Brüning und die Riesterrente
"Eine etwas verzwickte Materie, die aber genauer analysiert werden muß, will man nicht einen Sachzwang konstatieren"
Auch wenn sich geschichtliche Ereignisse nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragen lassen, ist doch ein Blick in die Geschichte mitunter aufschlussreich, manchmal - wie im Hinblick auf die propagierte Unausweichlichkeit der Reprivatisierung der Rente - sogar brisant.
Am 18. November 2002 löste der ehemalige Finanzminister und SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine in der Bild-Zeitung mit der Kolumne "Die Wiedergeburt Heinrich Brünings" einen Eklat und damit ein großes Rauschen im Blätterwald aus . Wie bekannt zog er in der Kolumne Parallelen zwischen der prozyklischen Wirtschaftspolitik des Reichskanzlers der Weimarer Republik Heinrich Brüning und der Gerhard Schröders, was damals Politiker wie Olaf Scholz und Historiker wie Manfred Funke dazu bewog, den Vergleich eines unfreiwilligen Wegbereiter Hitlers und des sozialdemokratischen Bundeskanzlers als von Grund auf absurd zu erklären.
Interessant ist aber weniger die Fixierung auf eine der wenigst glücklich agierenden Politikerpersönlichkeiten am Ende der Weimarer Republik, als nachzuverfolgen, welche Entwicklungswege verschiedene sozialstaatliche Komponenten in der deutschen Geschichte nahmen, und zu untersuchen, wie sich diese bewährt haben. Besonders interessant ist dies beim Werdegang der deutschen Rentenfinanzierung.
Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren
Das Rentensystem, wie es von Bismarck eingeführt wurde war laut Alexander Brunner eine Mischform aus einem überwiegenden Kapitaldeckungs- ("Anwartschaftsdeckungsverfahren") und einem ergänzenden Umlageverfahren, dem sog. "Zeitabschnittsdeckungsverfahren", dessen Beitragssätze für einen gewissen Zeitraum (z.B. bei Bismarck 10 Jahre) so bestimmt waren, dass sie in der Lage sein sollten, die Leistungen abzudecken und eine Reserve zu bilden, damit etwaige Schwankungen im Leistungsbezug ausgeglichen werden konnten.
Dabei ist für das kapitalgedeckte Verfahren kennzeichnend, dass es vom Bezieher selbst im voraus finanziert wird und von der Entwicklung der Kapitalmärkte abhängig ist. Beim Umlageverfahren ist es hingegen so, dass es sich aus dem sogenannten "Generationsvertrag" (d.h. die arbeitende Generation finanziert direkt die in Rente Lebenden) speist und daher von der Lohnentwicklung abhängt. Egal ob umlage- oder kapitalfinanziert sind aber die Rentenzahlungen stets an die konkrete Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft gekoppelt, die für den Rentenversicherten immer ein Risiko darstellt, wobei aber das Kapitaldeckungsverfahren hier anfälliger als das Umlageverfahren ist.
So kam es nach dem 1. Weltkrieg zu einer Inflation und Hyperinflation, welche ab 1923 mit Verfall des Geldwertes die Rentenbezüge praktisch wertlos machte. Daraufhin wurden, um überhaupt noch Renten ausbezahlen zu können, die Komponenten der Rentenversicherung umgedreht: Das bis dato vorherrschende Kapitaldeckungsverfahren wurde als tragende Säule des Rentensystems durch das Umlageverfahren abgelöst. Die Bürokratie des Reichsarbeitsministeriums, die sich übrigens bis in die Hitlerzeit halten konnte, gab aber den Kampf gegen das Umlageverfahren nie auf und versuchte diese immer wieder durch das Anwartschaftsdeckungsverfahren zu ersetzen.
1929 wurde die Finanzlage der Rentenversicherung - wie der Historiker Martin Geyer schreibt - mit "prophetischer Kühnheit" bis in das Jahr 1977 hoch gerechnet und ab diesem Zeitpunkt Verluste beim Umlageverfahren vorausgesagt. Bei dieser Vorhersage wurde aber von einer statischen Interpretation hinsichtlich der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung ausgegangen, die zwar als Argument für das Kapitaldeckungsverfahren dienen konnte, aber unter den Bedingungen wirtschaftlicher Prosperität irrelevant war.
Nazi-Regime als "Gefälligkeitsdiktatur"?
In der aktuellen Situation der Weltwirtschaftskrise waren jedoch die Grundlagen der Rentenversicherung tatsächlich dem Zusammenbruch nahe. Denn in den Jahren 1929 bis 1932 war aufgrund von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Lohnsenkung ein deutlicher Rückgang der Beitragseinnahmen um 40 Prozent zu beobachten. Heinrich Brüning, ein Zentrumpolitiker, der nach dem Rücktritt des Sozialdemokraten Hermann Müller die Regierungsgeschäfte übernahm und durch eine einseitige Ausrichtung auf Arbeitgeberinteressen die krisengeschüttelte Wirtschaft wieder voran bringen wollte, reagierte auf diese Situation, indem er die Rentenleistungen weiter minderte und ihre Anspruchsvoraussetzungen verschärfte.
Das Ergebnis der prozyklischen Brüningschen Politik waren 6 Millionen statt 4 Millionen Arbeitslose und Hitler ante portas. Im Nationalsozialismus wurde die restriktive Rentenpolitik von den Behörden trotz der sich verbessernden konjunkturellen Lage fortgesetzt. So wurde 1933 die Bevölkerung mit einem errechneten Fehlbetrag von 20 Milliarden Reichsmark in der Arbeiterversicherung, obwohl nach Alexander Brunner der "Bankrott der Sozialversicherung (...) mehr ein medial aufgebauschter (...) als ein tatsächlicher war", erschreckt und daraufhin im Dezember 1933 mit dem "Sanierungsgesetz" eine "Rückkehr zum Anwartschaftsdeckungsverfahren eingeleitet" (Klaus Teppe).
Die komplette Einführung des Anwartschaftsdeckungsverfahren scheiterte aber 1937 mit dem "Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung", weil die Ausgleichszahlungen der Reichskasse dafür nicht reichten. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurden von den Nationalsozialisten die Vermögensbestände der Sozialversicherungsträger u.a. für die Rüstung eingesetzt, was zur Folge hatte, dass die "Sozialversicherung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor dem finanziellen Ruin stand" (Alexander Brunner).
Somit ist auch der abenteuerlichen These von Götz Aly aus seinem Volksstaat-Buch entgegenzutreten, der die Entwicklung des deutschen Sozialstaats mit der Verteilung von geraubtem Vermögen der Juden erklären möchte und vom Nazi-Regime als einer "Gefälligkeitsdiktatur" für den kleinen Mann spricht und damit den Eindruck erweckt, nicht gesellschaftliche Eliten oder Institutionen wie die Deutsche Bank hätten vor allem vom Nationalsozialismus profitiert, sondern Leute, die heute Mieterschutz genießen.
Man muss festellen, dass Finanzierungsverfahren, die auf Kapitaldeckung aufbauen, bei wirtschaftlichen Krisen schnell ihrer Basis beraubt werden können. Vermögen, die innerhalb von Jahrzehnten aufgebaut werden, können innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums massiv an Wert verlieren bis hin zur völligen Wertlosigkeit. (...). Beobachtet man die Entwicklung von Grundrente und Teuerungszulage (= Kapitaldeckung und Umlagefinanzierung) während der deutschen Inflation, so wird deutlich, dass gerade im Fall von Währungskrisen eine Anpassung durch eine dynamisierte Pension auf Basis eines Umlageverfahrens der Kapitaldeckung überlegen ist.
Alexander Brunner
Horror vor der "Vergreisung der Republik"
Es ist also festzuhalten, dass das Kapitaldeckungsverfahren in Deutschland bereits zwei Mal eingeführt wurde und zwei Mal wieder durch das Umlageverfahren ersetzt werden musste, weil es nie richtig funktionierte: Nach der Hyperinflation war die Basis für eine Kapitaldeckung durch den Geldwertverfall vernichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kapitalstock durch die Rüstungsfinanzierung buchstäblich verpulvert worden.
1957 wurde von der Adenauer-Regierung das von den "Rentenexperten" so ungeliebte reine Umlageverfahren mit dem "dynamisierenden Faktor" der Lohnentwicklung als Richtwert eingeführt. Dieses wurde im Großen und Ganzen in dieser Weise weitergeführt, bis mit der "Riesterrente" wieder massiv der Umstieg in die privatfinanzierte Rente propagiert wurde.
Begründet wurde dies mit einer Prognose der Bevölkerungsentwicklung für das Jahr 2050, anhand welcher das Horror-Szenario einer "Vergreisung der Republik" entworfen wurde. Dabei wurden aber recht zweifelhafte Annahmen und Prognosen als vermeintlich unumstößliche Tatsachen angenommen (vgl. Die Baby Boomer in Deutschland).
Allein der Zeitraum der Prognose bis 2050 ist ein großer Unsicherheitsfaktor in dieser Kalkulation. Das ist, als ob die Regierung Adenauer 1955 Prognosen über das Jahr 2005 angestellt (und dementsprechend den Pillenknick, die Wiedervereinigung und den Zuzug von Gastarbeitern und Aussiedlern übersehen) hätte! Außerdem propagiert ja die Bundesregierung Vollbeschäftigung (es wird ja öffentlich über Einwanderungsgesetze für die Zukunft spekuliert, um den künftigen Arbeitskräftemangel zu kompensieren!), eine komplette Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und ein Ansteigen der Konjunktur für die Zukunft, weswegen es aus der Warte der Bundesregierung eigentlich nicht einzusehen ist, warum das Umlageverfahren an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gelangt sein soll.
"Wer ein Konto hat, beginnt, wie ein Investor zu denken."
Zumal, wenn man Faktoren wie die anhaltend hohe Belastung der Sozialkassen mit den Kosten der Wiedervereinigung oder die künftige Produktivitätsentwicklung und die technologische Entwicklung mit in Betracht zieht, außer man traut seinen eigenen Aussagen nicht und nimmt die statistischen Daten nur als Vorwand, um einen weiteren Pfeiler des sozialen Sicherungsnetzes zu privatisieren, um den Versicherungen neue Profitmöglichkeiten zu eröffnen..
Selbstverständlich gibt es keine Notwendigkeit, dass sich nun mit der Neoliberalisierung von Wirtschaft und Politik die gesellschaftlichen Ereignisse nach dem Modell Brüning wiederholen müssen. Dass man aber zu Zeiten einer sich aktuell verschärfenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise genau auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückgreift, die sich in einer schwierigen Situation als kontraproduktiv erwiesen und damit weiter zur Destabilisierung der Weimarer Republik beigetragen hat durch geballte Medienmacht mit größter Breitenwirkung und Intensität als alternativlosen Ausweg und der Weisheit letzten Schluss hinstellt, gibt doch zu einiger Verwunderung Anlass.
Und vielleicht ist für das deutschen Rentensystem immer noch gültig, was der Historiker Hans Günter Hockerts zur Rentenpolitik der Weimarer Republik und Nazi-Zeit geschrieben hat:
Es handelt sich hier um eine etwas verzwickte Materie, die aber genauer analysiert werden muß, will man (...) nicht (...) einen Sachzwang konstatieren, wo in Wirklichkeit eine alternativfähige und im Endergebnis zu Lasten der damaligen Sozialrentner gehende Entscheidung vorlag.
Mit ähnlichen Argumenten wie in Deutschland wird übrigens derzeit auch in Amerika für eine "umfassende Reform des Rentensystems" geworben. Dort sagt George Bush einen Kollaps der umlagefinanzierten Rente für das Jahr 2042 voraus. Im Gegensatz aber zu den deutschen Rentenreformern wird hier nicht nur ökonomisch argumentiert, sondern auch auf den ideologischen Nebeneffekt hingewiesen. Denn mit einer kapitalgedeckten Rente würde das Bedürfnis der Lohnabhängigen nach Existenzsicherung an die Steigerung der Kapitalrendite gekoppelt. Private Rentenkonten würden "lauter Republikaner schaffen", weiss der konservative Kolumnist David Brooks den Lesern der New York Times zu berichten. "Wer ein Konto hat, beginnt, wie ein Investor zu denken."