Chomsky: US-Sanktionen schaden Iraner:innen und helfen Protesten nicht

Seite 2: USA werden versuchen, Regime zu untergraben

Im Westen werden die Proteste weithin als Teil eines kontinuierlichen Kampfes für einen säkularen, demokratischen Iran interpretiert, wobei jedoch völlig außer Acht gelassen wird, dass sich die derzeitigen revolutionären Kräfte im Iran nicht nur gegen die reaktionäre Regierung in Teheran, sondern auch gegen den neoliberalen Kapitalismus und die Hegemonie der USA wenden. Die iranische Regierung hingegen, die mit brutalen Mitteln gegen die Demonstrationen im ganzen Land vorgeht, macht "ausländische Kräfte" für die Proteste verantwortlich. Inwieweit sollten wir mit einer Interaktion ausländischer Mächte mit inländischen Kräften im Iran rechnen? Immerhin spielte eine solche Interaktion eine wichtige Rolle bei der Gestaltung und dem Schicksal der Proteste, die 2010 und 2011 in der arabischen Welt ausbrachen.

Noam Chomsky: Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die USA Bemühungen unterstützen werden, das Regime zu unterminieren, das seit 1979 ein Hauptfeind ist, nachdem der von den USA unterstützte Tyrann, der 1953 durch einen Militärputsch wieder eingesetzt worden war, durch einen Volksaufstand gestürzt wurde.

Die USA unterstützten danach ihren damaligen Partner Saddam Hussein bei seinem mörderischen Angriff auf den Iran und griffen schließlich direkt ein, um die faktische Kapitulation des Irans zu erreichen – eine Erfahrung, die die Iraner nicht vergessen haben, und schon gar nicht die politisch herrschende Klasse im Land.

Als der Krieg zu Ende war, verhängten die USA harte Sanktionen gegen den Iran. Präsident Bush I – der "Staatsmann Bush" – lud irakische Nuklearingenieure in die USA ein, um sie in der Entwicklung von Nuklearwaffen zu schulen, und schickte eine hochrangige Delegation in den Irak, die Saddam Washingtons umfängliche Unterstützung versicherte. Das alles waren sehr ernste Drohungen gegenüber dem Iran.

Die Bestrafung des Irans wurde seitdem fortgesetzt und ist nach wie vor ein die Parteien überwölbender politischer Konsens, der in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wird. Großbritannien – Irans traditioneller Folterer, bevor die USA das Land bei dem Staatsstreich von 1953, der die iranische Demokratie stürzte, verdrängten – wird wahrscheinlich wie üblich gehorsam mit vielleicht anderen Verbündeten an der Seite der USA verbleiben. Israel wird sicherlich alles tun, um seinen Erzfeind von 1979 zu stürzen, der zuvor unter dem Schah ein enger Verbündeter war, auch wenn die Partnerschaft heimlich ablief.

Sowohl die USA als auch die Europäische Union haben wegen der Niederschlagung der Proteste neue Sanktionen gegen den Iran verhängt. Waren die Sanktionen gegen den Iran nicht kontraproduktiv? Neigen sanktionierte Regime nicht eher dazu, autoritärer und repressiver zu werden, wobei die einfachen Menschen viel mehr leiden als die Machthaber?

Noam Chomsky: Man muss sich immer fragen: Kontraproduktiv für wen? Sanktionen haben in der Regel die von Ihnen beschriebene Wirkung und wären "kontraproduktiv", wenn die angekündigten Ziele – die immer edel und human sind – etwas mit den tatsächlichen Zielen zu tun hätten. Das ist aber selten der Fall.

Die Sanktionen haben die iranische Wirtschaft schwer geschädigt und im Übrigen enormes Leid verursacht. Aber das ist seit über 40 Jahren das Ziel der USA. Für Europa sieht die Lage anders aus. Die europäische Wirtschaft sieht im Iran eine Chance für Investitionen, Handel und Rohstoffgewinnung, die durch die US-Politik, die den Iran zugrunde richten will, blockiert wird.

Das Gleiche gilt für die amerikanischen Unternehmen. Dies ist einer der seltenen und lehrreichen Fälle – Kuba ist ein anderer –, in dem die kurzfristigen Interessen derjenigen, die faktisch das Land besitzen, von der Regierung, die sie weitgehend kontrollieren, nicht "mit höchster Priorität beachtet" werden (um Adam Smiths Ausdruck für die gängige politische Praxis zu benutzen).

Die Regierung verfolgt in diesem Fall weitergehende Klasseninteressen und duldet keine "gefährlichen" Sonderwege. Das ist ein wichtiger Punkt, der im Falle des Iran in gewisser Weise auf das frühe Interesse Washingtons am Iran im Jahr 1953 zurückgeht. Und im Falle Kubas geht es auf die Befreiung des Landes 1959 zurück.

Eine letzte Frage: Welche Auswirkungen könnten die Proteste im gesamten Nahen Osten haben?

Noam Chomsky: Das hängt sehr stark vom Ausgang ab, der noch in der Schwebe ist. Ich sehe keinen Anlass dafür, große Konsequenzen zu erwarten, egal wie sie ausfallen. Der schiitische Iran ist in der überwiegend sunnitischen Region ziemlich isoliert. Die sunnitischen Diktaturen am Golf sind dabei, ihre Beziehungen zum Iran zu verbessern, sehr zum Missfallen Washingtons, aber sie werden sich kaum um die brutale Unterdrückung der Bevölkerung kümmern, die sie in ihren eigenen Ländern selbst ausüben.

Eine erfolgreiche Volksrevolution würde sie zweifellos beunruhigen und könnte "ansteckend wirken", wie es Henry Kissinger als Doktrin einmal auf den Punkt brachte. Aber das ist im Moment noch zu unwahrscheinlich, um Spekulationen darüber anstellen zu können.

Übersetzung: David Goeßmann.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".