Bundeswehr sucht neuen Atombombenträger

Seite 3: 3. Politischer Diskurs

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Abhängigkeit von den USA

Egal für welches Flugzeugmodell sich die Generalität bzw. der Bundestag entscheidet, die US-Regierung muss dieser Wahl zustimmen, da sie die Atombewaffnung stellt. Dazu müssen die Flugzeuge mit der entsprechenden Kommunikationstechnik und der notwendigen Waffenauslösesicherheitstechnologie ausgerüstet werden. So sind alle US-Atomwaffen mit einem elektronischen Codeschloss gegen eine irrtümliche Zündung gesichert - den Permissive Action Link (PAL).

Damit kann die US-Regierung zwar nicht über die Flugzeugauswahl der Bundeswehr bestimmen, sie hat aber quasi ein Vetorecht: Wenn die US-Behörden einen ausländischen Flugzeugtyp nicht zum Atomwaffenträger umrüsten wollen, dann ist diese Entscheidung unumstößlich. Angesichts der industriepolitischen "America First"-Politik von US-Präsident Donald Trump ist dies nicht mehr nur eine theoretische Möglichkeit. In dem Fall müsste die Bundesregierung eine begrenzte Zahl an F-35 kaufen, um die Amis gnädig zu stimmen oder auf eine Atombewaffnung der Bundeswehr vollständig verzichten.

Eine mögliche Lösung wäre folgender "Deal": Um zu verhindern, dass die US-Regierung eine Nuklear-Zertifizierung des Eurofighter aus industriepolitischen Motiven hinauszögert, könnte man den Kauf der F/A-18 von einer schriftlichen Zusage der US-Regierung abhängig machen, dass der Eurofighter bis 2025 zertifiziert wird. Erfolgt dies nicht, könnte Deutschland vom Kauf der F/A-18 zurücktreten oder einen Teil des Preises zurückhalten, bis die Zertifizierung erfolgt ist. Oder man vereinbart, dass eben die F/A-18 bereits zertifiziert geliefert werden, weil man diese für diese Nato-Atomrolle haben will.

NATO Nuclear Sharing

Es stellt sich die Frage, ob ein eigenes Flugzeugmodell extra beschafft werden muss, nur um 10 bis 25 Atombomben einsetzen zu können. Eigentlich wollte die US Air Force die Bomben schon vor Jahren abziehen, um Kosten zu sparen; aber es waren die europäischen Politiker, die an einer Atomwaffenstationierung festhielten. Die Herren Politiker versuchten dies damit zu rechtfertigten, dass sie nur dann Einfluss auf die amerikanische Atomwaffeneinsatzpolitik innerhalb der NATO haben würden, wenn auf eigenem Territorium die Amerikaner Nuklearbomben stationieren dürften.

Die bilateralen Regelungen, wonach die USA die Atombomben und die europäischen Stationierungsländer die Atombombenträgerflugzeuge stellen, wird als "NATO Nuclear Sharing" bezeichnet. Aber die von den Politikern vorgebrachte Einschätzung ist nachweislich falsch, da mit Kanada ein NATO-Staat an der Atompolitik des Bündnisses teilnimmt, der selbst atomwaffenfrei ist. Außerdem haben die politischen Absprachen innerhalb der Nuclear Planning Group (NPG) oder der High Level Group (HLG) der NATO keinen nachweisbaren Einfluss auf die US-Operationsführung in Kriegszeiten. Schon seit Gründung der NATO war das "Zielgebiet" Sowjetunion/Russland die ausschließliche operative Domäne der US-Regierung, ob sich dies seit dem Ende des "Kalten Krieges" geändert hat, ist nicht bekannt.

Lediglich die deutschen Tornado-Piloten können - theoretisch und in begrenztem Umfang - ihren persönlichen Einfluss ausüben, indem sie Befehle ignorieren oder auf eigene Faust handeln könnten - ein sensibles Non-Thema innerhalb der Allianz.

Da die Atombomben in Büchel sowohl von deutschen als auch amerikanischen Soldaten bewacht werden und sowohl von deutschen als auch amerikanischen Flugzeugen abgeworfen werden können, ergeben sich folgende Szenarien:

Nur wenn die deutsche und die amerikanische Bewachungsmannschaft gleichzeitig einem Atomwaffeneinsatz zustimmen und mindestens eine deutsche oder amerikanische Kampfstaffel einem Atomschlag zustimmt, kommt es zum Nuklearwaffeneinsatz.

Mitte der fünfziger Jahre wurden auf Seiten der USA Zwischenfälle diskutiert, bei denen eine deutsche Bewachungsmannschaft eine US-Bewachungsmannschaft angreifen könnte, um sich die Nuklearwaffen für einen atomaren Alleingang oder einen Nuklearputsch anzueignen. Mit der Einführung der amerikanischen PAL-Codesysteme ist dieses Szenario seit den sechziger Jahren obsolet. Die deutsche Bewachungsmannschaft könnte mit den US-Atomwaffen keinen Alleingang mehr inszenieren; sie könnte bestenfalls einen amerikanischen Einsatzbefehl sabotieren, indem sie die Herausgabe der US-Atomwaffen verweigert und sich dabei gegebenenfalls mit Waffengewalt gegen die US-MUNSS durchsetzt. Theoretisch ist aber auch denkbar, dass ein Atomangriff vom deutschen Territorium ausgeht, ohne dass die Bundesregierung dem explizit zugestimmt hat. Aber solche Szenarien werden von offizieller Seite ungern öffentlich diskutiert.

Insgesamt hat die US Air Force noch circa 150 bis 200 Wasserstoffbomben in sechs Staaten gelagert: Fliegerhorst Büchel (BRD), Volkel (Niederlande), Kleine Brogel (Belgien), Aviano und Ghedi-Torre (Italien) und Incirlik (Türkei, ohne Trägerflugzeuge).

Abzug der Atomwaffen aus Deutschland?

Mehrere deutsche Politiker aller Parteien haben in den letzten Jahren wortreich, aber unverbindlich für den Abzug der letzten US-Atombomben aus Deutschland plädiert. Passiert ist nichts. Seit 2005 scheiterte dies am Widerstand der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihres langjährigen "Sicherheitsberaters" Dr. Christoph Heusgen, der heute die BRD bei den Vereinten Nationen vertritt.

Schon im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Koalition vom 26. Oktober 2009 wurde ein Abzug der Bomben auf Initiative des damaligen Bundesaußenministers Guido Westerwelle (FDP) gefordert:

Wir werden uns dafür einsetzen, den Abschluss neuer Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen international zu unterstützen. Die Überprüfungskonferenz zum Nuklearwaffensperrvertrag im Jahre 2010 wollen wir dafür nutzen, um eine neue Dynamik für vertragsbasierte Regelungen in Gang zu setzen.

In diesem Zusammenhang sowie im Zuge der Ausarbeitung eines strategischen Konzeptes der NATO werden wir uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden. Mit dem Ziel des Erhalts der Vereinbarungen des KSE-Regimes, einschließlich einer Rückkehr Russlands in das Vertragsregime, sind wir unsererseits zu einer Ratifizierung des A-KSE-Vertrages bereit.

Koalitionsvertrag 2010

Im Koalitionsvertrag der derzeit regierenden Großen Koalition vom 14. März 2018 heißt es:

Ziel unserer Politik ist eine nuklearwaffenfreie Welt. Wir unterstützen daher regionale Initiativen für Zonen, die frei von Massenvernichtungswaffen sind. Wir setzen auf die Einhaltung und einen stetigen und verantwortlichen Ausbau der Nichtverbreitungs- und Kontrollregime.

Im nuklearen Bereich setzen wir uns für die strikte Einhaltung des INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces) ein. Eine vollständige Überprüfbarkeit ist essenziell. Ein russischer Vertragsbruch, für den es begründete Sorgen gibt, hätte erhebliche Auswirkungen, weil derartige Waffen jedes Ziel in Europa erreichen könnten.

Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben. Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen.

Koalitionsvertrag 2018

Angesichts der Ausrüstungsprobleme und Bereitschaftsprobleme der Bundeswehr könnte man meinen, dass sich die Bundeswehr auf die Bewältigung der Defizite bei ihren konventionellen Hauptwaffensystemen konzentrieren sollte, statt nun auch noch einen neuen Atomwaffenträger für einen Milliardenbetrag anzuschaffen, der dann - wie die konventionell bewaffneten Maschinen der Bundesluftwaffe - auch bloß blöd in der Garage rumsteht und verrostet. Ein atomares Trägersystem, das nicht einsatzfähig ist, ist auch bloß eine unnütze Metallkonstruktion, die bestenfalls vor sich hin strahlt.

Proteste der Friedensbewegung

Die Friedens- und Anti-Atombewegung führt seit Jahren Demonstrationen gegen die Stationierung der Atomwaffen vor den Kasernentoren durch und veranstaltet dazu regelmäßig ein Sommercamp auf der "Friedenswiese" vor dem Haupttor. In diesem Jahr findet das "International Action Camp" vom 8. bis 18. Juli statt.

Gelegentlich dringen Friedensaktivisten in den Fliegerhorst ein, um irgendwelche Hangars mit Graffitis zu "verzieren" und Lieder zu singen. So konnten im Juli 2018 fünf oder sechs Friedensaktivisten insgesamt zweimal in den Luftwaffenstützpunkt eindringen, ihnen drohte daraufhin ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung und "gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr". Am 12. Dezember 2018 wurden die Atomkriegsgegner vom Amtsgericht in Cochem zu einer Geldstrafe verurteilt.

Schon vorher, im Sommer 2017, war der Friedensaktivist Gerd Büntzly aus Herford mit vier US-Amerikanern (u. a. Susan Crane und John LaForge) bei einem "Go-In" auf den Fliegerhorst eingedrungen: Bei ihrer Aktion hielten sich die fünf Atomgegner mehr als eine Stunde auf dem Dach eines Atombomben-Bunkers im Hochsicherheitsbereich auf. Als zwei Teilnehmer herabkletterten und das Wort "Disarm" (Abrüsten) auf das Stahltor schrieben, wurden sie von Bewegungsmeldern erfasst - und von Wachsoldaten in Gewahrsam genommen. Dafür verurteilte ihn das Amtsgericht Cochem im Januar 2018 zu einer Geldstrafe von 1200 Euro.

Am 16. Januar 2019 kam es zur Berufungsverhandlung vor Landgericht Koblenz unter dem Vorsitzenden Richter Martin Junker. Das Gericht verurteilte Büntzly zu einer abgemilderten Geldstrafe in Höhe von 750 Euro. Das Gericht warf dem Friedensaktivisten ausgerechnet Hausfriedensbruch vor. Immerhin ließ der Vorsitzende Richter wissen, er habe "ein gewisses Verständnis" für den Angeklagten und seine Beweggründe.

Die nächste Berufungsverhandlung in Sachen Büchel findet vor dem Landgericht Koblenz am 10. April 2019 statt. Die vier FriedensaktivistInnen von der Gruppe "Jugendnetzwerk für politische Aktionen" (Junepa) (David Haase, Ernst-Ludwig Iskenius, Katja Tempel und Karen W.) hatten mit fünf weiteren Personen (u. a. Clara Tempel und Ronja Bober) am 12. September 2016 die Landebahn mit Luftballons für mehr als eine Stunde besetzt. In der Zwischenzeit musste Clara Tempel von der Prozessgruppe "Wider§pruch", weil sie die Zahlung ihrer Geldstrafe aus politischen Gründen verweigerte, ab dem 21. März 2019 eine Ersatzfreiheitsstrafe von einer Woche in der JVA Hildesheim absitzen.

An den Protestaktionen und Aufklärungskampagnen sind verschiedene deutsche und internationale Organisationen beteiligt: Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen (GAAA), Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW), Friedensgruppe Daun, AG Frieden aus Völklingen, die Stop-Ramstein-Kampagne, die Quäker, die amerikanische NGO Nukewatch, etc..

Atomare Hochrüstung Russlands

Die NATO-Staaten begründen ihre nuklearen Rüstungspläne mit der aggressiven russischen Atomrüstung. Während die NATO seit dem Ende des Kalten Krieges ihre nationalen, amerikanischen, britischen und französischen Nuklearpotentiale in Europa auf ein Bruchteil erheblich reduziert haben, setzte die russische Regierung ihre Atomrüstung fort:

Am 9. November 1992 trat der Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) in Kraft. Er sah eine umfassende Reduzierung Abrüstung bei den Kampfpanzern, sonstigen Panzern, Artilleriesystemen, Hubschraubern und Kampfflugzeugen vor. Im Rahmen dieser Abrüstungsmaßnahme wurden rund 51.000 z. T. fabrikneue Waffensysteme verschrottet. Zwar ist der KSE-Vertrag - dem Namen nach - ein Abkommen zur Reduzierung der konventionellen Rüstung, allerdings sind viele Artilleriesysteme (Kanonen, Haubitzen und Panzerhaubitzen) nuklearfähig. Durch die Beseitigung dieser Waffensysteme trägt die Vereinbarung mittelbar auch zur Reduzierung der Atomgranaten bei. Allerdings setzte Russland am 14. Juli 2007 den KSE-Vertrag aus. Somit konnte Russland seine Rüstung bei den Artilleriesystemen wieder aufnehmen.

Außerdem hat die russische Regierung nach Ansicht der NATO gegen den INF-Vertrag (= Intermediate Nuclear Forces) zur Begrenzung der nuklearen Mittelstreckensysteme seit 2014 verstoßen. Das umfassende Rüstungskontrollabkommen war am 8. Dezember 1987 von dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow in Washington unterzeichnet worden. Es war der erste "Abrüstungsvertrag", der diesen Namen wirklich verdiente: Zum ersten Mal wurden alle atomaren Mittelstrecken-Trägersysteme zwischen den beiden damaligen "Supermächten" eliminiert. Dies betraf alle landgestützten Flugkörper (Raketen und Marschflugkörper) mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern in Europa.

Auf Seiten der US-Streitkräfte mussten insgesamt 846 Mittelstreckenflugkörpersysteme Pershing IIXR und BGM-109G Griffon verschrottet werden, auf Seiten der Sowjetunion wurden 1.846 Raketen der Typen RSD-10 Pionier (NATO-Bezeichnung SS-20), uralte Raketen R-12 Dvina (NATO-Code: SS-4 Sandal) und R-14 Chusovaya (NATO-Code: SS-5 Skean) sowie Marschflugkörper RK-55 Relief (NATO-Code: SSC-X-4 Slingshot) abgewrackt. Die letzte Rakete wurde im Mai 1991 demontiert.

Zu dem Abkommen war es gekommen, nachdem die NATO durch eine aggressive Atomrüstung mit Mittelstrecken-Flugkörpern die strategische Scheinstabilität zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion aus den Angeln gehoben hatte, indem sie in Deutschland Erstschlagwaffen wie die Pershing IIXR dislozierten, die - wie Nuklearkriegsplaner es nennen - über eine "time-urgent, hard-target, single-shot-kill-probabilibity" (SSKP) verfügten. Initiatoren für diese gefährliche NATO-Politik waren ausgerechnet die deutschen Sozialdemokraten unter ihrem damaligen Bundeskanzler Hauptmann a. D. Helmut Schmidt.

Kernstück der heutigen russischen Atomrüstung ist die Iskander-"Raketenfamilie". Unter diesem Namen figuriert eine Mehrzahl verschiedener Flugkörper mit höchst unterschiedlicher Reichweite (415 bis ca. 2.500 km). Durch die Stationierung verschiedener Iskander-Flugkörper in den letzten 25 Jahren in Westrussland, hat der Kreml das atomare "Gleichgewicht" in Europa aus den Angeln gehoben.

- 9K720 Iskander (NATO-Code: SS-26 Stone-A): Schon in den neunziger Jahren hatte die russische Regierung das Kurzstreckenraketensystem 9K720 Iskander (NATO-Code: SS-26 Stone-A) mit dem Raketentyp 9M720 und einer Reichweite von 415 km des Herstellers KBM Kolomna entwickelt.

- 9M723 Iskander-M: Auf Basis dieses Modells wurde das modernisierte System 9M723 Iskander-M 2006 bei den russischen Streitkräften eingeführt. Dessen Raketen 9M723 und 9M723TL erzielten eine Reichweite von 480 km. Allerdings hängt die faktische Reichweite vom Gewicht des mitgeführten Sprengkopfes ab - je leichter desto weiter. Manche Autoren befürchten, dass die Reichweite der Rakete möglicherweise die 500-km-Marke überschreitet und damit unter das INF-Verbot fällt. So steht für die Raketen 9M723 eine Auswahl an Gefechtsköpfen zur Verfügung: Splittergefechtskopf, Streumunition, Panzerminen, FAE-Brandbombe, Penetrationsgefechtskopf gegen verbunkerte Punktziele, Atomgefechtskopf AA-86 mit einer variablen Sprengkraft von 5 bis 50 KT, Atomgefechtskopf AA-92 mit einer variablen Sprengkraft von 100 bis 200 KT, NEMP-Sprengsatz. Aufgrund der Raketenreichweite können mit diesem System - aus dem Stand - auch Ziele in der BRD getroffen werden.

Das Raketensystem Iskander-M ist seit Dezember 2014 auch in Pavenkovo in der Exklave Kaliningrad an der Grenze zu Polen stationiert. Im Oktober 2016 wurden die Stellungen anscheinend weiter ausgebaut. Spätestens seit Anfang 2018 sind die Iskander-Raketen bei Kaliningrad auch mit Atomsprengköpfen ausgerüstet. Dazu wurde das lokale Atomwaffendepot nordwestlich von Kaliningrad 2016-18 ausgebaut. Der eingezäunte Komplex besteht aus drei Bunkern, die nochmals von jeweils drei (Elektro-)Zäunen umgeben sind. Außerdem wurde der Flugkörper im Dezember 2016 bei der 152. Garde-Raketenbrigade der Baltischen Rotbannerflotte in Tschernjachowsk (vormals Insterburg) bei Kaliningrad eingeführt. Der dortige Bestand ist im Februar 2018 ausgebaut worden.

Seit Dezember 2015 ist Iskander-M zusätzlich bei der 26. Raketenbrigade in Ust-Luga bei Sankt Petersburg stationiert. Möglicherweise wurde das Waffensystem seit Mai 2014 auch auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim disloziert.

- 9M728 Iskander-Krylataya (NATO-Code: SSC-7 oder SS-26 Stone-C): Ein weiteres Flugkörpersystem ist 9M728 Iskander-Krylataya (NATO-Code: SSC-7 oder SS-26 Stone-C). Dieses System verschießt den Marschflugkörper 9M728 (andere Bezeichnung: R-500) (NATO-Code: SS-C-7) mit einer Reichweite von ca. 500 km und einer Treffgenauigkeit von 30 Metern. Die Rakete wurde ab dem 29. Mai 2007 erprobt und ab 2009 bei den Streitkräften eingeführt. Dieser Flugkörper kann auch mit dem System Iskander-M verschossen werden. Trotz des möglichen INF-Verstoßes spielt der Flugkörper in der amerikanisch-russischen Kontroverse z. Zt. nur eine untergeordnete Rolle.

- 9M729 Iskander-Krylataya (NATO-Code: SSC-8 Screwdriver): Entgegen den bilateralen Rüstungskontrollvereinbarungen entwickelten die russischen Streitkräfte das modernisierte und reichweitengesteigerte Mittelstreckenflugkörpersystem 9M729 Iskander-Krylataya (NATO-Code: SSC-8 Screwdriver). Mit diesem System lassen sich namentlich nicht bekannte Marschflugkörper mit einer Schussweite zwischen 480 und 2.600 km abfeuern, die auf Basis des maritimen Marschflugkörpers 3M14 Kalibr (NATO-Code: SS-N-30) entwickelt wurden. Mit ihren technischen "Qualitäten" sind die neuen landgestützten Marschflugkörper quasi das Nachfolgemodell für die alten Marschflugkörper RK-55 Relief aus den 80er-Jahren, die durch den INF-Vertrag verboten wurden. Darüber hinaus kann das System auch den Marschflugkörper R-500 des Systems 9M728 abfeuern. Eine Batterie besteht aus einem mobilen Startfahrzeug MZKT-7930 Astrolog (8x8) und insgesamt vier bis sechs Marschflugkörpern, die in Behältern auf Lastwagen lagern. Jedes Bataillon verfügt über insgesamt vier Batterien.

Die Entwicklung des neuen Systems soll spätestens 2008 begonnen haben, der Erstflug des Prototypen SSC-X-8 fand 2014/15 statt. Bereits mehrere Bataillone mit insgesamt 64 Flugkörpern waren bis Anfang 2019 mit dem neuen System ausgerüstet, darunter der 630. Raketenverband in Kapustin Jar. Zwar erlaubt das INF-Abkommen - in begrenztem Umfang - Waffentests, aber mit der Einführung der SSC-8 bei der Truppe hat die russische Regierung gegen das INF-Abkommen verstoßen. (https://www.milfors.de/Atomr.ue.stung-d--D-e2-j%E0-vu-im-Mittelstreckenbereich.htm)

- Sonstige: In einer Parlamentsrede am 19. Dezember 2018 drohte der russische Präsident mit der Einführung weiterer atomarer Mittelstreckensysteme. Einen Tag später warnte Putin auf der Jahrespressekonferenz im gleichen Atemzug vor der wachsenden Gefahr eines Atomkrieges: "Wenn, Gott verhüte, so etwas passiert, kann das zur Vernichtung der ganzen Zivilisation führen, wenn nicht des ganzen Planeten."

Am 2. Februar 2019 kündigte Präsident Wladimir Putin den Bau einer neuen Hyperschall-Mittelstreckenrakete an. Am 5. Februar 2019 verkündete der russische Verteidigungsminister General Sergej Schoigu den Bau einer neuen Mittelstreckenrakete innerhalb von zwei Jahren: "Jetzt kommt es darauf an, die Reichweite der heute zu entwickelnden bodengestützten Raketensysteme zu erhöhen."

US-Atomrüstung

Die Modernisierung des US-Atombombenarsenals in Europa durch Einführung der B61-12 ist zunächst einmal darauf zurückzuführen, dass Atomwaffen aufgrund des permanenten spontanen radioaktiven Zerfalls der Kernladung nur eine technisch begrenzte Lebensdauer von vielleicht 15 bis 20 Jahren haben. Dann müssen die alten Waffen durch neue Waffen ersetzt werden. Statt die alten Bomben durch neue Bomben desselben Typs zu ersetzen, nutzen die Militärs diesen Austausch gerne, um einen alten Atomwaffentypen durch einen moderneren Typ zu ersetzen. Dies betrifft auch die bevorstehende Einführung der B61-12. Allerdings war das Ausmaß der Modernisierung der B61-Bomben, das von der US-Regierung als bloßes "Lebensverlängerungsprogramm" (Life Extension Program - LEP) propagiert wurde, in den USA höchst umstritten. Daher kam die russische Hochrüstung in Europa der US-Regierung als zusätzliches Argument für die Durchführung des Programms gelegen.

Außer der Stationierung der B61-12-Bombe hatte die US-Regierung keine weiteren unmittelbaren Gegenmaßnahmen geplant. Nur vereinzelt gab es Stimmen, die eine neue (atomare) "Nachrüstung" forderten, so Michael Gahler (CDU), sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament. Aber auch Gahler warnte: "Heute ist die Situation viel weniger berechenbar als zu Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses."

Aber am 1. Februar 2019 kündigte die US-Regierung das INF-Abkommen zum 31. Juli /1. August auf. Angesichts der russischen Rüstungsanstrengungen hat der amerikanische Kongress inzwischen Gegenreaktionen gefordert. Es solle innerhalb eines Jahres ein eigener landgestützter, mobiler, konventioneller oder nuklearwaffenfähiger Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 5500 Kilometern entwickelt und erprobt werden. Anscheinend plant das Pentagon die Entwicklung eines bodengestützten Marschflugkörpers mit Mittelstrecken-Reichweite als Nachfolger für den alten BGM-109G Griffon aus den achtziger Jahren. Die ersten Arbeiten dazu haben anscheinend bereits Ende 2017 begonnen. Der Bundesnachrichtendienst geht davon aus, dass es mindestens fünf Jahre dauern wird, bis ein neuer Marschflugkörper einsatzbereit wäre. (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/inf-abruestungsvertrag-neue-us-marschflugkoerper-in-europa-nicht-vor-2023-a-1242560.html)

Die Sprecherin des Pentagon, Oberstleutnant Michelle Baldanza, erklärte am 11. März 2019: "We will commence fabrication activities on components to support developmental testing of these systems - activities that until February 2 would have been inconsistent with our obligations under the treaty. (…) Because the United States has scrupulously complied with its obligations with the INF Treaty, these programs are in the early stages." Außerdem fügte sie hinzu, dass die US-Anstrengungen "conventional only - not nuclear" wären. Allerdings ist diese Zusatzbemerkung fragwürdig, da es beim INF-Abkommen - dem Namen und Inhalt nach - ausschließlich um Atomwaffen geht.

Es sei beabsichtigt, das System "zum Schutz der NATO-Verbündeten" in Europa zu stationieren. Sollte das in Westeuropa nicht möglich sein, müsse, so heißt es in Washington, ein Aufbau der Raketen in Osteuropa erwogen werden. Hier gilt es die weitere Entwicklung abzuwarten.

In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass die US-Marine eine landgestützte Version ihres AEGIS-Systems mit den Flugkörperstartgeräten Mk 41 Vertical Launching System (VLS) entwickelt hat. Dieses ist seit 2015 in Deveselu (Rumänien) und seit 2018 in Redzikovo (Polen) disloziert. Eigentlich sind die Abschusskanister für die Anti-Raketen-Raketen Raytheon RIM-161 Standard Missile SM-3 Block 1B/IIA vorgesehen, aber - nach Angaben des Herstellers - könnten aus diesen Rohren - aufgrund der ähnlichen äußeren Abmessungen - auch Marschflugkörper vom Typ Raytheon RGM-109 Tomahawk abgefeuert werden. Jeweils 24 Kanister sind zu einer Abschussbox zusammengefasst. Das System ist auch unter der Bezeichnung "AEGIS Ashore" bekannt. Der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz forderte bereits im Februar 2019 die Stationierung (neuer) amerikanischer Atomraketen in Europa.

US-Stratege Elbridge A. Colby kritisierte die Zusammensetzung des US-Atomarsenals und forderte im November 2018 in der Zeitschrift "Foreign Affairs" die Entwicklung neuer, taktischer Mininukes, um einen begrenzten Atomkrieg in Europa oder Fernost führen zu können:

This arsenal, designed to inflict unimaginable damage in an apocalyptic war, is necessary to deter the gravest forms of attack. But threatening to use such weapons in a limited war in defense of allies thousands of miles from U.S. shores is just too extreme to be convincing and therefore unlikely to work.
Instead, the United States needs weapons systems that can bridge the wide gulf between conventional and all-out nuclear war. In particular, Washington should step up its efforts to develop low-yield tactical nuclear weapons and associated strategies that could help blunt or defeat a Russian or Chinese attack on U.S. allies without provoking a nuclear apocalypse. (…)
Russia has spent much of its limited money building a modern and varied nuclear weapons arsenal. Much of this arsenal is designed to attack specific military targets rather than to wipe out major cities in one fell swoop. For instance, Russia fields a substantial number of naval nuclear weapons, including antiship cruise missiles, nuclear torpedoes, and nuclear depth charges. As Russian exercises and military journals suggest, the idea behind Moscow’s nuclear strategy is to use tailored nuclear weapons to settle a war on Russia’s terms, gambling that going nuclear will intimidate the United States into backing down—a strategy known as "escalate to de-escalate." (…)
But the United States should go further and specifically develop or adapt a modest number of nuclear weapons and delivery systems that could damage key Russian or Chinese conventional targets, especially those needed for an invasion of the Baltics or Taiwan: entrenched ground forces, maneuver troops, naval flotillas, and invasion fleets. The new weapons would need lower yields than most of those in the current arsenal, which have been optimized to destroy hardened silos sheltering enemy missiles, not to stop conventional forces.

Elbridge A. Colby

Während man sich innerhalb der NATO bzgl. der Bewertung der russischen Atomrüstung am 1. Februar 2019 einig war, war dies am 5. Februar 2019 innerhalb der EU nicht möglich, da Zypern ein Veto einlegten.

Kriegsgefahr in Europa?

Die US-Streitkräfte haben von 7200 Atomwaffen in den achtziger Jahren noch 100 bis 200 US-Atombomben in Europa stationiert. Frankreich hat sein Arsenal - inklusive der Atom-U-Boote - von 540 Stück im Jahr 1990 auf 300 Sprengköpfe reduziert. Großbritannien verfügt heute - inklusive der Atom-U-Boote - noch über insgesamt 215 Sprengköpfe. (https://www.sipri.org/sites/default/files/2017-06/fs_1707_wnf.pdf)

Während so auf Seiten der NATO - mit den strategischen Atom-U-Boote - 615 bis 715 Atomsprengkörper verblieben ist, kann Russland eine Vielzahl taktischer Atomwaffensysteme aufbieten. Sein Arsenal an taktischen Atomwaffen - also ohne die strategische Atom-U-Boote - beträgt z. Zt. ca. 1.850 Stück. Allerdings sind diese über den europäischen und den asiatischen Landesteil verteilt, so dass man die Atomwaffen im Osten rausrechnen müsste. Wichtige Atomwaffendepots im Westteil Russland sind Belgorod-22, Bryansk-18, Mozhaysk-10, Olenogorsk-2, Vologda-20 und Voroneszh-45. Der hohe Nuklearbestand ist darauf zurückzuführen, dass die russische Generalität immer noch auf eine große Zahl nuklearer Artilleriesysteme, Gravitationsbomben und Schiffswaffen unterschiedlichen Typs setzt, während die NATO längst auf konventionelle, präzisionsgesteuerte Munition umgerüstet hat.

Von der atomaren Rüstung geht immer ein besonderes Risiko aus. So könnte die US-Regierung - wie in den achtziger Jahren - darauf spekulieren, dass sich ein Atomkrieg auf (Zentral-)Europa regional begrenzen ließe, was am wenigsten im Interesse der Europäer wäre. Aufgrund ihrer atomaren "Überlegenheit" bei den regionalen Atomwaffen könnte auch die russische Regierung versucht sein, einen potentiellen Atomkrieg auf Europa zu begrenzen. So könnten die russischen Streitkräfte eine begrenzte Stückzahl möglichst kleiner Atomwaffen gezielt in Europa einsetzen, um ihre - wie auch immer gearteten - Kriegsziele durchzusetzen, während die US-Regierung im fernen Washington vor einer atomaren Eskalation zurückschreckt. Militärexperten sprechen hier vor einer "escalate-to deescalate"-Strategie. Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass der Kreml im Falle einer inneren (Wirtschafts-)Krise einen Konflikt mit einem Nachbarstaat provoziert, um durch Externalisierung und mittels national-patriotischer Propaganda die Probleme im Inneren vorübergehend zu kanalisieren. Eskalation nicht ausgeschlossen.

Anders als in den achtziger Jahren ist ein Erstschlag oder Enthauptungsschlag (decapitation strike) mit den gegenwärtigen landgestützten US-Atomwaffen in Europa weder zahlenmäßig noch von den Waffenparametern der vorhandenen Systeme her möglich. Eine akute Nuklearkrise, wie in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1983 während der NATO-Stabsrahmenübung ABLE ARCHER, als die sowjetischen Streitkräfte im Rahmen der Operation RAKETNO-JADERNOJE NAPADENIJE (RYAN) ihre Atomwaffensysteme in der damaligen DDR, Polen und in Westrussland in Gefechtsbereitschaft versetzten, um die Bundesrepublik in Feinstaub zu verwandeln, ist daher unwahrscheinlich (Neue Dokumente zu ABLE ARCHER).

Andererseits wird durch die zunehmende Hybridisierung der Kriegführung das operative-militärische Geschehen immer komplizierter, weniger überschaubar und damit weniger vorhersehbar und kontrollierbar. Dies wiederum steigert die Gefahr eines "irrtümlichen" Atomkrieges. In dem Fall kann man nur hoffen, dass möglichst alle Waffensysteme nicht einsatzbereit sind. Insofern ist die Bundeswehr unter Ursula von der Leyen auf einem guten Wege.