Chomsky: "Massenverehrung für Trump erinnert an Reichsparteitage unter Hitler"

Seite 2: Es könnte ein verheerender Bürgerkrieg drohen

Sollte Donald Trump wegen seiner Rolle bei der Erstürmung des Kapitols vor Gericht gestellt werden? Was wären die Konsequenzen, wenn er nicht verurteilt würde?

Noam Chomsky: Aus rein rechtlichen Gründen besteht kaum ein Zweifel daran, dass er vor Gericht gestellt werden sollte. Aber die möglichen Folgen dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Beim derzeitigen Zustand, dem gesellschaftlichen Kollaps und der chaotischen Verhältnisse, der nicht zuletzt auf den neoliberalen Angriff zurückzuführen ist, könnte ein Schuldspruch durchaus zu einem verheerenden Bürgerkrieg führen. Die Optionen – Verurteilung ja oder nein – sind beide schlecht. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, welche die weniger schlechte ist.

Trotz aller Unterschiede erinnern einige Aspekte der gegenwärtigen Krisenzustände an die 1910er und 1920er Jahre, als das kapitalistische Weltsystem von innen heraus zu implodieren drohte. Es kam zu schwerwiegenden sozialen und politischen Umwälzungen, während die nationalistische Kriegshysterie (1. Weltkrieg) den Weltfrieden untergrub. Auch damals schwankte die Gesellschaft zwischen Fortschritt und brutaler Reaktion. Können wir daraus etwas lernen?

Noam Chomsky: Ich bin alt genug, um direkte und lebendige Erinnerungen an die 1930er Jahre zu haben, als das weltweite staatskapitalistische System tatsächlich von innen heraus zu implodieren drohte. Die unglaubliche Massenverehrung von Trump weckt unweigerlich Erinnerungen an die Nürnberger Reichsparteitage unter Hitler – in vielerlei Hinsicht wird diese Tragödie heute als Farce nachgespielt, wenn man bedenkt, welch lächerliche Inhaltslosigkeit heute das Objekt der Bewunderung ist. Als Kind konnte ich die Angst vor der unaufhaltsamen Ausbreitung des faschistischen Schreckens spüren. Persönlich wurde sie durch das, was ich in den Straßen meines Viertels sehen konnte, noch verstärkt.

Ein Graffiti auf einer Hauswand mit Noam Chomsky. Bild: Tom Ipri / CC BY-NC 2.0

Die Befürchtungen wurden in Europa Wirklichkeit, als der Kontinent in die dunkle Nacht des Faschismus hinabstieg. In der Zwischenzeit schufen die USA unter dem Einfluss einer wiederbelebten und kämpferischen Arbeiterbewegung und mithilfe einer zu Veränderungen grundsätzlich fähigen Regierung die Grundlage für die moderne Sozialdemokratie. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich die Situation heute zum Teil umgedreht hat. In den USA ist die Gefahr eines Proto-Faschismus nur allzu offensichtlich. Europa klammert sich an einige der Elemente der Sozialdemokratien, die in den Nachkriegsjahren entstanden sind.

Einen düsteren Vorgeschmack auf die kommenden Jahre gab es im Mai in Budapest, wo sich die rechtsextremen Kräfte Europas in Orbáns "illiberaler Demokratie" trafen. Die Hauptattraktion war die American Conservative Action Conference, der Kern der Republikanischen Partei. Trump hielt eine Rede, in der er seine ungarischen Helden lobte, die Freiheit und Demokratie im Land austilgen. Der führende US-Fernsehkommentator Tucker Carlson schwelgt zugleich in ekstatischer Unterstützung für Orbáns rassistischen proto-faschistischen christlichen Nationalismus.

Die Lektionen sollten nicht vergessen werden. Es muss nicht so weit kommen, aber es könnte so weit kommen, wenn nicht energische und von Engagement getragene Anstrengungen unternommen werden, um eine deutlich bessere Welt zu schaffen, was möglich ist.

Vielen Dank für das Interview, Noam.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".