COVID-19 - Die Suche nach den richtigen Maßnahmen
Seite 2: Die Copy-And-Paste-Politik in den Entwicklungs- und Schwellenländern
- COVID-19 - Die Suche nach den richtigen Maßnahmen
- Die Copy-And-Paste-Politik in den Entwicklungs- und Schwellenländern
- Maßnahmen zur Eindämmung schlimmer als die Krankheit selbst?
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Der Fokus der westlichen Medien richtet sich derzeit auf Europa und auf die USA. Dabei bietet sich in wirtschaftlich schwach entwickelten Ländern des globalen Südens ein nicht minder dramatisches Bild. Dieses blieb allerdings bis dato weniger der Coronavirus-Erkrankung geschuldet, sondern vielmehr den Notmaßnahmen, die die Pandemie hätten eindämmen sollen.
Ein Streifzug durch die Schlagzeilen der letzten Tage offenbart eine geradezu apokalyptische Stimmung. Händler sehen in Senegals Hauptstadt Dakar fassungslos zu, wie Planierraupen Nachbarschafsmärkte nivellieren, um Käufer und Verkäufer an der Gruppenbildung zu hindern. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in Afrika südlich der Sahara, wie auch in Mittel- und Südamerika, am indischen Subkontinent und in weiten Teilen Südostasiens arbeitet im informellen Sektor, lebt von der Hand in den Mund, von weniger als 3 US-Dollar am Tag.
Werden diese Menschen ihres Tagelohns beraubt, gehen sie und ihre Familien bereits am selben Abend hungrig zu Bett. Sie leben auf engstem Raum in Holz -und Wellblechverschlägen, Social Distancing ist für sie Luxus. In Senegal, einem Land, in dem die meisten Menschen keinen Zugang zum sauberen Wasser haben, demonstriert im Staatsfernsehen Präsident Macky Sall in seinem luxuriösen Badezimmer, wie man sich Hände richtig wäscht.
In Nairobi schießt die Polizei auf Menschen, die Ausgangssperren missachten und tötet dabei einen 13-jährigen Jungen auf dem Balkon seines Hauses. Irungu Houghton von Amnesty International spricht in Al Jazeera von unangemessenen Maßnahmen und sagt, dass es in Kenia bisher mehr Tote infolge von Polizeigewalt gab als durch COVID-19. In Gambia und Simbabwe reißen COVID-19-Patienten aus Quarantäne-Stationen der lokalen Spitäler aus.
In Nigerias Hauptstadt Abuja und in der Wirtschaftsmetropole Lagos sind nach der Einführung von Ausgangssperren die Regierungsgebäude verweist, während sich auf den Straßen und Märkten Menschenmassen tummeln. Über die Hälfte der Nigerianer lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Angesprochen auf die Ausgangsbeschränkungen, meint ein Straßenhändler in die Kamera des BBC-Reportes: "Wenn es so etwas wie das Coronavirus gibt, dann ist es für die Reichen und nicht für uns Arme. Wir sind freie Menschen und wir werden unser freies Leben weiterleben. This is their business."
Die Sammeltaxis sind voll, es gibt weder Masken, noch sanitäre Anlagen. In ganz Nigeria, mit knapp 200 Millionen Einwohnern dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, gibt es nur vier Labors, die Corona-Tests durchführen können, Intensivbetten sind rar. Sollten Straßenmärkte von Lagos bis Nairobi wie bisher voller Menschen bleiben, wird sich das Virus ungehindert ausbreiten. Sollten sie hingegen polizeilich gesperrt werden, bedeutet das für Millionen Menschen Hunger und Revolte.
In der Elfenbeinküste, wo ebenfalls strenge Ausgangsbeschränkungen gelten, verbrennen wütende Anrainer aus Angst vor Ansteckung ein Corona-Testlabor in ihrer Nachbarschaft, es kommt zu blutigen Unruhen auf den Straßen der Wirtschaftsmetropole Abidjan. Wie in vielen dysfunktionalen Staaten der Region haben die Menschen wenig Vertrauen in ihre Regierung.
In Südafrika feuert die Polizei Gummigeschoße und Tränengasgranaten auf medizinisches Personal, das gegen Mangel an Schutzausrüstung in ihren Spitälern protestiert.
Zigtausende afghanische Arbeitsmigranten und Flüchtlinge haben in den letzten Wochen panikartig Iran verlassen und sind in ihr Land zurückgekehrt, nachdem sich das Virus im Gastland rasant ausgebreitet hatte und das öffentliche Leben zum Stillstand brachte. Ihrer Jobs und Behausungen beraubt, verharren sie nun in Auffanglagern an der Grenze. In der an Iran angrenzenden Provinz Herat wurden die ersten COVID-19-Fälle bereits Mitte März gemeldet.
In Indien, mit 1,3 Milliarden Menschen der "größten Demokratie der Welt", verhängte Premierminister Narendra Modi am 23. März buchstäblich über Nacht den größten Lockdown der Geschichte. Daraufhin kollabierte die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln für die Ärmsten. Bilder von Polizisten, die mit ihren Schlagstöcken Hausfrauen von der Straße und von Märkten nach Hause prügelten oder von Quarantänebrechern, die zur Strafe Liegestütze vorexerzieren mussten, gingen um die Welt.
Millionen Wanderarbeiter verloren über Nacht ihre Jobs und ihre Werksquartiere. Ein Massenexodus von verarmten urbanen Slumbewohnern war die Folge. Nachdem alle Bus- und Eisenbahnverbindungen annulliert wurden, durchqueren nun lange Trecks von Frauen, Männern und Kindern zu Fuß das Land, um in ihre Dörfer zurück zu gelangen. Unzählige Menschen wurden von vorbeifahrenden Lkws erfasst und getötet oder sind auf dem Weg an Hunger und Erschöpfung verstorben.
Über 90 Millionen indischer Familien leben in Haushalten mit nur einem Raum. Was Ausgangssperren für diese Menschen bedeuten, lässt sich nur schwer erahnen. Die Testraten auf das Coronavirus im Land sind sehr niedrig, Indien gibt für sein Gesundheitswesen lediglich 2% des Bruttoinlandprodukts aus. Nun bekommt das medizinische Personal obendrein den Unmut der Bevölkerung zu spüren. Viele Ärzte und Krankenschwestern werden auf der Straße angepöbelt oder aus ihren Wohnungen rausgeworfen. Die indische Journalistin und Washington Post-Kolumnistin Barkha Dutt, zitiert Personen, die sie auf ihren Fußmärschen interviewte: "Bevor wir am Coronavirus sterben, wird uns die Armut töten."
Im benachbarten Bangladesch mit einer Bevölkerung von über 160 Millionen Menschen wurden bisher nur 3000 Tests durchgeführt. Viele Kliniken weisen schwer Kranke ab oder sperrten einfach zu, das medizinische Personal suchte aus Angst vor der Ansteckung das Weite, was den Gesundheitsminister dazu veranlasste, an die Moral und Behandlungspflicht der Ärzte zu appellieren.
Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte kündigte an, Verweigerer der Ausgangsperre zu erschießen. In einer Fernsehansprache drohte er: "Statt Ärger zu machen, werdet ihr von mir ins Grab geschickt." Die Shoot-to-Kill-Richtlinie gilt den in ihren Elendsquartieren eingesperrten Armen, die von der Regierung bisher keinerlei Lebensmittelhilfe erhalten haben.
Mit Placebo gegen das Virus
Staatshilfe für breite Massen, ob Lebensmittelrationen oder Rettungsschirme für Kleinunternehmen, ist illusorisch. Dafür sieht man in allen Entwicklungs- und Schwellenländern überall dasselbe Bild: Ghostbuster-ähnliche Gestalten in weißen Schutzanzügen, Tank-LKWs, Feuerwehrautos oder Drohnen desinfizieren mit Benzalkoniumchlorid den öffentlichen Raum, Oberflächen und die Luft. In Indien werden am Boden hockende Wanderarbeiter wie lästige Mosquitos aus Wasserschläuchen mit der Chemikalienmischung abgesprüht. Dabei sind diese Maßnahmen aus wissenschaftlicher Sicht vollkommen sinnlos. Weder finden sich COVID-19-Erreger auf Gehsteigen oder Straßen, noch ist die Übertragung der Coronaviren durch Schmierinfektionen wahrscheinlich.
Dale Fisher, ein Epidemiologe aus Singapur, der für die WHO arbeitet, bezeichnet diese Methoden als "lächerlich". Es bringe nichts und könne für die Menschen toxisch sein, wird er von Reuters zitiert. Das Virus zerstreue sich in der Luft, niemand berühre ja den Boden. Einhellig bezeichnen Experten diese Vorgehensweise als reinen Aktionismus und Populismus, da die eingesetzten Mittel für Haut, Augen und Schleimhäute schädlich sind. Leong Hoe Nam, ein Infektiologe aus Singapur, meint, die Massendesinfektion sei bloß Effekthascherei und könne bestenfalls die Moral steigern, in Virusbekämpfung habe sie aber keinen Platz. "Es wäre besser, eine Wasserkanone einzusetzen, um Menschen von den Straßen in ihre Häuser zu verbannen."
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