COVID-19 - Die Suche nach den richtigen Maßnahmen

WHO lehrt richtiges Händewaschen im Jemen. Bild: UNICEF/Gabreez

Sollten Straßenmärkte von Lagos bis Nairobi wie bisher voller Menschen bleiben, wird sich das Virus ungehindert ausbreiten. Sollten sie polizeilich gesperrt werden, bedeutet das für Millionen Menschen Hunger und Revolte

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Der weltweite medizinische Notstand bedingt durch die SARS-CoV-2- Pandemie offenbart einerseits die globale wirtschaftliche Interdependenz, entblößt auf der anderen Seite tiefe Gräben und Disparitäten zwischen den wirtschaftlich entwickelten Staaten des reichen Westens und jenen des armen Südens. Gleichzeitig erleben wir gerade, welche Konsequenzen Einsparungen in den Sozial-und Gesundheitssystemen hochindustrialisierter Staaten wie der USA, Großbritanniens oder Italiens im Krisenfall zur Folge haben können.

China, das in der breiten Öffentlichkeit des Westens lange Zeit unterschätzt, belächelt und noch vor wenigen Monaten für seine Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Epidemie - Stichworte: Überwachungsstaat, Einschränkung persönlicher Freiheiten - heftig kritisiert wurde, bewies einen hohen Grad an Organisation und Effizienz und präsentiert sich nun als strahlender Sieger und Helfer in Not. Gleichzeitig schlittern die USA mit ihrem maroden Gesundheitssystem, der mächtigen Wirtschaftslobby, welche die Politik des Weißen Hauses vor sich hertreibt und mit dem ausgeprägten Föderalismus immer tiefer ins Chaos.

Allgegenwärtige Angst in der Bevölkerung und das Gemeinschaftsgefühl ermöglichen es westlichen Regierungen, bedeutende Teile ihrer Wirtschaft zu opfern, um möglichst vielen Bürgern eine Spitalsversorgung auf hohem Niveau zu gewährleisten und vor allem Risikogruppen, also Menschen mit Begleiterkrankungen sowie Ältere, vor Ansteckung zu bewahren. Dabei geht es darum, die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen und zu kontrollieren. Letztendlich wird man mit dieser Methode den Erreger in den kommenden Jahren vermutlich nicht aus der Welt schaffen können, eine Impfung ist, entgegen allen Medienspekulationen, noch lange nicht in Sicht. Man rechnet mit einer Selbstlimitierung der Ausbreitung durch langsame Durchseuchung, also auf eine kontrollierte "Herdenimmunität".

Diese Maßnahmen trafen bislang auf eine hohe Zustimmung und Konsens in der Bevölkerung. Oft hört man das Argument: Menschen, die am Aufbau unseres Wohlstands mitgewirkt haben, würden es verdienen, nun geschützt zu werden. In den hochkomplexen und kostenintensiven Gesundheitssystemen westlicher Industriestaaten hat sich die Altersgrenze für lebensrettende -oder erhaltende medizinische Eingriffe und Behandlungen in den letzten Jahrzehnten deutlich nach hinten verschoben. Die Lebenserwartung ist gestiegen, die Menschen bleiben bis ins hohe Alter aktiv.

Selbst falls die Kollateralschäden infolge der gesetzten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, wie etwa der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit, Verarmung, Depression und Suizide, beträchtlich sein sollten, werden dank diverser Corona-Rettungspakete die meisten Betroffenen von den bestehenden bzw. neu eingerichteten Hilfsnetzen aufgefangen.

Der nordische Sonderweg

Zunächst versuchten Großbritannien, die Niederlande und Schweden, mit ihrem nordischen Hang zur Rationalität und mit Blick auf die eigene Wirtschaft einen Sonderweg zu gehen. Boris Johnson, der niederländische Premier Mark Rutte und die schwedische Regierung unter Stefan Löfven, sie alle setzten auf die "Herdenimmunität". Allerdings sollte diese rasch aufgebaut werden.

Die Idee dahinter ist, dass sich der widerstandsfähige Teil, also vor allem die Jüngeren und Gesunden anstecken sollen, um so, dank Ausbildung von Immunität, den schwächeren Teil der Gesellschaft, also Ältere und Schwächere zu schützen. Letztere sollten demnach streng isoliert bleiben. Dazu müssten sich allerdings mindestens 70 Prozent der Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus infizieren. "Die Realität ist, dass in der kommenden Zeit ein großer Teil der niederländischen Bevölkerung mit dem Virus infiziert sein wird", sagte Rutte noch vor wenigen Wochen.

Während Johnson bald auf Druck von Experten, die vor mehreren hunderttausend intensivpflichtiger Patienten warnten, die das marode Gesundheitssystem NHS rasch überfordern würden und vor möglicherweise ebenso vielen Toten, zurückruderte und Ausgangsbeschränkungen verhängte, wurden in den Niederlanden die Maßnahmen nur langsam und schrittweise verschärft, was von der Opposition kritisiert wurde. "Viele Niederländer fühlen sich, als seien sie Teil eines großen Experiments", sagte Lodwijk Asscher, Chef der Sozialdemokraten. Mittlerweile sind die Fall- und Todeszahlen stark angestiegen, Schulen, Restaurants, Museen und Cafés bleiben geschlossen und öffentliche Veranstaltungen sind verboten.

Am Ende blieb in Europa neben Belarus, wo man von offizieller Seite das Coronavirus einfach ignoriert, nur mehr Schweden mit seinem Sonderweg. Die schwedische Regierung setzte bis zuletzt auf Empfehlungen, Appelle und Aufklärung statt auf Verbote. Händewaschen ist geboten und unnötige soziale Kontakte sind zu vermeiden, dies galt vor allem für ältere Menschen. Die meisten Schulen und Kindergärten blieben offen, ebenso wie Restaurants und Cafés, eingeführt wurden lediglich Abstandsregelungen. Erst vor zwei Wochen wurde die zulässige Personenanzahl bei Veranstaltungen von höchstens 500 auf 50 reduziert, Sportvereine haben ihre Trainings ins Freie verlegt.

Über 2000 schwedische Ärzte, Professoren und Wissenschaftler unterschrieben derweil einen offenen Brief, in dem die offizielle Linie der Regierung in Frage gestellt und die Einführung strenger Ausgangsbeschränkungen eingefordert wird. "Wir führen nicht genug Tests durch, Kontakte werden nicht getrackt, wir isolieren nicht. Wir erlauben dem Virus, sich frei auszubreiten. Sie führen uns in Richtung einer Katastrophe", tobte etwa Professor Cecilia Söderberg-Nauclér, eine Spezialistin in Sachen Viren-Immunität vom Karolinska Institut.

Die Regierung folgt der Linie der Schwedischen Agentur für Öffentliche Gesundheit in Person ihres Chef-Epidemiologen Anders Tegnell "blind", wie Professor Söderberg-Nauclér sagte. Dessen ungeachtet hatte die Regierung große Teile der Bevölkerung und der Ärzteschaft bisher hinter sich.

Österreich, ein Land mit einer ähnlichen Bevölkerungszahl wie Schweden, hatte angesichts der dramatischen Lage im benachbarten Norditalien und steigender COVID-19-Fälle in Tirol bereits vor vier Wochen strenge Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen erlassen. Auffällig dabei ist, dass es in Schweden mehr als doppelt so viele Sterbefälle in Verbindung mit dem Coronavirus gibt als in Österreich. Während sich die Kurve der Neuinfektionen in Österreich abgeflacht hat und die Zahl der intensivpflichtigen Patienten und der Toten auf einem niedrigen Niveau stagniert, steigen die Zahlen in Schweden weiter an und die schwedische Regierung überlegt nun einen Kurswechsel.

Verschärft wird die Situation durch die Tatsache, dass das schwedische Gesundheitssystem durch Einsparungen der letzten Jahrzehnte stark ausgedünnt wurde. Um den Vergleich mit Österreich wieder zu bemühen: Während in der Alpenrepublik 28,9 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner zur Verfügung stehen, sind es in Schweden gerade mal 5,9. In Österreich liegen derzeit rund 240 COVID-19 Patienten auf Intensivstationen und es gibt noch genügend Reserven. Die Kapazitäten auf den Intensivstationen der Region Stockholm sind bereits ausgeschöpft und die Lage spitzt sich weiter zu. Das schwedische "Experiment" dürfte sich dem Ende nähern.

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