rechte Hälfte wohl aber einen im Raum orientierten Spin. Sie sind bei 'ihrem' Atomkern lokalisiert und gleichzeitig im ganzen Raum. Ich sehe, dass diese Elementarteilchen eigentlich nichts sind, als die Träger von Kräften und Wechselwirkungen. Ich sehe, dass die Elementarteilchen meines Tischs mit allen anderen Elementarteilchen des Universums wechselwirken, dass ich den Tisch also nur in willkürliche Näherung von diesen als Ding abtrennen kann. Ich sehe, dass mein Tisch sich wirklich bis an den Rand der Welt erstreckt.

Wenn Du jetzt fragst: "Wie kannst du Atome, wie Elementarteilchen sehen?", hast Du noch nichts verstanden. Sehen heißt die Sinnesdaten, die Impulse aus der Netzhaut interpretieren. Und diese Interpretation hängt selbstverständlich von Deiner Erfahrung und Deinen Kenntnissen ab. Wenn z. B. aus einer bestimmten Perspektive nur drei Beine des Tisches sichtbar sind, siehst Du ihn doch als Tisch. Deine Erfahrung sagt Dir, dass dieser Tisch vier Beine haben muss, und so siehst Du einen Tisch mit vier Beinen.

Im Übrigen bekomme ich heute Abend Gäste. Und dann verzichte ich auf die komplexe Interpretation meines Tischs und interpretiere ihn lediglich als einen nützlichen Gegenstand, unter den ich meine Beine stellen kann, und der mir als Unterlage für Teller, Besteck und Gläser dient.