Chemnitz - ein halbes Jahr nach den Ausschreitungen

Seite 2: "Rechtsradikale Szene konnte sich ungestört entfalten" - Interview mit dem Stadtvorsitzenden der Linken

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Wie ist die Lage in Chemnitz jetzt, ein halbes Jahr nach den Ereignissen im August? Man hat nach der Medienberichterstattung das Gefühl, dass es hier sehr viel rechtsradikale Stimmung ist. Wie ist es wirklich?

Tim Detzner: Ich glaube die Ereignisse des letzten Jahres und der folgenden Wochen und Monate haben gezeigt, wie tief der Graben in der Stadtgesellschaft tatsächlich ist. Es gab wochenlang kein anderes Thema als der Todesfall und die darauffolgenden Proteste und Demonstrationen und Ausschreitungen. Man merkt es sehr in Freundeskreisen, in Familien, bei Arbeitskollegen, in Sportvereinen. Überall war das Thema und überall gehen da auch die Meinungen auseinander. Also wir kennen viele Beispiele, dass nach jahrzehntelangen Freundschaften Menschen über solche Probleme nicht mehr sprechen können und wo man einfach merkt, dass sich die Gesellschaft an dieser Frage sehr gespalten hat.

Tim Detzner. Bild: Ulrich Heyden

Wie beurteilen Sie die Reaktion der Parteien auf die Proteste in Chemnitz?

Tim Detzner: Quer durch das Parteienspektrum hat sich die Partei- und Bundesprominenz in Chemnitz die Klinke in die Hand gegeben und es gab ganz viele Dialogformate. Viele Politiker, angefangen vom sächsischen Ministerpräsidenten, haben hier Bürgerdialoge durchgeführt, was ich sehr kritisiere, weil das sehr einseitig ist. In dem Moment, wo der Pöbel auf der Straße Hass verbreitet, schreit und sagt, wir werden überfremdet, werden plötzlich viele Podien geschaffen, wo mit den Menschen geredet wird. Und da kommen natürlich fast nur Leute aus dem populistischen Lager, also die, die sowieso schon den Diskurs bestimmen, weil sie sehr laut und sehr vehement im Diskurs sind.

Als es vor zehn, fünfzehn Jahren die Proteste gegen die Sozialgesetzgebung gab, die ja auch richtig groß waren, da ist Niemand auf die Idee gekommen, ein Dialogangebot zu machen. Der schweigenden Mehrheit bekommt über Dialogangebote keine Stimme.

Kamen die Demonstrationen und die Gewalt der Rechten im August/September letzten Jahres überraschend? Oder war das ein Prozess, der sich schon die letzten 25 Jahre entwickelte?

Tim Detzner: Es gibt seit der Wende sehr gefestigte rechtsextreme Strukturen in Chemnitz. Es gibt ein breites Neonazi-Spektrum aller Couleur. Selbst der "Nationalsozialistische Untergrund", die rechte Terrorgruppe, hat ja in Chemnitz Unterschlupf gefunden und hier maßgeblich über die zehn Jahre die wirtschaftliche Basis gehabt durch die vielen Banküberfälle, die sie hier machen konnten. Es gab hier immer eine große Unterstützerszene.

Von Chemnitz aus vertreiben die Rechten europaweit ihre Musik und anderes Material. Chemnitz ist eine Größe im weltweit agierenden Blood-and-Honour-Netzwerk. Außerdem gibt es mit der Stadtratsfraktion "Pro Chemnitz"2 seit 15 Jahren eine AfD-ähnliche Partei. Quer durch das gesamte Spektrum der extrem Rechten ist Chemnitz schon seit Langem stark aufgestellt.

"Sicherheitspolitische Abwärtsspirale"

Wie sieht es zahlmäßig aus? Wie viele können die Rechten mobilisieren?

Tim Detzner: Es war bisher eine kleine, aber sehr gut organisierte Szene, die sich ungestört entfalten konnte. Es gab in den letzten Jahren einige Versuche von der Polizei und den Behörden, dagegen vorzugehen. Es wurden ein paar Gruppen verboten. So wurden zum Beispiel 2017 die "Nationalen Sozialisten Chemnitz" verboten. Es ist schwer zu sagen, wie groß die Zahl der extremen Rechten ist. Es gibt den harten Kern und es gibt das Umfeld drumherum. Aber es ist nicht so, dass es große Teile der Stadtgesellschaft betrifft. Insgesamt gibt es eine einige hundert Leute umfassende, straff organisierte Szene.

Und dann gibt es noch "Pro Chemnitz". Die können mehrere tausend Anhänger mobilisieren.

Tim Detzner: Es gibt seit Jahrzehnten die gewachsenen Strukturen verschiedener Couleur und vor allem seit 2015 dazu einen öffentlichen Diskurs und eine wechselnde Stimmung in der Bevölkerung durch die Zunahme von Flüchtlingen, die nach Chemnitz gekommen sind. Man muss dazu auch wissen, dass hier die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber im ganzen Freistaat Sachsen ist.

Durch die steigenden Zahlen von Flüchtlingen und weil man hier im Straßenbild mehr Menschen anderer Herkunft gesehen hat, sind hier Diskurse in der Öffentlichkeit entbrannt. Und ich glaube, dass das nach wie vor für viele Ostdeutsche einfach etwas Unbekanntes ist, wo diffuse Ängste und Probleme auftreten. So ist der Diskurs entstanden, kann man sich noch wohlfühlen in der Stadt? Kann man noch in die Innenstadt gehen? Ist das Alles nicht ganz gefährlich?

Es gab zudem einen aufbauschenden Diskurs, der zu vielen ordnungspolitischen Maßnahmen in der Stadt führte, aber aus meiner Sicht eher die diffusen Ängste verstärkt hat und in eine sicherheitspolitische Abwärtsspirale gemündet ist, weil man angefangen hat, eine Kameraüberwachung zu installieren, ein Alkoholverbot in der Innenstadt zu erlassen und immer mehr Regeln aufstellte. Es gab auch sogenannte Komplexkontrollen der Polizei. Ein oder zweimal in der Woche filzten zum Teil ganze Hundertschaften Bereitschaftspolizei die Innenstadt und haben jeden, den sie kontrollieren wollten, kontrolliert. Das nannte man "verdachtsunabhängige Kontrollen".

Gegen wen richtete sich das?

Tim Detzner: Hauptsächlich gegen Flüchtlinge, muss man sagen. Gegen die Menschen, die offensichtlich nach einer ausländischen Herkunft aussehen.

Chemnitz (8 Bilder)

Chemnitz Stadtzentrum. Foto: Ulrich Heyden

"Es wurden nur kleine Mengen von Drogen beschlagnahmt"

Und die nicht offiziell registriert waren?

Tim Detzner: Doch, die waren schon registriert, haben sich aber in der Innenstadt aufgehalten. Wo es ja Diskurse gab, die würden angeblich alle klauen und es gäbe Drogendelikte. Fakt ist, dass bei diesen Komplexkontrollen nur in sehr kleinem Umfang Drogen beschlagnahmt wurden. Und aus meiner Perspektive ist es so, dass wir da in der Ordnungspolitik da in eine Abwärtsspirale kommen.

Das heißt, dass die Ordnungspolitik immer schärfer wird und die Demokratie bedroht?

Tim Detzner: Wenn ich diffuse Ängste habe und denke, der öffentliche Raum ist gefährlich für mich, und dann zeigt mir die Polizei, dass sie hundert gepanzerte Beamte braucht, um aufzuräumen, dann bestätigt das ja, dass das sehr gefährlich sein muss. Wenn ich als Stadt für eine Million Euro Kameras im öffentlichen Raum installieren muss, dann beweist das ja bei der klammen Finanzlage der Kommunen, dass das sehr gefährlich sein muss.

Und die AfD sagt dann, seht her, die Polizei muss jetzt schon ständig die Innenstadt filzen. Das ist wirklich eine Bedrohung. Die sind wirklich sehr kriminell, diese Ausländer.

Tim Detzner: Genau. Und dadurch entsteht über das Internet, angefangen in den sozialen Medien, eine sehr starke Diskussion, die zum Teil von den lokalen Medien aufgenommen wird, die von Parteien wie AfD und Pro Chemnitz auch sehr stark bedient werden. Die Stadt und die Polizei sehen sich dann wieder in der Pflicht, darauf zu reagieren und dem Bürger Ordnung zu verschaffen. Und das sorgte von 2015 bis 2018 zu einer Abwärtsspirale, wie ich sie nennen würde. Und das hat dann nur einen Punkt gebraucht, um das Ganze explodieren zu lassen. Und dieser Punkt war der tragische Todesfall von Daniel H. am 26. August.

Wer ist für die Innenpolitik in Chemnitz verantwortlich?

Tim Detzner: An der Stelle wird's schwierig. Wir haben einen rot-rot-grüne Stadtregierung3. Und der Ordnungs-Bürgermeister wird von der Linken gestellt. Insofern ist das eine schwierige Frage (lacht).

"Effekt des Abschottens"

Sie haben jetzt praktisch Ihre eigenen Parteikollegen …

Tim Detzner: Ich glaube, dass es da gar nicht um Parteien geht, weil klar ist, dass sich in der Stadt Chemnitz gerade dass rot-rot-grüne Bündnis ganz klar gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und gegen diese Nazi-Strukturen gestellt hat. Dass in Teilen der Umgang mit dieser Krise schwierig war, das erleben wir seit Jahrzehnten im Osten.

Wenn es in einer ostdeutschen Stadt zu rechten Ausschreitungen kommt und die nationale und internationale Presse berichtet darüber, kommt es immer wieder zum Effekt des Abschottens. Man hört dann, die Kritik kommt von Außen. Wir, unsere Stadt ist doch viel schöner. Das ist doch nur ein Punkt. Insgesamt ist doch alles gut. Es gibt dann ganz schnell eine Rückzugs- und Abschottungstendenz. Das, denke ich, ist ein ziemlich normales Phänomen, dass es den lokalen Akteuren dann noch schwerer fällt, über den Tellerrand zu schauen und rational zu analysieren, was eigentlich los ist. Das, was los war in Chemnitz, das hat glaube ich die Weltöffentlichkeit stärker wahrgenommen, als dies in Chemnitz selbst geschehen ist. Es war der blanke Rassismus und Hass, Menschenhass.

Und diese These, worüber auch der Präsident des Verfassungsschutzes gestolpert ist, gab es nun gewalttätige Hetzjagden oder nicht, was ist Ihre Meinung dazu?

Tim Detzner: Definitiv gab es die. Es hatte ja auch einen Grund, warum der Herr Maaßen letzten Endes über seine Äußerung, dass es keine Hetzjagden gab, gestolpert ist. Diese These war einfach nicht haltbar.

Es ist ja erstmal erstaunlich, dass es von Angela Merkel bis zur Linken in der Frage der Hetzjagden eine Meinung gibt.

Tim Detzner: Das hat aber nichts mit demselben politischen Anspruch zu tun. Es ist einfach ein Fakt. Die Demonstrationen gingen noch bis kurz vor Weihnachten, jede Woche. Und es war einfach so, dass die radikale Rechte auf der Straße ein stückweit gesiegt hat. Bis Ende des Jahres hat sich In der Innenstadt Freitagabends bis Ende des Jahres kaum ein Ausländer noch auf die Straße getraut. Dieses Ziel, eine "national befreite" Innenstadt, haben die mit ihrem Straßenterror ein Stück weit geschafft. Das belegen ja auch die Straftaten, die im Umfeld der Demonstration passierten. Es passierten ja fast jede Woche Übergriffe auf ausländische Restaurants und Gruppen von Ausländern, die sich in Parks aufhielten.

Warum wurde in der Öffentlichkeit immer nur über ein einziges Video diskutiert?

Tim Detzner: Dabei ging es erstmal nur um die Spontandemo am ersten Tag, dem 26. August. Das Problem war, dass es viele Übergriffe auf Gegendemonstranten und ausländisch aussehende Menschen in den Tagen und Wochen nach dem 26. August gab. Diese Übergriffe sind oft tage- oder wochenlang nicht an die Öffentlichkeit gekommen. Die Polizei hielt es nicht für nötig, die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Erst Wochen später wurde zum Teil klar, in welchem Ausmaß Gruppen von Personen von gewaltbereiten Rechten, wie viele Menschen auf dem Heimweg von Rechten angegriffen und geschlagen worden waren.

Was heißt das alles für Sie persönlich? Sie sind hier geboren, in Chemnitz?

Tim Detzner: Ja, in Karl-Marx-Stadt

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