China jetzt ohne extreme Armut
- China jetzt ohne extreme Armut
- China: Keinen Rückfall riskieren, relative Armut bekämpfen
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Im Reich der Mitte hat ein welthistorisches Ereignis stattgefunden, das im Westen kaum hinreichende Beachtung fand. Eine Bestandsaufnahme
Auch in Medien wie Telepolis, in denen die China-Berichterstattung differenziert und qualitativ hochwertig ist, wurde die wohl bedeutendste Errungenschaft der 1,4 Milliarden Menschen und der regierenden Kommunistischen Partei des fernöstlichen Landes in diesem Jahr nur gestreift: ihr Sieg gegen die absolute Armut. Es ist nicht übertrieben, von einem welthistorisch bedeutenden Moment zu sprechen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist es gelungen, über 700 Millionen Menschen aus bitterster Armut zu befreien – und das in nur 40 Jahren.
Ursprünglich war die Abschaffung der absoluten Armut für 2020 geplant – doch dieses Ziel konnte wegen der wirtschaftlichen Einbußen aufgrund der Corona-Pandemie nicht gehalten werden. Also verschob man die Erreichung des Ziels auf die erste Jahreshälfte 2021, verkündete aber gleichzeitig schon, dass neue Pläne für die Hebung des allgemeinen Lebensstandards beschlossen worden seien.
Wer gilt als arm?
Es zirkulieren viele Armutsdefinitionen, deshalb hier kurz ein Hinweis darauf, wovon die Rede ist: China bezieht sich zwar auf die Agenda 2030 der Vereinten Nationen, legt aber eine eigene Armutsdefinition zugrunde. In China gilt als arm, wer weniger als 4.000 Yuan jährlich also etwa elf Yuan am Tag verdient. Das sind nach aktuellem Wechselkurs etwa 1,4 Euro pro Tag -also knapp 90 Prozent der 1,9 US-Dollar pro Tag, die die Weltbank als Armutsdefinition ansetzt. Kaufkraftdisparitäten sind in dieser Überlegung allerdings nicht berücksichtigt. 42 Euro im Monat reichen auch in China nicht zum Leben. Zum Vergleich: Eine Krankenschwester, die in Peking lebt und arbeitet, kann einen Jahreslohn von 167.000 Yuan erreichen – das sind umgerechnet etwa 21.385 Euro. (Die Angaben aus verschiedenen Quellen schwanken zwischen 63.000 und 246.000 Yuan.)
Mehr als 700 Millionen Menschen aus der Armutsfalle zu befreien, klingt gewaltig, und hinter diesem Erfolg steht eine nationale Kraftanstrengung. Große Fortschritte haben zunächst das unglaubliche Wirtschaftswachstum, die Industrialisierung und Urbanisierung, eine spezielle Migrationspolitik ("Wanderarbeiter") und die konsequente Erschließung des Landes mit moderner Infrastruktur gebracht. Aber Armutsphänomene sind divers, hartnäckig und oft schwierig zu bekämpfen. Daher müssen Lösungen zur Bekämpfung absoluter Armut immer an lokale Gegebenheiten angepasst werden.
Zunächst müssen die Planer:innen wissen, wer überhaupt arm ist und wo sozial und ökonomisch benachteiligte Gruppen leben. Um über diese Frage Klarheit zu schaffen, hat der chinesische Staatsrat 2014 eine Liste von 832 verarmten Landkreisen in 22 Regionen Chinas veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt galt noch fast ein Drittel aller Landkreise als verarmt. Seit 2016 konnte die Armutsbekämpfung beschleunigt werden und Ende 2020 verkündete der Staatsrat, dass die letzten neun Landkreise in der Provinz Guizhou von der Armutsliste gestrichen werden konnten. 2012 hatte die offizielle Statistik noch 98,99 Mio. Arme erfasst, Ende 2019 nur noch 5,51 Mio.
Im Zuge dieses Prozesses stellte sich heraus, dass die meisten der Ärmsten in ländlichen Regionen leben, wobei die Armutsbekämpfung in unzugänglichen und bergigen Regionen am schwierigsten ist. Dort sind Infrastrukturmaßnahmen teuer, industrielle Investitionen selten und landwirtschaftliche Produktion oft nicht konkurrenzfähig: Es ist aufwendig, überhaupt Landwirtschaft zu betreiben; vor allem aber können die Produkte die Märkte nur schlecht erreichen.
Innovationen und harte Arbeit
Im Zuge einer Strategie der ländlichen Entwicklung wurden daher vor allem neue Einkommensmöglichkeiten für die marginalisierte Bevölkerung gesucht oder geschaffen. Dabei spielt die wachsende Kaufkraft innerhalb Chinas eine bedeutende Rolle. Ihr ist es zu verdanken, dass zum Beispiel eine ganze Reihe "Agritainment"-Projekte entstanden sind, in denen landwirtschaftliche Produzent:innen ihr Geschäft samt ihrer traditionellen Produktionsweisen und Produkte der rasch expandierenden Tourismusindustrie andienen.
Mittlerweile sind außerdem 98 Prozent aller Dörfer in China wenigstens über das Mobilfunknetz (4G oder 5G) erreichbar. Das Glasfasernetz wird zügig ausgebaut. Das erlaubt es, betriebswirtschaftliche Weiterbildungsangebote online und interaktiv durchzuführen und ermöglicht es Anbieter:innen in abseits gelegenen Regionen ins Online-Marketing ihrer Produkte einzusteigen. Denn kaufkräftige Nachfrage gibt es auch für Delikatessen aller Art. Interessent:innen können die gewünschten Leckereien – die sie natürlich gerne aus ihrer Heimatregion beziehen – direkt und online erstehen. Das klappt besonders gut mit hochwertigen Erzeugnissen wie zum Beispiel Honig oder speziellen Veredelungsprodukten und kurbelt wiederum die handwerkliche oder kleinindustrielle Weiterverarbeitung und Konfektionierung für den Versandhandel an.
Mehr als 1.400 Landkreise haben zwischen 2014 und 2020 von einem nationalen Projekt profitiert, bei dem es darum ging, den Internethandel für den Vertrieb ländlicher Produkte zu ermöglichen – mit dem Nebeneffekt, dass auch der Konsum der Landbewohner:innen selbst angestiegen ist. Wo derartige Maßnahmen nicht ausreichen, gibt es als Starthilfe verbilligte Kredite – auch von kommerziell ausgerichteten Instituten, wenn diese die Geschäftsaussichten als günstig einstufen.
Wenn Standorte zu dürftig oder die dort lebenden Menschen zu alt sind, ermöglichen die zuständigen Behörden als letzten Ausweg auch eine Umsiedlung. Diese ist freiwillig und wird meisten gerne angenommen, weil der neue Wohnort bessere Bedingungen bietet: Die Arbeitsmöglichkeiten, die gesundheitliche Versorgung und nicht zuletzt das preiswerte Wohnraumangebot sind am neuen Wohnort deutlich besser als im alten Dorf. Dinge wie fließendes warmes Wasser überzeugen auch alte Menschen, die sich mit dem Wasserschleppen und Holzhacken schwertun.
Nach Angaben der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission hat China im Laufe seiner Armutsbekämpfungskampagne insgesamt 9,3 Millionen Menschen umgesiedelt und im Zuge dessen 39.000 Neubaugebiete mit mehr als 2,6 Millionen Wohneinheiten errichtet. Die aufgegeben landwirtschaftlichen und Siedlungsflächen werden übrigens nicht selten renaturiert beziehungsweise wiederaufgeforstet.
Seit 2016 wurden allein 1,1 Mio. Menschen als Ranger und für die Wiederaufforstung eingestellt. Wer sich näher für die verschiedenen Lösungsansätze interessiert, kann auch die deutsche Seite von Radio China International besuchen. Dort gibt es eine kleine Themenseite Armutsbekämpfung.
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