Demokratie: Jugend ist Zukunft – wie soll sie mitentscheiden?

Haben Jugendliche keine Lobby – oder doch zu viele, die nur denken, die wüssten, was gut für sie ist? Symbolbild: pasja1000 / Pixabay Licence

Jugendverbände leiten meist Erwachsene. Doch es gibt Ideen und Konzepte, wie sich unter 18-Jährige einbringen können. Ein Überblick.

Ausgeloste Bürgerräte stehen derzeit hoch im Kurs. Nach einem von gemeinnützigen Organisationen initiierten ersten bundesweiten Bürgerrat zur Weiterentwicklung der Demokratie im Jahr 2019 und weiteren zu "Deutschlands Rolle in der Welt"" sowie zum Klimaschutz hat sich inzwischen der Deutsche Bundestag selbst für die Einsetzung solcher per Zufall zusammengesetzten Beratungsgremien entschieden.

Die Ergebnisse des ersten offiziellen Bürgerrats zum Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben"" sollen im Februar 2024 vorgelegt werden.

Die Hauptkritik an solchen bundesweiten Bürgerräten, vor allem von Union und AfD vorgetragen, sieht darin eine Parallelstruktur zum Parlament. Dieses sei bereits vielfältig aus der Gesellschaft zusammengesetzt und allein demokratisch legitimiert.

Beeinflussung nicht ausgeschlossen

Zudem wird auf Möglichkeiten der Beeinflussung der ausgelosten Bürger und Verzerrungen beim geschichteten Losverfahren selbst verwiesen, was allerdings bei richtiger Handhabung wenig überzeugen kann.

Weniger im Blick sind dabei Möglichkeiten, welche aleatorischen (also auf Auslosung basierenden) Verfahren für die demokratische Mit- und Selbstbestimmung von Teilgruppen bieten. Denn es ist keinesfalls so, dass legitimerweise über alle Fragen auch alle entscheiden dürfen oder gar müssen sollten.

Vielmehr stellt sich die Frage: Wer will was von wem, wofür, wie und warum? Wenn sich alle Betroffenen einig werden, gibt es keinen Grund, Nicht-Betroffene in eine solche Einigung hineinreden zu lassen.

Große Gruppe ohne Wahlrecht

Die größte und bedeutendste Gruppe, die im derzeitigen demokratischen Prozess nur indirekt vertreten sein kann, sind Jugendliche, die noch kein Wahlrecht haben. Sie können sich zwar mit PR-Aktionen, Demonstrationen oder Petitionen an Öffentlichkeit und Politik wenden, wie dies Jüngere auch schon sehr wirkmächtig Fridays for Future getan haben.

Aber direkten Einfluss oder gar Entscheidungsbefugnisse für ihre eigenen Lebensbereiche haben sie meist nicht.

Als lobbyistische Vertretungen sind vor allem die sogenannten Jugendverbände aktiv, die allerdings fast ausnahmslos von Erwachsenen geleitet und gemanagt werden.

Es geht auch und wesentlich um Geld

Hierbei geht es regelmäßig vor allem um Geld, etwa die staatlichen Zuschüsse, die über Landesjugendringe an die in ihnen vertretenen Jugendverbände von Sport, Naturschutz oder Kirchen verteilt werden.

Als Selbstvertretungen gibt es für einen speziellen Lebensbereich Schülervertretungen auf allen Ebenen. Daneben haben sich in vielen Städten, Kommunen und Kreisen sogenannte Jugendparlamente gebildet, deren Gestaltungsraum aber sehr unterschiedlich ist.

Das dienstälteste wurde 1992 im Vogelsbergkreis gegründet. Mancherorts haben ihre Vertreter Antrags- und Rederecht in kommunalen Gremien, wie gerade in Berlin-Neukölln beschlossen.

UN-Kinderrechtskonvention schreibt Beteiligung vor

Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in sie betreffenden Angelegenheiten ist unter andrem in Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention sowie in zahlreichen Landesverfassungen festgelegt (siehe Übersicht des Deutschen Kinderhilfswerks).

Kinder- und Jugendparlamente sind in den meisten Fällen nicht nur ihrem Namen nach den politischen Gremien nachgebaut: Ihre Mitglieder werden gewählt und sollen so ihre Altersgruppen repräsentieren.

Der Nachteil dieses Verfahrens ist wie bei allen Wahlen eine reine Selbst-Selektion der Kandidaten. Wählbar ist nur, wer sich um ein entsprechendes Ehrenamt bewirbt, es sich also zutraut, Lust darauf hat, mit der nötigen Zustimmung rechnet.

Losverfahren kann Demütigung ersparen

Mit nur wenigen Stimmen im Wahlergebnis aufzutauchen, kann gerade von Jugendlichen als demütigend empfunden werden. Eine Alternative ist auch hier das Los.

Dabei kann die Bereitschaft, im Falle der Auslosung das Amt auch anzunehmen, zumindest bei Schülerinnen und Schülern gegenüber Berufstätigen und anderen Erwachsenen recht einfach durch Freistellungen erhöht werden.

Schließlich dürfen sich auch Klassen- und Schulsprecher meist während der Schulzeit treffen, sogar Mitgliedern von Schülerzeitungen können solche Optionen eingeräumt werden.

Wie der Einfluss von "Jung-Funktonären" begrenzt wird

Dabei steht der Auslosung für Jugendbeteiligung strukturell eine ähnliche Lobby gegenüber wie in der Politik. Denn weil das Los alle Kinder und Jugendlichen in der sogenannten Grundgesamtheit egalitär behandelt, können sich weder "Jung-Funktionäre" selbst in Stellung bringen, noch können Jugendverbände oder Jugendorganisationen der Parteien ihnen genehme Kandidaten pushen.

Schon bei Wahlen anstatt von Delegationsverfahren gibt es entsprechende Widerstände derer, die ihren Einflussbereich geschmälert sehen. Deutlich wurde dies recht anschaulich, als in Nordrhein-Westfalen (NRW) im schwarz-gelben Koalitionsvertrag 2017 die Errichtung eines direkt gewählten Landes-Jugendparlaments vereinbart wurde (pdf, S. 98).

Der aus Delegierten bestehende Landesjugendring NRW beklagte 2021, als schließlich ein Antrag zur Einrichtung des Landes-Jugendparlaments im Landtag zur Abstimmung stand, u.a.: "An dem vorliegenden Antrag wurde der Landesjugendring NRW in keiner Weise beteiligt – über sein Entstehen noch nicht einmal informiert." Das Vorhaben war allerdings in Form des Koalitionsvertrags seit dreieinhalb Jahren gesetzt.

"Fruchtlose Diskussionen"

Der Landesjugendring kommentierte: "fruchtlose Diskussionen um ein Landesjugendparlament verhindern dringend notwendige und entscheidende Weiterentwicklungen der eigenständigen und einmischenden Jugendpolitik in NRW."

Bei direkten Wahlen auf Landesebene dürfte die Selektion von potenziellen Kandidaten noch weit deutlicher ausfallen, als dies bereits auf kommunaler Ebene der Fall ist.

Denn woher sollten die Wahlberechtigten die Kandidaten kennen, außer von Fotos mit kurzer Selbstbeschreibung? Wer ist bereit, für Sitzungen eines solchen Gremiums etwa vom siegerländischen Freudenberg drei Stunden nach Düsseldorf zu reisen?

Arbeit geloster Gremien ist problemlos regionalisierbar

Mit der Auslosung von Jugendvertretern wird nicht nur die Kandidaten-Basis aufs Maximum vergrößert und damit so oder so die Selbst-Selektion gegenüber Wahlbewerbungen zwangsläufig verringert. Die Arbeit geloster Gremien lässt sich problemlos regionalisieren, sie braucht keinen zentralen Ort der Zusammenkunft aller.

Denn um statistischen Verzerrungen entgegenzuwirken, müssen geloste Gruppen immer deutlich größer sein, als dies bei den meisten gewählten praktiziert wird. Man braucht eher mehrere hundert als einige Dutzend.

Da aleatorische Verfahren, ob nun mit den neuen "Bürgerräten nach irischem Modell" oder z.B. in der fünf Jahrzehnte alten Fassung als "Planungszelle" immer auf Beratungen in Kleingruppen setzen (anstatt auf Reden vor großem Publikum), können Teilgruppen an verschiedenen Orten parallel über dieselben Fragen beraten.

Die Validität der Ergebnisse ergibt sich ohnehin erst durch den Abgleich solcher unabhängig voneinander getroffener Entscheidungen oder Empfehlungen (siehe ausführlich hier). Doch Auslosung statt Wahl stand in NRW von Seiten der Politik nicht zur Debatte und wurde von den Jugendverbänden auch nicht eingebracht.

"Kontinuierliche und direkte Interessenwahrnehmung"

Der damals zuständige Jugendminister Joachim Stamp (FDP) schrieb dem Autor, der just in NRW einige Jahre zuvor mit ausgelosten Jugendforen wissenschaftlich begleitet experimentiert hatte, auf die Möglichkeit des Losverfahrens angesprochen: Das im Koalitionsvertrag vorgesehene gewählte Landes-Jugendparlament sei "aus unserer Sicht insbesondere geeignet, eine kontinuierliche und direkte Interessenwahrnehmung von jungen Menschen zu gewährleisten".

In anderen Kontexten könne die Auslosung gleichwohl "gut geeignet" sein, vor allem eher "für den kommunalen bzw. institutionellen Bereich".

Direkt gewähltes Landes-Jugendparlament kam nicht

Gekommen ist dann allerdings auch das direkt gewählte Landes-Jugendparlament nicht, was erstaunlicherweise von den Medien nicht weiter beachtet wurde. Im Beschluss des NRW-Landtags vom 1. Juli 2021 (TOP 14) hieß es:

Der Landtag Nordrhein-Westfalen bekräftigt das Ziel zur Einrichtung eines direkt und frei gewählten Landesjugendparlaments für Nordrhein-Westfalen. Es ist ein Konzept für die Einrichtung eines Landesjugendparlaments vorzulegen.

Aus dem Antrag 17/14281 von CDU und FDP, 22.06.2021)

Ende Oktober 2021 wechselte der Landtag den Ministerpräsidenten Armin Laschet gegen den bisherigen Verkehrsminister Hendrik Wüst, der nach der Wahl vom 14. Mai 2022 eine neue Koalition mit den Grünen einging.

Wer war noch mal zuständig?

Im neuen Koalitionsvertrag war von einem Landes-Jugendparlament nun nicht mehr die Rede. Was aus dem alten Beschluss geworden ist, weiß niemand: Landtagssprecher Stephan Malessa teilte auf Anfrage mit, es gebe "aktuell keinen neuen Sachstand".

Svenja Lehmann, stellvertretende Pressesprecherin der CDU-Fraktion, bestätigte nur, dass die Umsetzung des Beschlusses bisher nicht erfolgt sei. Die FDP reagierte auf Anfrage nicht.

Und für das nun von einer grünen Ministerin geleitete Jugendministerium schrieb der stellvertretende Pressesprecher Fabian Voß: "Leider können wir Ihnen hier keinen Sachstand zuliefern, da das Landesjugendparlament nicht im Zuständigkeitsbereich unseres Hauses liegt bzw. lag. Die Verantwortung zur Errichtung lag unseres Wissens nach beim Landtag."

Zweifelhaftes Vorbild

Da sich der vorherige Minister Stamp auf Briefpapier seines Hauses zu dem Anliegen geäußert hatte, überrascht die Nichtzuständigkeitserklärung. Bereits im März 2022 hatte die Landesregierung allerdings auf eine Kleine Anfrage der SPD-Abgeordneten Eva-Maria Voigt-Küppers und Dennis Maelzer bekundet, den Verfahrensstand nicht zu kennen.

Ein Vorbild für Jugendvertretungen, ob nun per Los oder Wahl besetzt, ist dieser Umgang eines Parlaments mit den eigenen Beschlüssen wohl kaum.

Aleatorische Verfahren werden es weiterhin schwer haben, wenn es um mehr als unverbindliche Empfehlungen geht, da ihnen – von Spezialisten wie dem Verein "Mehr Demokratie" abgesehen – schlicht die Lobby fehlt.

Möglichkeiten der Erprobung

Niederschwellige Möglichkeiten der Erprobung gibt es gleichwohl, nämlich bei der Verteilung einzelner Aufgaben, die prinzipiell jeder aus der Grundgesamtheit wahrnehmen kann.

Bestes Beispiel sind Klassensprecher. Werden sie ausgelost statt gewählt, bekommt jeder einmal dieses Amt (bei der Methode "Ziehung ohne Zurücklegen", wenn also nicht mehrmals dieselbe Person gelost werden kann).

Und geloste Klassensprecher sind in ihrer Interessenvertretung gerade gegenüber Lehrern und Schulleitung freier, da sie schon strukturell keine eigene Politik vertreten wollen (und deshalb kandidiert haben), sondern schlicht der Zufall sie mit diesem Amt betraut hat.