Chile: Von der Ausbeutung zum ökologischen Sozialstaat auf der Höhe der Zeit

Blick auf die Hafenstadt Valparaiso. Bild (2014): Fernando Laorga/CC BY-SA 3.0

Weg mit dem Erbe der Pinochet Diktatur: In Chile wird heute über eine der modernsten Verfassungen der Welt abgestimmt. Ganz oben stehen Gemeinwohl und Umweltschutz.

Der heutige Sonntag ist ein großer Tag für die Republik Chile. Nachdem massive Straßenproteste ab Oktober 2019 die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung erzwungen hatten, um das Erbe der Pinochet Diktatur abzuschütteln, ist die Bevölkerung des Landes nun aufgerufen, über den erarbeiteten Verfassungsentwurf abzustimmen.

1973 hatte das chilenisches Militär auf Befehl Augusto Pinochets, mit tatkräftiger Unterstützung des US-Geheimdienstes und unter dem Applaus westdeutscher Politiker wie Franz-Josef Strauß, Roland Koch, Volker Bouffier sowie anderer Unionsmitglieder gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung geputscht.

In der Folge wurden nicht nur zahlreiche Politiker, Künstler, Gewerkschafter und Mitglieder linker Parteien ermordet, sondern auch eine auf Privatisierung und Deregulierung konzentrierte Wirtschaftspolitik umgesetzt, die die unteren Schichten weiter verarmen ließ und schon bald zum Vorbild für neoliberale Veränderungen in vielen anderen Ländern wurde.

Privatisierung

Zentraler Bestandteil dieser Politik war die Privatisierung zahlreicher natürlicher Ressourcen wie des Kupferbergbaus, großer Waldgebiete und vieler Wasserrechte. (Chile besitzt im Norden des Landes die mit Abstand weltweit größten Kupfervorkommen.)

Diese Politik führte nicht nur zu massiven, bis heute anhaltenden Konflikten, namentlich mit den indigenen Mapuche im Süden des Landes, deren Ländereien oft betroffen sind, wenn es um Holzeinschlag oder Wasserrechte geht.

Ergebnis war auch eine einseitige Festlegung auf den Status eines Rohstoffexportlandes. Das ist nicht nur wegen der mit dem Bergbau und den Rodungen einhergehenden Umweltzerstörungen problematisch. Die Abhängigkeit vom Export erfordert auch fast zwangsläufig, dass zugleich Importe aus den Industriestaaten ohne große Auflagen und Zölle ins Land gelassen werden.

Das wiederum verhindert jedoch den Aufbau einer heimischen Industrie. Hinzu kommt, dass die Währungen der Rohstoffexporteure oft vergleichsweise stark sind, was die Importe von Industriewaren begünstigt und damit der heimischen Wirtschaft zusätzlich schadet.

Kritik an Raubbau

Entsprechend ist der sogenannte Extraktivismus, die starke Förderung von Bergbau, umstritten und wird nicht nur in Chile von sozialen Bewegungen kritisiert und bekämpft. Auch im Nachbarland Argentinien kommt es in den letzten Jahren immer wieder zu Protesten, weil Provinzregierungen versuchen, Umweltstandards und Trinkwasserschutz aufzuweichen, um Bergbauprojekte und Gasfracking zu erleichtern.

In Chile hat es die Kritik an diesem Raubbau auch in den Verfassungsentwurf geschafft, weshalb die morgige Abstimmung nicht nur ein Meilenstein in der Demokratisierung des Landes, sondern auch in seiner wirtschaftlichen Entwicklung werden könnte.

Schon der Artikel eins gibt ein deutliches, wenn auch zunächst wenig präzises Zeichen, indem Chile als ein ökologischer Staat bezeichnet wird. Im Weiteren wird betont, dass "Individuen und Völker" von der Natur abhängig sind und mit ihr ein "untrennbares Ganzes" bilden. Aufgabe des Staates sei es, das "gute Leben" zu fördern, das in einem "harmonisch(en) und ausgewogene(nem) Verhältnis zwischen Mensch, Natur und gesellschaftlicher Organisation" bestehe.

Ausdrücklich wird die Natur an mehreren Stellen als juristische Person behandelt, die "ein Recht darauf (hat), dass ihre Existenz geachtet und geschützt wird, dass sie sich regeneriert, erhalten und regenerieren" kann. Und: "Wer die Umwelt schädigt, ist verpflichtet, sie zu reparieren". Des Weiteren wird der Staat "verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die die Klima- und ökologische Krise abwenden" oder dort, wo dies nicht möglich ist, für Anpassung sorgen.

Zugleich wird festgehalten, dass "jeder Mensch (...) das Recht auf eine gesunde und ökologisch ausgewogene Umwelt" und "lebenslang auf saubere Luft" hat. Ebenso wird ein "Recht auf einen verantwortungsvollen und allgemeinen Zugang zu Bergen, Flussufern, dem Meer, Stränden, Seen, Lagunen und Feuchtgebieten" garantiert. Mit anderen Worten, der Privatisierung dieser Ressourcen wird ein gewisser Riegel vorgeschoben.

Öffentliche Daseinsvorsorge

Wie ein roter Faden zieht sich durch den Entwurf, dass eine bestimmte Grundversorgung der Menschen als öffentliche Angelegenheit, das heißt, als Aufgabe des Staates definiert werden.

So wird zum Beispiel das Menschenrecht auf Wasser proklamiert und dem Staat die Aufgabe zugeteilt, für jetzige und künftige Generationen den "erschwinglichen" Zugang zu Wasser und Kanalisation zu garantieren.

Ebenso wird jedem ein nicht genauer definitives Minimum an Energieverbrauch als Grundrecht zugestanden, für das der Staat zu sorgen hat. Die energetische Infrastruktur wird zum "öffentlichen Interesse" erklärt und dem Staat die Aufgabe gegeben, Energiegenossenschaften und energetischem Eigenverbrauch zu schützen und zu fördern.

Daneben wird den indigenen Völkern das Recht auf die Rohstoffe auf ihren Territorien zugesprochen. Allerdings müssen deren Grenzen zum Teil noch genau bestimmt werden, was sicherlich auch im Falle der Annahme der Verfassung viel Konfliktpotenzial in sich birgt.

Insbesondere die Mapuche sind für ihren Kampfgeist bekannt und wurden von der Diktatur wie auch von den Regierungen der nachfolgenden Jahrzehnte mit besonderer Härte verfolgt, um ihr Land für private Landbesitzer zu erschließen, die die Wälder und Wasservorkommen ausbeuten wollen.

Den spanischen Kolonialherren war es einst nicht gelungen, die Mapuche zu unterwerfen. Erst das unabhängige Chile hat ihr Territorium im 19. Jahrhundert erobert und zum Teil mit deutschen Siedlern erschlossen.

Schutz der Allmende

Interessant ist am Verfassungsentwurf in diesem Zusammenhang auch, dass ausdrücklich "das Küstenmeer und sein Meeresboden, Strände, Gewässer, Gletscher und Feuchtgebiete, geothermische Felder, Luft, Atmosphäre und Wasser, das Hochgebirge, die Schutzgebiete und die ursprünglichen Wälder, der Untergrund" als Gemeingüter oder Allmende (bienes communes) definiert werden.

Speziell das Wasser "in all seinen Zuständen" wird ausdrücklich von der Privatisierung ausgenommen, was angesichts der zahlreichen großen Wasserkonflikte in Südamerika bemerkenswert ist.

Schließlich legt der Verfassungsentwurf fest, dass alle Bergwerke und Förderstätten mineralischer und fossiler Rohstoffe unabhängig von den Eigentumsverhältnissen der Grundstücke, unter denen sie sich befinden, der "absoluten, ausschließlichen, unveräußerlichen und unantastbaren Kontrolle des Staates unterliegen" und ihr Abbau den Schutz der Umwelt sowie "generationsübergreifende öffentliche Interessen" berücksichtigen muss.