Chemnitz - ein halbes Jahr nach den Ausschreitungen

Seite 3: Stehen wir vor einem neuen Faschismus?

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Sehen Sie die Gefahr, dass wir vor einem neuen Faschismus stehen?

Tim Detzner: Ich selbst engagiere mich seit über zwanzig Jahren im antifaschistischen Spektrum und beobachte die Entwicklung hier in Chemnitz und im Umland intensiv. Natürlich ist es so, dass man immer wieder Angst kriegt und sich gerade in den letzten Jahren Sorgen macht, wo die gesellschaftliche Entwicklung hin geht. Denn man merkt, dass das, was in den 1990er Jahren straff organisierte relativ kleine Gruppen von Neonazis gemacht und gesagt haben, inzwischen ziemlich weit in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Dass sogenannte ganz normale Menschen inzwischen menschenverachtende und rassistische Sprüche im Alltag, offen auf der Straße, im Kollegium und überall bringen können, ohne dass es einen Aufschrei gibt, das gibt einem schon sehr zu denken.

Antidemokratisches Denken rückt in die Mitte der Gesellschaft. Das merkt man auch bei Phänomenen wie der AfD und Pro Chemnitz, die ja auch personell sehr stark aus dem Fleisch der CDU kommt. Wir haben hier in der Region seit der Wende eine CDU-Mehrheit im Parlament. Seit 1990 wird Demokratie immer argwöhnisch betrachtet. Zivilgesellschaft wird immer eher beschränkt und beschnitten. Unberechenbarer Protest auf der Straße ist für die Konservativen in Sachsen immer eher eine Gefahr und damit ist aus meiner Sicht ganz klar, dass es hier wirklich Demokratie-Defizite gibt, die nie wirklich bearbeitet wurden. Und das sind Entwicklungen, die den Aufstieg der populistischen Rechten begünstigen.

Müssen Sie als bekannter Linker in der Stadt Angst haben, vor allem auch abends und nachts?

Tim Detzner: Es gibt immer wieder Übergriffe. Das Büro unserer Landtagsabgeordneten Frau Schaper im Stadtteil Sonnenberg ist schon 27 Mal angegriffen worden, bis der Vermieter dann gekündigt hat. Wir haben ein anderes Abgeordneten-Büro in der Innenstadt, das im letzten Jahr allein drei Mal angegriffen wurde. Es gab auch schon Bedrohungen von Familien und Kindern unserer Abgeordneten.

Wie wurden die bedroht?

Tim Detzner: Mit Briefen und Anrufen.

Wie schützen Sie sich?

A. Ich glaube das einzige was man tun kann, ist, wachsam zu sein aber die Angst möglichst auszublenden. Wir wollen uns nicht einschüchtern lassen.

"Die Industrieregion Chemnitz/Zwickau ist in hohem Maße auf Zuwanderung angewiesen"

Manche sagen, Deutschland könne nicht die ganze Welt aufnehmen.

Tim Detzner: Natürlich kann Europa nicht die ganze Welt aufnehmen. Aber das ist ja auch faktisch gar nicht so. Nur fünf Prozent der Menschen, die weltweit unterwegs sind, suchen tatsächlich außerhalb der Region Zuflucht. Auch im Syrien-Konflikt ist es so, dass der absolut überwiegende Teil der Flüchtlinge in den umliegenden Ländern, Libanon, Jordanien und Türkei Unterschlupf findet und nur ein kleiner Teil nach Europa kommt. Asylrecht ist ein Grundrecht, das wir einfach schützen müssen.

Erkennen die Bürger dieser Region die Partei Die Linke, die SPD und Teile der Grünen als Schützer ihrer sozialen Interessen an. Oder sagen die Bürger, diese Parteien haben für uns nichts gemacht in den letzten 25 Jahren? Was sagen Sie zu Äußerungen wie: "Wir sind immer mehr an den Rand gedrängt worden und jetzt kommen auch noch diese Migranten. Wer schützt uns davor, dass wir noch weiter absteigen?"

Tim Detzner: Chemnitz ist traditionell eine Arbeiterstadt, eine rote Stadt. Wir haben eine rot-rot-grüne Mehrheit im Stadtrat. Ich glaube nicht, dass das das Problem ist. Es wird schon wahrgenommen, dass sich die Parteien links von der CDU durchaus für die Interessen der Menschen einsetzen und sich um die sozialen Ängste der Menschen kümmern und die Probleme in dieser Stadt auch angegangen haben. Zum Teil fühlen sich die Menschen trotzdem von dem gesellschaftlichen Wohlstand abgekoppelt.

Ist es nicht so, dass die Chancen aufzusteigen und sich sozial zu verbessern in Ostdeutschland generell schlechter sind als in Westdeutschland? Kann das nicht auch ein Grund sein, warum viele Menschen einfach nervös werden, wenn sie sehen dass neue Menschen, neue Arbeitskräfte kommen, die noch billiger sind als die Ostdeutschen, die schon weniger Lohn kriegen als die Westdeutschen. Macht das die Situation nicht schwieriger?

Tim Detzner: Wenn man sich die Wähler- und Mitgliedersturkur der AfD anguckt, sind das ja zum guten Teil mittelalte bis ältere Männer. Und das ist eine ganz große Gruppe, die durch den Transformationsprozess nach der Wiedervereinigung mit herben Brüchen in der Biographie klarkommen musste. Das sind vor allem Leute, die jahrzehntelang von Arbeitslosigkeit betroffen waren.

Die Situation hat sich aber geändert. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen, trotzdem haben wir hier in der Region einen sehr starken Niedriglohnsektor. Das ist ein Standortfaktor, der auch immer sehr bedient wurde. Und das führt zur Gemengelage, dass Menschen denken, die Migranten nehmen uns die Arbeitsplätze weg, obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Wir haben einen stark zunehmenden Fachkräftemangel. Und gerade die Industrieregion Chemnitz/Zwickau ist in hohem Maße auf Zuwanderung angewiesen, selbst im Gesundheits- und Pflegebereich. Wir sind eine überalterte Region. Ohne Zuwanderung von Facharbeitern und Pflegekräften werden die gesellschaftlichen Probleme in der Region immer größer.

Was hat Ihre Partei in den letzten 25 Jahren sozialpolitisch erreicht?

Tim Detzner: Es gibt breite Angebote an Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Es gibt Begegnungsstätten für Senioren. Wir haben uns für die Nahversorgung der Älteren eingesetzt. Bei vielen Menschen gerät es aus dem Fokus, wenn es in einem Stadtteil keine Kaufhalle mehr gibt. Wir sind die Einzigen, die sich dafür einsetzen, dass die gewachsenen Strukturen und die Kleingärten erhalten bleiben und die Grundstücke nicht teuer verkauft und bebaut werden. Wir haben keine Mietensteigerungen wie in anderen deutschen Großstädten. Ziel unserer Politik ist es, die Privatisierung öffentlichen Eigentums zu verhindern. Wir haben noch sehr starke kommunale Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge.

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