China verstehen und als Chance begreifen

Seite 2: Unterschiedliche Werte und Leitbilder

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Die Volksrepublik China wird zweifellos autoritär regiert, die Entscheidungskompetenzen sind stark zentralisiert. Während Diktatoren im westlichen Einzugsbereich danach streben, der gesellschaftlichen Elite Macht und Reichtum zu verschaffen, ähnelt das chinesische System eher den Erziehungsdiktaturen des "realen Sozialismus".

Wurde der wirtschaftliche Aufstieg des Landes bis zum Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 durch ideologische Fesseln behindert, so orientierte sich China seitdem am Vorbild der Nachbarstaaten. Auch dort existierten anfangs autoritäre Strukturen, die sich offenkundig als hilfreich erwiesen, die Entwicklung der Volkswirtschaften zu beschleunigen und sich dem Niveau des Westens anzunähern. Noch heute finden sich in ost- und südostasiatischen Staaten Relikte aus jener Phase, sodass deren politische Systeme mit dem Begriff "gelenkte Demokratie" versehen werden.

Eine eurozentrische Betrachtung neigt dazu, die chinesische Gesellschaft als entwicklungsbedürftig zu charakterisieren. Unterschlagen wird, dass die Zivilisationsgeschichte des Landes auf mehrere Jahrtausende zurückblicken kann. In diesem Zeitraum sind Leitbilder entstanden, die den Alltag und die Politik bis heute prägen: Garantierte Grundversorgung und ein glückliches Leben wiegen mehr als Privateigentum, Luxus und ein Maximum an Freiheit, gesellschaftliche Verantwortung und Konsenswille ersetzen repräsentative Strukturen und Pluralismus. Wenn die chinesische Regierung auf die Kritik an der Menschenrechtslage im Land mit Gegenvorwürfen antwortet, dann kann angenommen werden, dass eine große Mehrheit der Bürger ihre Position teilt.

Die Einschränkung persönlicher Freiheiten in China wird mit dem Primat gesellschaftlicher Interessen begründet, das recht exzessiv ausgelegt wird. Jedoch werden Bürgern auch anderswo die in der UN-Menschenrechtscharta aufgelisteten individuellen Rechte verwehrt. Obwohl sie in westlichen Staaten formell jedem zustehen, entscheidet vielfach die Größe des Geldbeutels über die Möglichkeiten, sie wahrzunehmen. In ärmeren Weltregionen befindet sich das Gros der Bevölkerung in einer nahezu rechtlosen Position, die sich von jener der Chinesen nicht unterscheidet. Wird das ebenso in der UN-Charta enthaltene Postulat eines allgemeinen Zugangs zu Arbeit, Bildung und Grundversorgung betrachtet, dann können auch Kritiker nicht umhin, der chinesischen Führung Verdienste zuzubilligen.

Ein wichtiges Kriterium bei der Beurteilung von Gesellschaftssystemen ist der Zufriedenheitsgrad der Bevölkerung. Dieser liegt in China unvergleichlich höher als in westlichen Staaten. Wie die BBC im Jahr 2012 ermittelte, wurde die staatliche Wirtschaftspolitik von 91 Prozent der Bürger positiv beurteilt, bei nur 43 Prozent in Großbritannien. Die Zahlen dürften sich seitdem nicht merklich verändert haben, zumal der von westlichen Ökonomen mehrfach vorausgesagte Wirtschaftseinbruch nicht stattgefunden hat.

Die positiven Resultate der Umfrage mögen zu einem gewissen Teil durch die verbreitete Medienzensur begründet sein, die es ermöglicht, Verhältnisse zu beschönigen und Missstände zu vertuschen. Auf Dauer dürfte es jedoch keiner Regierung gelingen, die Bürger des Landes zu täuschen. Misstrauen und Unzufriedenheit würden sich ausbreiten und die Zuspruchswerte in den Keller drücken.

Sowohl im Westen als auch in China begreifen sich die meisten Bürger als unpolitisch. Trotz größeren Angebots an Nachrichten, Analysen und Meinungen dürfte der westliche Normalbürger daher kaum besser informiert sein als ein chinesischer Medienkonsument. Personen, die politisch interessiert und engagiert sind, fühlen sich von Restriktionen verständlicherweise stärker betroffen. Wenn sie Kritik an chinesischen Verhältnissen üben, dann geraten sie leicht in das Fahrwasser eines Überlegenheitsanspruchs westlicher Werte. Anstatt sich auf die Aussagen oppositioneller Kräfte zu stützen, die ausländischen Einflüssen unterliegen, sollten sie sich mit landesinternen Debatten zur Lokalisierung und Beseitigung von Missständen befassen.

Was in China per Dekret umgesetzt wird, besorgen im Westen vielfach gesellschaftliche Strukturen. Die freie Meinungsäußerung wird tendenziell ausgebremst, wenn sie sich kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen befasst. Noch höher werden die Hürden, wenn Bürger zu politischer Umsetzung schreiten.

Historisch begründeter Argwohn

Es ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass China von seiner rigiden Position abweicht und etwa alternative Medien zulässt. Dennoch gibt es hoffnungsvolle Entwicklungen. Wie der Rechtsanwalt Rolf Geffken in einem Vortrag über Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in China berichtete, werden illegale Streiks in der Privatwirtschaft von der Parteiführung oft wohlwollend quittiert. Vielerorts wurde spontan entstandenen Arbeiterräten später gewerkschaftlicher Status gewährt. Beeindruckt zeigt sich Geffken von einer Regierungskampagne, in der die Belegschaften aufgefordert werden, die ihnen im neuen Arbeitsvertragsgesetz gewährten Rechte aktiv wahrzunehmen.

Trotz solch ermutigender Berichte ist zu konstatieren, dass in China weiterhin individuelle Freiheiten beschnitten und politische Aktivitäten unterbunden werden, sobald gesellschaftliche Machtstrukturen in Frage gestellt werden. Was hält die Staatsführung davon ab, nach der wirtschaftlichen Öffnung die politische voranzutreiben und "mehr Demokratie zu wagen"? Die Konzentration politischer Macht ist angesichts der seit Jahrtausenden währenden Herrschaft unterschiedlicher Despoten offenbar zum Normalzustand avanciert. Die auf der Lehre der "Diktatur des Proletariats" basierende Führungsrolle der kommunistischen Partei fügt sich gut in diese Tradition ein. Zudem scheint die Geschichte zu lehren, dass bei einer Schwächung der Pekinger Zentrale ein Souveränitätsverlust des Landes droht.

Der Argwohn der Regierenden wurde durch die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989 verstärkt. Anlässlich des 30. Jahrestages beschreibt Peter Frey die Hintergründe, die bis in die 60er Jahre zurückreichen. Den USA gelang es während der Präsidentschaft Nixons, die Gegnerschaft Chinas zur Sowjetunion zu nutzen und das Land für den Westen zu öffnen. Seit Beginn der 80er Jahre wandelte sich Chinas Außenpolitik jedoch in eine pragmatische Richtung. Die US-amerikanische China-Politik war fortan von dem Bestreben inspiriert, eine Annäherung an die Sowjetunion zu verhindern.

Richard Nixon trifft Mao Zegong 1972 in Peking. Bild: U.S. National Archives and Records Administration

Zu diesem Zweck wurden die historisch ersten NGOs ins Leben gerufen, die sich auf Gene Sharps Konzept "friedlicher Revolutionen" und "gewaltfreien Widerstands" stützten. Frey verweist in diesem Kontext auf eine Äußerung von Allen Weinstein, den Gründungsvater des National Endowment for Democracy (NED): "Vieles von dem, was wir heute tun, wurde vor 25 Jahren verdeckt von der CIA erledigt." Während der Unruhen im Jahr 1989 begab sich Gene Sharp persönlich nach Peking, wo er führende Oppositionelle traf und sie bei der Koordination der Protestaktionen unterstützte.

Obwohl die gesellschaftlichen Machtstrukturen der Volksrepublik China zu keinem Zeitpunkt ernsthaft bedroht waren, war der Schaden immens. Zum Ärger der poltischen Führung kamen die Aktivisten aus einer Bevölkerungsgruppe, die dazu auserwählt war, künftig verantwortungsvolle Aufgaben in Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen. Noch gravierender wog der Ansehensverlust im Ausland, der die wirtschaftliche Öffnung erschwerte und die Entwicklung in den Folgejahren beeinträchtigte.

Das China-Bashing wurde seitdem zu einem nicht wegzudenkenden Bestandteil westlicher Medienberichterstattung. Unter Berufung auf NGOs wird der Pekinger Regierung die Unterdrückung ganzer Völkerschaften unterstellt. Dabei wird besonders auf die Uiguren Bezug genommen, die in der strategisch wichtigen Region Nordwestchinas beheimatet sind. Die von Peking durchgeführten Umerziehungsmaßnahmen, die vielerorts mit einer vorübergehenden Internierung einhergehen, sind als recht fragwürdig anzusehen. Da andererseits ethnischen Minderheiten weitgehende Sonderrechte gewährt werden, gilt die chinesische Nationalitätenpolitik für den asiatischen Raum als beispielhaft.

Wo Widerstand aufflammt, handelt es sich bei den Führungspersonen oft um Kräfte, die Privilegien verloren haben oder einem traditionellen Gesellschaftsmodell anhängen. Mit Unterstützung westlicher Geheimdienste bemühen sie sich um eine Eskalation von Konflikten, die etwa durch Zuwanderung ethnischer Chinesen oder durch unverhältnismäßige Übergriffe der Ordnungshüter entstehen. Die letzten größeren Unruhen ereigneten sich im Vorfeld der Olympischen Spiele im Jahr 2008, wobei die Opfer nicht Tibeter, sondern wirtschaftlich erfolgreiche Zugewanderte waren. Sie erinnerten an die wiederholten Pogrome gegen die chinesische Minderheit in südostasiatischen Ländern.

Beijing National Stadium. Bild: Løken / CC BY-SA 3.0

Wenn der westliche Applaus für gewalttätige Aktionen Oppositioneller dem Zweck dienen soll, die Durchsetzung fundamentaler Menschenrechte zu beschleunigen, so erreicht er gerade das Gegenteil. Die Vermutung liegt nahe, dass es bei den antichinesischen Kampagnen weniger um die Lage der Menschen geht als vielmehr um die Stigmatisierung eines lästigen globalen Konkurrenten. Faktisch wird den Reformgegnern innerhalb der chinesischen Führung in die Karten gespielt.

Die Unterdrückung kritischer Stimmen mag die Herrschaftsverhältnisse stabilisieren, sie verschüttet aber auch intellektuelles Potential, das für die Entwicklung dienlich wäre. China scheint daher weiter auf Impulse aus dem Ausland angewiesen zu sein, die nicht nur die Wirtschaft, sondern gleichsam gesellschaftliche Werte betreffen. Dabei geht es etwa um Umweltschutz, Technologiekritik, neue soziale Organisationsformen und alternative Forschungsbereiche. Ein etwaiger Argwohn von Führungskadern wird durch das hohe Maß an Interesse und Neugierde wettgemacht, mit dem ausländische Erfahrungen aufgenommen werden.