Browse mich, Baby

Der 5. Internationale Browserday suchte in Berlin nach alternativen Navigationsmedien für die mobilgesinnte Generation

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die neue Browsergeneration hat mit ihrem von Marc Andreessen 1993 entwickelten Vorfahren Mosaic nicht mehr viel zu tun. Sie bildet Schnittstellen zwischen Cyber- und Cellspace mit der realen Welt und verkuppelt Menschen und Maschinen mit-, unter- und übereinander.

Die Bilder verschlingen sich gegenseitig auf der großen Leinwand. Gerade noch blendet sich Jaanis Garancs, Student an der Kunsthochschule für Medien Köln auf dem Video in eine Disco ein, dann sind die Zuschauer mit ihm schon wieder mitten auf dem Highway. Der "Big Brotherhood Browser" machts möglich, den Jaanis durch die Verschmelzung der Kamera-durchleuchteten realen und der virtuellen Welt der Datennetze schafft. Mit "Tausenden von Kameras" will der Designer jeden einzelnen Menschen bewaffnen, die alle in einem Supersystem zusammenlaufen. Jeder könnte dann ans Netz angekoppelt das Leben der anderen durchbrowsen, während der Große Bruder Datenbank alles gleichzeitig beobachtet und allwissend wird.

Noch ist Jaanis' Orwellianischer Navigator eine Vision. Doch Designskizzen aller Art waren am Dienstag auf dem 5. Internationalen Browserday - die Website wurde von dem Erstpreisträger und Fensterliebhaber Joes Koppers gestaltet - in der dem Berliner Nebel und Regen trotzenden Volksbühne genauso gefragt wie fertige Projekte.

"Wir versuchen hier etwas anderes zu präsentieren als den normalen kommerziellen Kram", erklärte Mieke Gerritzen. Die Holländerin von der Agentur NL.Design hat den Wettbewerb 1998 zusammen mit ihrem Landsmann Geert Lovink ins Leben gerufen. Es ging ihr darum, dem damals "so kranken Neuen-Medien-Betrieb" eine nicht nur auf Börsenkurse und Gründer-Spirit schielende Bewegung entgegenzusetzen.

Mobile on my Mind

Die hippe und im Outfit wie in ihren Werken alle Standards unterlaufende Szene von Webdesignern, Netzkünstlern und Surfern gab sich dieses Jahr absolut "Mobile Minded". Der sich aus Handys, PDAs und anderen tragbaren Computer-Gadgets bildende "Cellspace" sollte künstlerisch als neue Kommunikationsumwelt erforscht werden.

Auch politische Ziele sahen die Veranstalter, zu denen die Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) gehörte, mit diesem Motto verbunden. "Wir fordern die Demokratisierung des gesamten drahtlosen Raums", verkündete Mieke Geeritzen. Denn noch sei das mobile Netz ein "höchst kommerzielles und kontrolliertes" Gebilde, das einer Öffnung bedürfe. Gleichzeitig wohne der "Mobilisierung" aber durchaus das befreiende Element inne, sich nach Lust und Laune zu bewegen und festgefahrene Strukturen zu hinterfragen.

Monopole sind dumm

Thomas Krüger, Präsident der BPB, schlug in seiner Eröffnungsrede noch eine weitere Brücke, nämlich die zwischen "Informationsfreiheit und gestalterischer Freiheit". Die Designer rief er auf, mit Hilfe ihres Ideenreichtums notwendige Freiräume bei der Gestaltung unserer Informationsarchitektur zur Geltung zu bringen.

C-Watch

Mit Hinblick auf den beherrschenden Marktanteil des Internet Explorers von Microsoft im Bereich der Standard-Browser wies Krüger darauf hin, dass "Monopole nicht nur bequem, sondern auch dumm und uns alle ärmer machen." Entwicklungen wie Freie Software und Peer-to-Peer-Netzwerke begrüßte der SPD-Politiker in diesem Zusammenhang ausdrücklich, das sich mit ihnen eine "grundlegende soziale und politische Dimension der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu Wort meldet."

Den aus 60 Bewerbern ausgewählten 30 Wettstreitern blieb in der Volksbühne dann jeweils knapp bemessene drei Minuten Zeit, um ihre Browservisionen und Schnittstellen dem Publikum und der Jury schmackhaft zu machen. Unerbittlich wachte eine die Sekunden zählende Computeruhr über die Einhaltung des Reglements.

Eine halbe Minute vor Schluss raunte der Moderator, Willem Velthoven von der gleichzeitig die meisten Studenten ins Rennen um den tollsten Browser schickenden Hochschule der Künste Berlin (HdK), zudem jeweils ein sonores "30 seconds" ins Mikrofon. Professionelle Präsentatoren hatten allerdings eh genau getimte Videos für den Final Countdown erstellt, sodass ihnen die tickende, den Höhepunkte mancher Vorstellung darstellende Uhr nichts anhaben konnte.

Um die Datenwelt in 180 Sekunden

Was die jungen Designer aus den Niederlanden, Kanada, Italien und Deutschland in den 180 Sekunden vorstellten, drehte sich weit gehend um das verbindungsstiftende Element der Mobilkommunikation. Geradezu obsessiv lotete ein Großteil der Wettbewerber neue Möglichkeiten aus, wie sich die den Menschen ständig begleitende Kleingerätewelt zum Kontaktknüpfen oder schlicht und einfach zum Maschinen-unterstützten - und dadurch weniger peinlichen - Anmachen nutzen lässt.

Die C-Watch zum Beispiel, die sich Anne Katrin Konertz und Camilla Hager von der HdK ausgedacht haben, ist eine Art Walkman, mit der sich allerdings nicht nur die eigene Musik, sondern auch die der anderen Passanten hören lässt. Das "C" steht dabei natürlich für "Connecting", denn Ziel der ganzen Geschichte ist es, in gleichen musikalischen Sphären schwebende Menschen zusammenzuführen. Im Präsentationsvideo fanden denn auch die Joggerin und der Jogger am Grundwaldsee zueinander.

Auf einem ähnlichen Gedanken fußt die mDISCO des HdK-Studenten Jakob Lehr. Auf dem tragbaren Mini-Rechner stellt der Benutzer zunächst seine eigenen Vorlieben ein. Betritt er ein Café oder kommt er sonst anderen Menschen räumlich nahe, checkt sein automatischer Kuppler die Geräte der anderen Personen. "Wenn sich zwei mit ähnlichen Interessen gefunden haben, piept es", erklärt Jakob. "Und dann sind die Leute freundlich zueinander."

Gerrit Rietveld Academy

Vom Hundehalter-Syndrom zur perfekten Anmache

Und dann war da noch Dennis Paul (HdK), dessen Me2-Projekt denselben Zweck mit etwas mehr Komplexität erfüllen soll und daher auch glatt in die Endrunde kam. Dennis ist schüchtern, wie er in der Volksbühne offen legte. Mit dem Me2-Gerät lässt sich daher ein virtuelles Alter Ego im Handheld erstellen, das der Student zunächst größtenteils autonom mit den Statthaltern anderer Menschen verhandeln, spielen oder streiten lässt. Bleiben gemeinsame Interessen übrig, macht die Technik ihre Besitzer auf die Anknüpfungspunkte aufmerksam. Als Vorbild stand Dennis das "Hundehalter-Syndrom" vor Augen - denn die kommen ähnlich wie die Raucher schließlich immer leicht miteinander ins Gespräch.

Ganz zum "Friend" wird das GPS-gestützte mobile Gadget im gleichnamigen Projekt Dirk van Oosterboschs von der Amsterdamer Gerrit Rietveld Academy. Auch hier werden Daten anderer Anwender gesammelt und "diskret untereinander ausgetauscht", bis das Gerät zum ultimativen Stadtführer und zum Schutzengel in allen Lebenslagen wird. Doch die Verlagerung des gesamten sozialen Netzwerks und der Orientierungskompetenz in die Maschine hat auch ihre Nachteile, weiß Dirk: "Wenn das Ding kaputt geht, bist du total verloren."

Jeder browst jeden

Deutlich wurde angesichts der Designskizzen der Mobile Generation jedenfalls, dass die Privatsphäre hinter den Konnektierungswünschen zurücksteht. Denn ohne persönliche Informationen funktioniert die Freundsuche nicht. In zahlreiche Projekte wie etwa den Big Brotherhood Browser mischt sich zudem etwas Teleorg(i)astisches, wie auch der sich ständig auf der Suche nach dem Sinn der Präsentationen machende Moderator feststellte. Die gekoppelte Kamerawelt des Kölner Studenten erinnerte ihn jedenfalls an den "Gruppensex der 70er". Das Motto für die Zukunft ist für Velthoven damit klar: "Jeder browst jeden."

Unsere kleinen Begleiter werden damit verstärkt zu cyborgschen Fetischen für die Massen. Sie übernehmen die Navigation durch den Cyberspace und die "reale" Welt, werden zum Interface zu signifikanten und sofort wieder aus dem Speicher gestrichenen Anderen. Wohin die Reise geht, zeigten denn auch zahlreiche weitere, mit virtuellen Charakteren, 3D-Welten, "Kontakt"-Linsen und kollaborativen Fortbewegungsarten spielende Projekte wie Second Skin, Stadtwirklichkeit oder Next Generation Internet Browser.

IMON

Mobil am Schluss

Nach siebenstündigem Schwelgen in mobilen Gerätewelten hatten die Zuschauer allerdings anscheinend genug von der ausgebreiteten High-Tech-Welt: Der Publikumspreis ging am Abend an die Gruppe SP-OL der Stuttgarter Merz-Akademie, die mit ihrem Low-Tech-Ansatz "unsere ständig wachsende Begierde zum Schaffen vernetzter Welten" persiflierten. Ihren "Instant Mobile Offline Networking Frame" (IMON) kann sich jeder Nutzer ausdrucken, vor die Augen halten und dann die ganze Welt durch sein Browserfenster betrachten. Free Pics downloaden? Einfach mit der Hand durch IMON greifen und die Poster von der Wand abnehmen.

Die hohe Jury, der unter anderem Oilia Lialina von der Merz-Akademie, Claudius Lazzeroni von der Gesamthochschule Essen sowie Joachim Sauter von der Hdk Berlin angehörten, entschied sich dagegen für die sehr künstlerisch angehauchte, stark auf Architekturprinzipien setzende Webprojektion Datenamort.de. Die frohe Botschaft übermittelte Velthoven dem Preisträger themengerecht - übers Handy. Der Architekturstudent musste nämlich gleichzeitig sein Diplom an der HdK verteidigen und konnte daher nicht persönlich anwesend sein. Er reist im nächsten Jahr nach Amsterdam, wohin der Browserday wieder heimkehren wird.