China jetzt ohne extreme Armut

Seite 2: China: Keinen Rückfall riskieren, relative Armut bekämpfen

Anders als im Westen, wo die Vorstellung, alles entwickele sich unter kapitalistischen Bedingungen effizient und zum Besseren oft den Blick auf die wahren Verhältnisse verdeckt, sind sich die Chines:innen sehr bewusst darüber, dass ihre Errungenschaften auch wieder zunichtegemacht werden können. Deshalb wird weiterhin daran gearbeitet, die Qualität, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft zu verbessern. Parallel dazu wird die Bautätigkeit gefördert und der Stadt-Land-Nexus gestärkt, um die Unternehmenstätigkeit weiter anzukurbeln. Zentral ist zudem eine gute Gesundheitsversorgung in der Fläche. Und – typisch chinesisch – gehört zu einer solchen Strategie auch die Schaffung einer "angenehmen Lebenswelt" mit entsprechender "sozialer Etikette und Höflichkeit" und effizienter Verwaltung.

International werden die Bemühungen ernst genommen und erhalten – zumindest von maßgeblichen Mainstream-Medien – eine gewisse Aufmerksamkeit. Beispiele sind Foreign Affairs, eine führende US-amerikanische Zeitschrift zu internationaler Politik und der britische Economist. (beide mit Bezahlschranke). Auch die ARD hat einen entsprechenden Beitrag gebracht.

Allerdings sind die Zeiten vorbei, wo man die chinesischen Fortschritte mehr oder weniger als eigenen Erfolg vereinnahmen konnte. Das war in entwicklungspolitischen Debatten im Zusammenhang mit den Millennium-Entwicklungszielen hierzulande häufiger der Fall (siehe etwa hier oder hier). Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Die aktuelle Zunahme der Armut und alle Konsequenzen daraus sind ab sofort einzig und allein uns und unserer eigenen, angeblich so effizienten Wirtschaftsweise zur Last zu legen.

Politisch viel bedeutsamer als die Reaktionen einschlägiger Redaktionsteams im Westen ist sicher die Ausstrahlung dieses Erfolges in Schwellen- und Entwicklungsländern. Als Beispiele seien hier die offiziellen Gratulationen des pakistanischen Präsidenten Imran Khan und des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres anlässlich der Bekanntgabe des Erfolges erwähnt.

In China scheint man entschlossen, sich nicht auf den Lorbeeren auszuruhen. Dennoch dürfte der Sieg über die absolute Armut Präsident Xi Jinping am 23. Juli 2021, dem 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei, einige Legitimation verleihen, sein Mandat zu erneuern – zumindest nach innen. Um ihre Legitimation auch in Zukunft zu sichern, machen Partei und Behörden jetzt relative Armut zum Thema.

"China ist ein bevölkerungsreiches Land mit einem Durchschnittseinkommen von etwa 30.000 Yuan jährlich (etwa 3.850 Euro). Aber 600 Millionen Menschen müssen mit einem Einkommen von etwa 1.000 Yuan monatlich auskommen", klagt nicht etwa der Economist, sondern die Global Times, die populär gestrickte Ausgabe von Peoples Daily, der Zeitung der Kommunistischen Partei Chinas. "Mit 1.000 Yuan wird es auch in einer mittelgroßen Stadt schwierig, eine Wohnung zu mieten."

Zusätzlich zu den oben erwähnten Maßnahmen rücken deshalb jetzt auch Sozialversicherungssysteme und Einkommenstransfers in den Blick der Verantwortlichen. Dieses Jahr will man weitere zwei Millionen Bürger:innen entweder mit den chinesischen Äquivalenten zur Sozialhilfe oder mit einer Arbeitslosenversicherung unterstützen. Von Transferleistungen profitieren derzeit etwa 60 Millionen Menschen im Reich der Mitte.

Zu dieser Meldung passt, dass die Ungleichheit der Einkommensverteilung nach großen Erfolgen zwischen 2008 und 2017 jetzt tendenziell wieder abnimmt. Zugrunde gelegt wird hier der Gini-Koeffizient, der im internationalen Vergleich (etwa mit den Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD) mit circa 0,4 allerdings immer noch recht hoch ist. LeserInnen, die das genauer interessiert, sei hier der Vergleich der Weltbank-Zahlen mit den deutlich höheren Werten empfohlen, die der in Hongkong beheimatete Wirtschaftsinformationsdienst CEIC liefert.

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