Chomsky: "Massenverehrung für Trump erinnert an Reichsparteitage unter Hitler"

US-Trumpismus, Orbán-Ungarn: Unaufhaltsames Wiedererwachen faschistischen Schreckens? Bild: TheDigitalArtist / Picabay Licence

Noam Chomsky sagt: In USA besteht reale Gefahr von Proto-Faschismus und Bürgerkrieg. Trump-Republikaner könnten Kontrolle über Kongress zurückerlangen. Kooperation mit Rechtsradikalen in Europa und Orbán-Ungarn. Was tun? (Teil 2)

Im zweiten Teil des Telepolis-Interviews mit David Goeßmann warnt US-Dissident Noam Chomsky, dass die "Nazi-Tragödie heute als Farce nachgespielt" werden könnte. Bei Verurteilung Trumps könnte ein verheerender Bürgerkrieg ausbrechen. Chomsky zeigt Wege auf, wie dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg von Trumpismus in den USA und Rechtsradikalismus in Europa begegnet werden kann. Hier geht es zum ersten Teil des Interviews mit Chomsky: "Wir können uns vom grausamen Staatskapitalismus befreien!"

Sie beschreiben die Lage, in der wir uns befinden, mit einer Person, die an Krebs erkrankt ist und vor zwei Möglichkeiten steht: sofort handeln oder den Krebs wachsen lassen. Im Moment lassen wir den Krebs weiter wachsen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt. Greta Thunbergs Aufruf, die Klimakrise als Krise zu behandeln, spricht sich gegen diese Laisser-faire-Haltung aus. Was hindert die Gesellschaften daran, vom politischen Normal- in den Krisen- und Notfallmodus zu wechseln und entschlossen zu handeln?
Noam Chomsky ist Professor für Linguistik in den USA, politischer Dissident und einer der meist zitierten Intellektuellen. Er hat rund 150 Bücher verfasst.
Noam Chomsky: Es gibt viele Hindernisse, wie wir sie im ersten Teil des Interviews über den Staatskapitalismus und die Interessen der Mächtigen diskutiert haben. Zum Glück kennen wir auch die Antworten auf die Krise. Was fehlt, ist der Wille und das Engagement, die Hindernisse zu überwinden und die Lösungen umzusetzen. Das ist nicht einfach. Wir sollten einen Weg finden, sonst wird das menschliche Experiment bald ein unrühmliches Ende finden.
Veränderungen, insbesondere weitreichende, müssen von unten erkämpft werden, wie Sie immer wieder betonen. Es braucht eine informierte, politisch engagierte Bevölkerung, um Fortschritte zu erzielen. Gleichzeitig sehen wir, dass die neoliberalen Verwüstungen der letzten Jahrzehnte die Gesellschaften verunsichert und gespalten haben. Der Kampf der Meinungen wird härter, Irrationalismus macht sich breit. Die Frustration wird gleichzeitig von rechtsradikalen Kräften gefördert und kanalisiert, mit zynischen politischen Vorschlägen, die die Demokratie erschüttern, wie es der Trumpismus in den USA tut. Gleichzeitig wachsen die Proteste für Klimaschutz und soziale und globale Gerechtigkeit. Worin sehen Sie angesichts der Unruhen in vielen Ländern die wichtigsten strategischen Herausforderungen für progressive Bewegungen, insbesondere im Hinblick auf die Zwischenwahlen und die Präsidentschaftswahlen in den USA?
Noam Chomsky: Die Zwischenwahlen könnten den US-Kongress an die Republikanische Partei übergeben, die seit 2008 – als es aussah, als ob sie einige Schritte in Richtung Vernunft machen wollte – zu einer Partei von zu 100 Prozent Klimawandel-Leugnern mutiert ist. Die rationale Rückbesinnung der Partei wurde in einem Moloch aus Bestechung, Einschüchterung, massiver Lobbyarbeit und Fake-Bürgerbewegungen wie der Tea-Party, die von dem Energiekonglomerat der Koch-Brüder ins Leben gerufen wurden, beendet. Mit reichlich Betrügerei, die derart offensichtlich ist, dass es sich nicht lohnt, sie im Einzelnen aufzuzählen. Er ist der GOP (Republikaner-Partei) bereits gelungen, den Obersten Gerichtshof in ein Instrument der Zerstörung umzuformen.
Ein Ziel ihres Kampfes gegen die Gesellschaft und das Überleben der Menschheit besteht darin, die staatliche Verwaltung auszuhebeln, das heißt, die Regierung zu hindern, sich darin einzumischen, wie die Mächtigen ihrer "grausame Profit-Maxime" folgen. Mit rechtlichen und gesetzlichen Tricks und Schikanen versuchen sie ihren Angriff auf die Gesellschaft zu verschleiern, aber damit müssen wir uns nicht lange aufhalten. Die Republikanische Partei hat sich inzwischen ganz offen dazu erklärt, das zu untergraben, was von einer funktionierenden Demokratie übrig geblieben ist, damit sie alle Zweige der Regierung auf unbestimmte Zeit kontrollieren können, ganz gleich, was die Bevölkerung will. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Andorra. Es ist der mächtigste Staat der Weltgeschichte. Wenn diese Pläne Erfolg haben, können wir uns voneinander und von der Welt verabschieden.
Das ist die eine der strategischen Herausforderungen. Darüber hinaus ist es notwendig, den neoliberalen Angriff zurückzudrängen. Wir sollten zugleich versuchen, die Verfassung wiederzubeleben und zumindest teilweise wieder eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk zu schaffen. Darüber hinaus sollten wir eine Gesellschaft anstreben, die auf echter Demokratie in allen Lebensbereichen basiert.

Es könnte ein verheerender Bürgerkrieg drohen

Sollte Donald Trump wegen seiner Rolle bei der Erstürmung des Kapitols vor Gericht gestellt werden? Was wären die Konsequenzen, wenn er nicht verurteilt würde?
Noam Chomsky: Aus rein rechtlichen Gründen besteht kaum ein Zweifel daran, dass er vor Gericht gestellt werden sollte. Aber die möglichen Folgen dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Beim derzeitigen Zustand, dem gesellschaftlichen Kollaps und der chaotischen Verhältnisse, der nicht zuletzt auf den neoliberalen Angriff zurückzuführen ist, könnte ein Schuldspruch durchaus zu einem verheerenden Bürgerkrieg führen. Die Optionen – Verurteilung ja oder nein – sind beide schlecht. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, welche die weniger schlechte ist.
Trotz aller Unterschiede erinnern einige Aspekte der gegenwärtigen Krisenzustände an die 1910er und 1920er Jahre, als das kapitalistische Weltsystem von innen heraus zu implodieren drohte. Es kam zu schwerwiegenden sozialen und politischen Umwälzungen, während die nationalistische Kriegshysterie (1. Weltkrieg) den Weltfrieden untergrub. Auch damals schwankte die Gesellschaft zwischen Fortschritt und brutaler Reaktion. Können wir daraus etwas lernen?
Noam Chomsky: Ich bin alt genug, um direkte und lebendige Erinnerungen an die 1930er Jahre zu haben, als das weltweite staatskapitalistische System tatsächlich von innen heraus zu implodieren drohte. Die unglaubliche Massenverehrung von Trump weckt unweigerlich Erinnerungen an die Nürnberger Reichsparteitage unter Hitler – in vielerlei Hinsicht wird diese Tragödie heute als Farce nachgespielt, wenn man bedenkt, welch lächerliche Inhaltslosigkeit heute das Objekt der Bewunderung ist. Als Kind konnte ich die Angst vor der unaufhaltsamen Ausbreitung des faschistischen Schreckens spüren. Persönlich wurde sie durch das, was ich in den Straßen meines Viertels sehen konnte, noch verstärkt.
Ein Graffiti auf einer Hauswand mit Noam Chomsky. Bild: Tom Ipri / CC BY-NC 2.0
Die Befürchtungen wurden in Europa Wirklichkeit, als der Kontinent in die dunkle Nacht des Faschismus hinabstieg. In der Zwischenzeit schufen die USA unter dem Einfluss einer wiederbelebten und kämpferischen Arbeiterbewegung und mithilfe einer zu Veränderungen grundsätzlich fähigen Regierung die Grundlage für die moderne Sozialdemokratie. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich die Situation heute zum Teil umgedreht hat. In den USA ist die Gefahr eines Proto-Faschismus nur allzu offensichtlich. Europa klammert sich an einige der Elemente der Sozialdemokratien, die in den Nachkriegsjahren entstanden sind.
Einen düsteren Vorgeschmack auf die kommenden Jahre gab es im Mai in Budapest, wo sich die rechtsextremen Kräfte Europas in Orbáns "illiberaler Demokratie" trafen. Die Hauptattraktion war die American Conservative Action Conference, der Kern der Republikanischen Partei. Trump hielt eine Rede, in der er seine ungarischen Helden lobte, die Freiheit und Demokratie im Land austilgen. Der führende US-Fernsehkommentator Tucker Carlson schwelgt zugleich in ekstatischer Unterstützung für Orbáns rassistischen proto-faschistischen christlichen Nationalismus.
Die Lektionen sollten nicht vergessen werden. Es muss nicht so weit kommen, aber es könnte so weit kommen, wenn nicht energische und von Engagement getragene Anstrengungen unternommen werden, um eine deutlich bessere Welt zu schaffen, was möglich ist.
Vielen Dank für das Interview, Noam.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".