Bürger an die Macht: Ein neuer Ansatz zur Corona-Aufarbeitung
Seite 2: Expertenherrschaft und Volksabstimmungen
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Da ist einmal das Expertentum, wie es insbesondere eine Enquete-Kommission abbilden soll. Hier kann zwar auf hohe sachliche Kompetenz gesetzt werden, es fehlt jedoch völlig das demokratische Element der Gleichheit aller Bürger, wenn es um die Entscheidungsbefugnisse über ihr eigenes Leben geht.
Zur Erörterung eines Themas braucht es zwingend die Fachleute, für eine demokratische Entscheidung am Ende aber die Bürger.
Die andere Alternative ist direkte Demokratie. Hier ist zwar in Form von Volksabstimmungen (bzw. auf kommunaler Ebene: Bürgerentscheiden) formal die Gleichheit der Bürger am besten verwirklicht, weil jeder (Wahlberechtigte) eine Stimme hat.
Doch wir haben eine völlige Ungleichheit bei der Informiertheit - und bei der Bereitschaft zur Teilnahme an der Abstimmung. Abgefragt wird eine Meinung, die keinerlei inhaltliche Begründung braucht, die keinerlei Beschäftigung mit der Vielfalt an Vorschlägen und dem zugehörigen Pro und Contra verlangt.
Bürgerräte sind keine Kreativwerkstätten
Aus der Zusammensetzung von Bürgerräten ergibt sich, dass sie sich ideal zur Entscheidungsfindung eignen, wenn der Sachverhalt schwierig ist.
Deshalb bieten sie sich besonders in zwei Fällen an: Wenn das Thema sehr speziell oder randständig ist, es in der Öffentlichkeit kaum (angemessen) diskutiert wird, aber gleichwohl eine Entscheidung getroffen werden muss. Oder wenn das Thema sehr konfliktbeladen ist und in der Öffentlichkeit überwiegend divergierende Meinungen aufeinander prallen, ohne dass eine gegenseitige Verständigung erzielt wird.
Aus der Zusammensetzung von Bürgerräten ergibt sich aber auch, dass sie ungeeignet sind für etwas, das ihnen jedoch oft als Aufgabe zugeschrieben wird, nämlich kreativ zu sein und eigene Lösungen für Probleme zu entwickeln. Denn wenn Kreativität gefragt ist, wenn nach neuen, guten Ideen gesucht wird, dann ist eine Begrenzung des Pools, aus dem geschöpft werden kann, gerade nicht sinnvoll.
Es sollte nicht dem Zufall überlassen sein, ob eine später von allen oder wenigstens den meisten akzeptierte Idee in der Gruppe der Ausgelosten geboren wird oder eben nicht. Viel mehr sollte man das gesamte Potential ausschöpfen, hier also alle Bürger nach ihren Vorschlägen und Erfahrungen fragen (und sicherlich auch über die jeweiligen geografischen Grenzen hinausblicken).
Für diese kreativen Prozesse gibt es u.a. Parteien, NGOs, Petitionen und viele Möglichkeiten offener Konsultationen. Für die Aufarbeitung der Corona-Politik wären daher offene Verfahren bereitzustellen, mit denen alle Bürger ihre Erfahrungen und Sichtweisen einbringen können.
Input und Output bei Bürgerräten
Bürgerräte (und noch deutlicher strukturiert Planungszellen) sind daher auf Input angewiesen. Ihre Mitglieder bringen die verschiedensten Lebenswirklichkeiten der Gesellschaft ein, vor deren Hintergrund sie über diesen Input diskutieren.
Damit alle Aspekte eines Themas berücksichtigt werden, ist daher weniger die konkrete Zusammensetzung eines Bürgerrats relevant, als vielmehr die professionelle Organisation der Input-Seite: Es müssen alle relevanten Fakten eingespeist werden, es müssen alle Meinungen zu Wort kommen.
Die Ausgelosten, die am Ende eine Entscheidung treffen bzw. bisher stets nur eine Empfehlung aussprechen sollen, müssen alles gehört und gesehen haben, was für eine sachgerechte Beratung notwendig ist. Das demokratische Gebot des Minderheitenschutzes verlangt dabei, gerade nicht nur den Mainstream zur Kenntnis zu nehmen.
In der Praxis werden daher Bürgerräte von externen Dienstleistern organisiert. Sie sollen und dürfen keine Eigeninteressen bei den verhandelten Themen verfolgen (wie dies etwa bei einer Stadtverwaltung oder einem Ministerium der Fall sein dürfte).
Ob das gelungen ist, wird standardmäßig am Ende jedes Prozesses überprüft, durch wissenschaftliche Beobachtung, durch Befragung der Teilnehmer - und sicherlich könnte man auch noch ein Feedback der Öffentlichkeit einholen, die ja schließlich dem Verfahren vertrauen muss, um das Ergebnis zu akzeptieren.
Weil Bürgerräte noch neu sind und Planungszellen, die es seit den 1970er Jahren gibt, im demokratischen Diskurs immer ein Schattendasein gefristet haben, gibt es hier sicherlich noch vieles zu optimieren.
Doch die Ergebnisse können sich bisher stets sehen lassen und übersteigen in ihrer Qualität reine Meinungsumfragen um Längen.
Aufklärung durch die verschiedenen Professionen
Bürgerräte (im Sinne der Reliabilität sollte es stets mehrere zu einem Thema geben) können sicherlich ein wichtiges Element bei der Aufarbeitung der Corona-Zeit sein (wie es übrigens auch schon während der Pandemie einige gab, allerdings nicht auf Bundesebene).
Aber sie gehören nicht an den Anfang, sondern ans Ende der Aufarbeitung. Denn zunächst muss der mögliche Input für sie generiert werden.
Dazu dürfte es nötig sein, dass jetzt alle während der Pandemie wichtigen Gesellschaftsbereiche ihre eigene Reflexion betreiben. Politiker müssen sich (selbst-)kritisch mit der Corona-Politik befassen, Wissenschaftler mit der wissenschaftlichen Arbeit, Juristen mit der Rechtsprechung, Journalisten mit der Berichterstattung, Verwaltungen mit Verwaltungshandeln und Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Verhalten in der Gesellschaft.
Auch dazu wird es eine Vielzahl an Methoden geben und brauchen. Grundvoraussetzung in jedem gesellschaftlichen Feld ist dabei Erkenntnisinteresse, eingeschlossen natürlich die sog. "Maßnahmen-Kritiker". Für die Politik sind sicherlich ein Untersuchungsausschuss und/ oder eine Enquete-Kommission bewährte Verfahren.
Aber damit lässt sich keinesfalls das Gesamtgeschehen evaluieren - u.a. eben, weil die Experten selbst ihre Rolle in der Pandemie evaluieren müssen und weil Experten nicht den Dialog der Bürger untereinander ersetzen können.
Auch können Wissenschaftler grundsätzlich nicht entscheiden, was politisch richtig oder falsch war - nur, was für die jeweiligen politischen Ziele sachgerecht war (siehe dazu Streitgespräch zwischen Heribert Prantl und Jörg Phil Friedrich).
Wenn alle Bereiche ihre eigenen Fehler erkannt haben, können sie mit ihrer jeweiligen Profession auf die anderen Bereiche blicken und mit diesen in Austausch treten. Und am Ende können Bürgerräte über die dann sicherlich große Vielfalt an Erkenntnissen und divergierenden Empfehlungen beraten, soweit sie die Gesamtgesellschaft betreffen (siehe die sieben W-Fragen: wer will was von wem wofür wie warum).
Dabei wird es auch um Grundsatzfragen gehen, die vor der Pandemie als geklärt angenommen wurden, mit einem Schlag aber völlig neu beantwortet wurden. Beispielsweise die nach der Bedeutung individueller Freiheit.
Im derzeitigen Stadium wäre ein Bürgerrat zur Aufarbeitung der Corona-Politik jedoch völlig überfordert, weil schlicht fehlt, worüber er sinnvoll entscheiden könnte. Ganz gleich, welches Ergebnis er brächte: mit einer allgemeinen Akzeptanz in der Gesellschaft wäre - zurecht - nicht zu rechnen.
Damit kämen wir nicht nur nicht weiter, es würde auch ein junges, vielversprechendes Instrument für demokratische Beratungen beschädigt.
Hinweis: Der Autor setzt sich seit rund 20 Jahren für Beteiligungs- und Entscheidungsverfahren ein, die auf Auslosung beruhen. Zu seinem entsprechenden Buch wurde er 2013 von Telepolis interviewt.
Er betreibt die Website aleatorische-demokratie.de, schreibt Fachartikel zu losbasierter Bürgerbeteiligung, ist Host des Podcasts ?"Macht:Los!" und hat schon mehrfach als sog. Prozessbegleiter ("Moderator") an Planungszellen und Bürgerräten mitgewirkt.