Bürger Scharon

Steht seine politische Karriere vor dem Aus?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit der Begründung, kein Mensch solle ohne ausreichende Beweise vor Gericht gestellt werden, hat die Staatsanwaltschaft auf eine Korruptionsanklage gegen Ariel Scharon verzichtet. Aufatmen kann Israels Premierminister deshalb aber nicht.

Von der Öffentlichkeit für Schuldig gehalten, der eigenen Partei kritisiert und der internationalen Gemeinschaft gemieden, hat Israels Premierminister auch nach dem Ende der Ermittlungen gegen ihn wenig Freude. Weil er seine Räumungspläne für alle Gaza- und vier der Westbank-Siedlungen trotz eines ablehnenden Votums der Likud-Mitglieder Anfang Mai weiter forciert, hat ihm das rechte Lager weitgehend die Unterstützung entzogen: Mittlerweile hat der Regierungschef nur noch 59 der 120 Abgeordneten hinter sich und muss sich seit vier Wochen immer wieder montags den Misstrauensvoten der Oppositionsfraktionen stellen. Dass er dennoch weiterhin im Amt ist, liegt vor allem daran, dass sich die aus rechten, linken und arabischen Parteien bestehende Opposition auf keine gemeinsame Linie einigen kann - und die Arbeiterpartei im Moment kein Interesse an Neuwahlen hat: Sie verhandelt seit Sonntag offiziell mit Scharon über eine große Koalition.

Da stand ein Mann, der sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Nervös, geradezu fahrig las Generalstaatsanwalt Menachem Mazuz der versammelten Presse Mitte Juni seine Entscheidung zum Scharon-Fall vor, konzentriert auf das Blatt vor ihm starrend, so als sei er sich seiner Sache ganz und gar nicht sicher.

"Knapp an der Grenze zum kriminellen Verhalten"

Denn Mazuz, erst seit Februar im Amt, steht unter massivem Druck. Die Entscheidung ist innerhalb der Staatsanwaltschaft umstritten; die Abteilung Strafverfolgung hatte ihm im April eine Anklageerhebung empfohlen. Zudem war Mazuz monatelang in den Medien zum mächtigsten Mann Israels hochstilisiert worden: Von seiner Entscheidung, so das Credo, hänge die politische Zukunft des Premierministers ab. "Aus Angst vor dem eigenen politischen Einfluss," kommentiert die Zeitung Haaretz, sei der Generalstaatsanwalt den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. In der Tat war die Begründung für die Verfahrenseinstellung überraschend: Scharon sei ein Bürger wie jeder andere auch, und habe deshalb das Recht, nur dann vor Gericht gestellt zu werden, wenn die Staatsanwaltschaft von seiner Schuld absolut überzeugt sei: "Ich halte nichts davon, den Gerichten die Entscheidung zu überlassen, ob die Beweise für eine Verurteilung ausreichen," sagte Mazuz und warf der ehemaligen Leiterin, der Strafverfolgerin Edna Arbel, vor, sie habe die Ermittlungen absichtlich in eine bestimmte Richtung gelenkt, nachdem er einige Sätze zuvor angemerkt hatte, das Verhalten von Scharon und seinem Sohn Gilad, über den die Bestechungsgelder geflossen sein sollen, sei "knapp an der Grenze zum kriminellen Verhalten."

Nicht nur deshalb ist die Entscheidung ein Freispruch zweiter Klasse: Dank vieler Lecks bei Staatsanwaltschaft und Polizei berichteten die Medien monatelang über nahezu jedes Detail der Ermittlungen: "Im Gerichtssaal der Öffentlichkeit wurde bereits über Scharon verhandelt, und das Urteil lautet auf schuldig," sagt Michael Schechter von der israelischen Anwaltsvereinigung:

Wenn der Premierminister wirklich ein Bürger wie jeder andere auch ist, sollte er die Möglichkeit haben, sich vor professionellen Richtern unter Berücksichtigung der vollständigen und nicht durch die Medien gefilterten Beweise zu verteidigen, so wie jeder andere auch. Anders herum sollte er frei von politischen Erwägungen von einem ordentlichen Gericht verurteilt werden, wenn er schuldig ist. Eine Anklage ist keine Verteilung; ein faires Verfahren ist das Recht des einzelnen Bürgers und der Gesellschaft auf Klarheit gleichermaßen. Der Generalstaatsanwalt hat dieses Recht vorweg genommen.

Aber theoretisch ist ein Prozess immer noch möglich - sollte der Oberste Gerichtshof, was er allerdings so gut wie nie tut, die Einleitung eines Verfahrens verfügen: Mittlerweile liegen dort drei entsprechende Anträge vor, die sich vor allem darauf berufen, dass Mazuz in der schriftlichen Begründung seiner Entscheidung Verfahrensfehler begangen hat. So habe er beispielsweise nicht die Gegenposition der Strafverfolgung beigefügt - in Israel ist dies für Anklageentscheidungen und Gerichtsurteile vorgeschrieben.

Große Koalition: Forderungen der Sozialdemokraten harter Brocken für Scharon

Dennoch wäre für Scharon, dem die Zusammenarbeit mit den rechten Parteien seit einigen Monaten zunehmend schwerer fiel und am Ende ganz unmöglich wurde, jetzt eigentlich der Weg frei, um eine große Koalition aus Likud, Arbeiterpartei und der liberalen Schinui-Fraktion zu bilden: Die Sozialdemokraten hatten immer wieder betont, dass ein Regierungseintritt erst nach dem Ende der Ermittlungen gegen Scharon in Frage kommen würde. Doch aufatmen kann er dennoch nicht: Zwar hat die Führung der Arbeiterpartei am Sonntag nach wochenlangen Vorgesprächen hinter verschlossenen Türen am Verhandlungstisch Platz genommen.

Aber die Forderungen, welche die Sozialdemokraten mitgebracht haben, sind ein harter Brocken für Scharon: Nicht nur, dass die Parteispitze bevorzugt die Ministerämter fordert, die derzeit von einflussreichen Likud-Falken wie Wirtschaftsminister Benjamin Netanjahu und Bildungsministerin Limor Livnat ausgeübt werden - die Arbeiterpartei will auch einen grundsätzlichen Wechsel bei vielen innenpolitischen Themen. Dafür hätte Scharon dann eine bequeme Mehrheit von 74 Stimmen, könnte auf die rechten Parteien verzichten und sogar eine ganze Reihe von Abweichlern in seiner eigenen Partei in Kauf nehmen.

"Wenn jemand in dieser Situation Forderungen zu stellen hat, dann sind wir das," beschrieb der sozialdemokratische Fraktionschef Ophir Pines-Paz am Sonntag, wie das Kräfteverhältnis aus seiner Sicht aussieht. Doch hinter der starken Rhetorik sieht die Situation auch für seine Partei weniger rosig aus. "Die Sozialdemokraten wollen dringend in die Regierung," sagt Chanan Naveh, Nachrichtenchef des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Denn über kurz oder lang werde Scharon Neuwahlen ausrufen müssen: Mittlerweile hat er nur noch 59 der 120 Parlamentssitze hinter sich und muss sich seit vier Wochen immer montags den Misstrauensanträgen der Opposition stellen. Dass bislang keiner davon die erforderliche absolute Mehrheit von 61 Stimmen zusammen bringen konnte, liegt nur daran, dass sich die in linke, rechte und arabische Parteien zersplitterte Opposition nicht auf den per Gesetz geforderten Alternativkandidaten für Scharon einigen kann. Naveh: "Die Abstimmungen haben aber gezeigt, dass die Regierung in allen Abstimmungen um eine Mehrheit bangen muss, so lange sie keine tragfähige Koalition vorweisen kann."

Für die Sozialdemokraten wären Neuwahlen im Moment fatal: Intern zerstritten, ohne wählbaren Kandidaten müssten sie mit einem weiteren Abrutschen in der Wählergunst rechnen. In den Koalitionsverhandlungen können sie allerdings darauf bauen, dass es Scharon noch schlechter ergehen könnte: Seine politische Karriere stünde vor dem Aus, sollte er tatsächlich Neuwahlen ausrufen. Denn nachdem er seiner Partei vor den Kopf gestoßen hat, indem er zuerst ein internes Referendum über seinen Trennungsplan abhalten ließ und ihn dann trotz der Ablehnung weiter forcierte, stünde seinen Gegnern nach einem Rücktritt nichts mehr im Weg, ihm den Parteivorsitz und damit die Kandidatur für das Amt des Premierministers abzunehmen: In Israel wird in der Regel der Vorsitzende der Partei mit der größten Parlamentsfraktion Regierungschef.

USA ungern isoliert in der Sperrmauer-Frage

Ein bisschen Aufmunterung erhielt der leidgeprüfte Regierungschef am Wochenende aus den Vereinigten Staaten: Vertreter von US-Regierung und Demokraten verurteilten unisono die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag vom Freitag, in der die Sperrmauer, die derzeit im Westjordanland gebaut wird, für völkerrechtswidrig erklärt worden war (vgl. Eine simple Sache) als "einseitig" und "politisch": In der Stellungnahme würden Terrorismus militanter palästinensischer Gruppen und Schutzbedürfnis der israelischen Bevölkerung völlig außer Acht gelassen.

So kann Israels Regierung darauf hoffen, dass es nicht zum Äußersten kommen wird: Die USA können durch ihr Vetorecht verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Israel verhängt. Aber: "Die USA werden sich im UN-Sicherheitsrat in dieser Frage ungern isoliert wieder finden wollen," schreiben Autoren der Zeitung Haaretz in einer Analyse. Deshalb arbeite die Regierung derzeit hart daran, möglich viele der "relevanten Staaten", ein Euphemismus für den Westen, davon zu überzeugen, sich in Sicherheitsrat und / oder Vollversammlung zumindest der Stimme zu enthalten. So jagte am Sonntag in Jerusalem ein Treffen das Nächste, beratschlagten Minister, Abgeordnete, Rechtsberater und Beamter über die Folgen der Stellungnahmen und Möglichkeiten zur Schadensbegrenzung. In Interviews betonte zudem jeder, der im politischen Jerusalem etwas zu sagen hat, dass der Zaun auf jeden Fall weiter gebaut wird, und zwar so wie geplant, es sei denn die eigenen Gerichte seien anderer Ansicht: "An diese Entscheidungen werden wir uns dann halten," sagte Justizminister Tommy Lapid am Wochenende in mehreren Interviews.

In der Tat greift Israels Oberster Gerichtshof immer öfter in den Verlauf (vgl. Die Mauer um Al-Ram schließt sich) der Mauer ein: Nachdem das Gericht bereits Ende Juni die Verlegung von 30 Kilometer Mauer südöstlich von Jerusalem und einen Baustopp für rund 20 weitere, noch nicht fertig gestellte Kilometer verfügt hatte, ließen die Richter am Sonntag eine weitere einstweilige Verfügung folgen: Dabei geht es um einen Abschnitt, der künftig zwei Dörfer in einer Enklave eingeschlossen und sie vom größten Teil ihres Landes abgeschnitten hätte. Die Begründung ist dabei immer die Gleiche: Die Mauer zerstöre die Lebensgrundlage der Anwohner - eine Tatsache, die mittlerweile auch Regierungsmitarbeiter hinter vorgehaltener Hand einräumen:

Bei den Planungen wurden die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und die daraus folgenden rechtlichen Implikationen missachtet.

Derweil präsentierten die Brigaden der Al Aksa-Märtyrer ihre Antwort auf die Stellungnahme aus Den Haag: Nachdem bei einer Bombenexplosion an einer Bushaltestelle im Süden Tel Avivs eine Frau getötet und mindestens 30 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt waren, erklärte die Organisation in einem Bekennerschreiben, der Anschlag sei der Beweis dafür, dass man trotz des Zaunes jederzeit und überall zuschlagen könne. Woher die Bombe stammte ist aber noch unklar: Anders als sonst wurde sie nicht von einem Selbstmordattentäter detoniert, sondern war in einem Busch in der Nähe versteckt.

Das Bekennerschreiben, dass per Fax an eine Nachrichtenagentur gesandt worden war, brachte Palästinenserchef Jassir Arafat in Bedrängnis: Die Brigaden der Al Aksa-Märtyrer sind der militante Flügel seiner Fatah-Bewegung; dass sie mit dem Anschlag in Verbindung gebracht werden, torpediert die palästinensischen Bemühungen um die Unterstützung der Staatengemeinschaft, weil die Tat der Position der Israelis in die Hand spielt: "Der Schlüssel zur Lösung des Konflikts befindet sich nicht in Den Haag oder Manhattan, sondern in Ramallah oder Gaza, von wo der Terror ausgeht," hatte eine Sprecher des Außenministeriums am Freitag gesagt und einmal mehr die israelische Ansicht betont, die palästinensische Autonomiebehörde unternehme nicht genug zur Terrorbekämpfung.