Bundestagswahl 2021: Was nicht gewählt werden kann und was jetzt schon feststeht
Seite 2: Der "Wahl-O-Mat": 38-mal die Sorgen der Herrschenden teilen
- Bundestagswahl 2021: Was nicht gewählt werden kann und was jetzt schon feststeht
- Der "Wahl-O-Mat": 38-mal die Sorgen der Herrschenden teilen
- Kann eine Wahl das System ändern? Hier nicht, aber woanders gern
- Auf einer Seite lesen
Die Krux dabei: Die insgesamt 38 zur Beantwortung stehenden Thesen im "Wahl-O-Mat" handeln ausschließlich davon, was sich die Politiker in ihr eigenes Stammbuch schreiben. Also was sie für wichtig halten, um den deutschen Staat noch mehr zu einer der erfolgreichsten Nationen in der internationalen Konkurrenz zu machen. Logisch, die Thesen hat der "Wahl-O-Mat" ja auch den Wahlprogrammen der Parteien abgelauscht. So darf sich dann der Wähler in die Rolle des Politikers begeben und bei den aktuell spannendsten Problemlagen Deutschlands "stimme zu", "neutral" oder "stimme nicht zu" anklicken.
Zum Beispiel: "Deutschland soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen" lautet eine der ersten Thesen. Schon ist man in der Zwickmühle - man ist gefragt als Mitglied, vulgo Untertan der Zwangsgemeinschaft Deutschland, und dieser Staat braucht, natürlich, eine ordentliche Gewalt gegen all die bösen anderen Staaten, die nicht so wollen wie "wir".
Wenn man das nicht unterschreibt, macht die These keinen Sinn. Wie soll man sich auch zu "Verteidigungsausgaben" stellen, wenn man gar nicht deren Zweck teilt, einen Staat mit möglichst überlegenen Waffen auszurüsten? Mithin setzt die These genau dies voraus. Der Wahl-O-Mat-Nutzer darf sich ein bisschen wie ein kleiner Verteidigungsminister fühlen und den Daumen nach oben oder unten zeigen, oder auch "neutral" in die Mitte.
So geht das mit den anderen Thesen weiter, eine Auswahl:
- "Die Förderung von Windenergie beenden": Soll der Staat weiter Geld ausgeben für einen wichtigen Teil seines zukünftigen Autarkie- und Exportschlagers "Energiewende" oder läuft die auch ohne weiter?
- "Begrenzung von Mieterhöhungen": Funktioniert das Geschäft mit dem Wohnen auch bis zu einer gewissen Grenze oder geht das nur grenzenlos?
- "Steuer auf digitale Dienstleistungen": Sackt sich der Staat zusätzliche Milliarden Euro ein oder schreckt er damit eher wichtiges Kapital von Investitionen ab?
- "Keine Aufträge an Kommunikationstechnik aus China": Macht sich Deutschland bei einer essenziellen Infrastruktur zu sehr abhängig von den neuen Bösewichten oder sollte günstige und fortschrittliche Technik den Ausschlag geben?
- "Deutschland raus aus der Europäischen Union": Profitiert der Staat von oder leidet er unter der EU-Mitgliedschaft?
- "Asyl nur für politisch Verfolgte": Lässt Deutschland weiter nur Leute rein, die je nach politischer Wetterlage passen oder auch welche, die andere Nöte haben?
- "Weiter mit Fallpauschalen für stationäre Behandlung": Muss das Gesundheitswesen zum Sparen angehalten werden oder wie können die Kosten anders sinken?
- "Patentschutz für Impfstoffe": Ohne Schutz des Profits aus dem Patent keine Entwicklung von Impfstoffen, oder ist dem Staat an dieser Stelle die Pandemie-Bekämpfung wichtiger als der Gewinn der Pharma-Unternehmen?
Politiker fragen nicht die Wahlberechtigten, wie sie es gern hätten
Im "Wahl-O-Mat" macht sich der Nutzer die Herausforderungen und Sorgen der Herrschaft zu eigen. Und es stimmt ja: Die beschriebenen Phänomene haben gewichtige Auswirkungen auf das bürgerliche Leben. Nur ziemlich unterschiedlich.
Für Firmen aus der Windkraft-Branche ist es natürlich wichtig, ob der Ausbau vom Staat weiter betrieben wird. Da steht eine Geschäftsgrundlage auf dem Spiel. Mieter interessiert hingegen mehr, ob sie sich ihre Wohnung weiter leisten können. Eine Etage höher liegen dann die Fragen, womit der Staat in Zukunft die zusätzlichen Ausgaben bestreiten will, für mehr Windkraft, billigere Wohnungen etc. - mit neuen Steuern, aber von wem? Und noch ein Geschoss weiter geht es um Grenzen zu und Bündnisse mit anderen Staaten.
Es ist immer dasselbe: Der "Wahl-O-Mat" versetzt den Wähler in die Situation der Politiker und stellt ihn vor deren Alternativen. Denn Politiker fragen nicht die Wähler, wie sie es gern hätten - sondern sagen, wie Sie es machen wollen, nämlich die Nation am besten voranbringen.
Darunter gibt es dann die Alternativen zu wählen: Also wer den "Sachzwängen" am besten gerecht wird - Kapital muss Erfolg haben, die Nation damit auch, und für beides müssen die richtigen Voraussetzungen geschaffen und erhalten werden - von Energie- und Gesundheitsversorgung über Telekommunikation und Mobilität bis hin zu Grenzschutz und Rüstung. Das Ganze nennt sich "Allgemeinwohl".
Daran haben sich alle einzelnen Interessen auszurichten und zu relativieren. Der deutsche Bürger hat das verstanden, er ist entsprechend politisiert. Unternehmen fordern nicht einfach noch bessere Profitbedingungen, sondern wollen die nationale Wirtschaft voranbringen, dem Staat damit Steuereinnahmen sichern sowie vor allem Arbeitsplätze schaffen.
Spiegelbildlich melden die Gewerkschaften die Anliegen ihrer Mitglieder als nur zu berechtigt an, weil es doch die Beschäftigten seien, die die nationale Wirtschaft voranbrächten und auch viel Steuern zahlten! Pflegekräfte lehnen sich nicht gegen die miserable Bezahlung und Überlastung auf, sondern reklamieren ihre Bedeutung für ein funktionierendes Gesundheitswesen. Familienverbände fordern nicht schlicht mehr Geld für die Kindererziehung, sondern verweisen auf die Gefahr zu wenigen und zu schlecht versorgten Nachwuchses für den Staat.
Mietervereine kämpfen nicht gegen das Geschäft mit dem Wohnen, weil das einfach vielen Menschen ein einigermaßen komfortables Leben verwehrt. Sondern sie sehen eine Schieflage zu Ungunsten der Mieter, appellieren daher an den Staat, das Geschäft mit dem Wohnen besser in Einklang zu bringen mit dem klammen Geldbeutel ihrer Klientel.
Die Liste könnte noch beliebig verlängert werden. Alle widerstreitenden Interessen in der Demokratie haben sich auf das "Allgemeinwohl" zu beziehen, auf ihren Beitrag zu einem erfolgreichen Staat. Wie könnte es auch anders sein? Wie sollen denn die armen Politiker ihre Entscheidungen treffen, wenn sie jedem bornierten Einzelinteresse Beachtung schenkten? Dieser Frage liegt ein Irrtum zugrunde: Der Staat findet nicht eine ungeheure Ansammlung gegensätzlicher Anliegen vor und muss sie nun irgendwie regeln, der Arme. Vielmehr organisiert der Staat ganz im eigenen Interesse die Gesellschaft so, dass die "Eigentumsordnung" ihre für die Wirtschaft und damit auch für ihn segensreichen Wirkungen entfaltet.
Die daraus sich ergebenden, dauerhaften Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, Vermietern und Mietern, Banken und Bankkunden zwingt er in ein rechtliches Korsett. So wird bestimmt, wie diese ständigen Streitereien ihren Verlauf zu nehmen haben. Sie werden nicht aus der Welt geschafft, sondern in eine konstruktive Bahn gelenkt. Beispiel Tarifverhandlungen: Formal gleichberechtigte Interessen treffen aufeinander - hier die Unternehmen, die möglichst wenig den Beschäftigten bezahlen wollen und möglichst viel aus ihnen herausholen; dort die Gewerkschaften, die das Gegenteil wollen.
Der Staat verpflichtet beide auf eine Einigung, auf dass die Gewinnproduktion weitergeht. In der den Parteien gewährten Tarifautonomie spricht er das Vertrauen aus, dass dies auch so passiert. Tatsächlich funktioniert diese Regelung, dank Gewerkschaften, die an der Ausbeutung grundsätzlich keine Kritik haben, sondern nur ihren "gerechten Anteil" an einem eingebildeten Reichtums-Kuchen fordern.
Das kann man "Spaltung der Gesellschaft" nennen, "die Reichen werden reicher, die Armen ärmer" oder gar "Klassen" - die Politiker wissen sehr gut um die Verhältnisse. Verhältnisse, die sie ganz bewusst und gezielt so weiter betreiben wollen, weil sie ihrem geliebten Staatswesen Macht und Reichtum bescheren. Unter allen Umständen haben daher die Bürger - jeder an "seinem Platz"- die Gegensätze zu ertragen und sich bei deren Austragung an die von den Politikern gesetzten Regeln zu halten. Die Gesetze sorgen dafür, dass das alltägliche Hauen und Stechen, Heuern und Feuern nicht die Reichtumsproduktion und damit den Staatserfolg ernsthaft gefährdet.