Chomsky: Was passiert, wenn Befehlen aus Washington nicht gefolgt wird?
Seite 2: Wenn Konzerne nur widerwillig der US-Außenpolitik folgen
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Organisierte Unternehmensinteressen hatten in den letzten zwei Jahrhunderten einen entscheidenden Einfluss auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Heute wird jedoch argumentiert, dass die Hegemonie der Wirtschaft über die Außenpolitik der USA nachlässt, und China wird als Beweis dafür angeführt, dass Washington nicht mehr auf die Ökonomie hört. Aber ist es nicht so, dass der kapitalistische Staat zwar immer für die allgemeinen Interessen der Wirtschaft arbeitet, aber auch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit besitzt und andere Faktoren in die Gleichung einfließen, wenn es um die Umsetzung der Außenpolitik und die Verwaltung der Außenbeziehungen geht? Mir scheint, dass die Außenpolitik der USA gegenüber Kuba zum Beispiel ein Beweis für die relative Unabhängigkeit des Staates von den wirtschaftlichen Interessen der kapitalistischen Klassen ist.
Noam Chomsky: Es mag eine Karikatur sein, den kapitalistischen Staat als Exekutivkomitee der herrschenden Klasse zu bezeichnen, aber es ist eine Karikatur von etwas, das es gibt und schon seit Langem gibt.
Erinnern wir uns noch einmal an Adam Smiths Beschreibung der frühen Tage des kapitalistischen Imperialismus, als die "Herren der Menschheit", denen die Wirtschaft Englands gehörte, die "Hauptarchitekten" der Staatspolitik waren und dafür sorgten, dass ihre eigenen Interessen angemessen bedient wurden, egal, wie schlimm die Auswirkungen auf andere waren.
Zu diesen anderen gehörten die Menschen in England, aber noch viel mehr die Opfer der "grausamen Ungerechtigkeit" der Herren, insbesondere in Indien in den frühen Tagen der Zerstörung des Landes, das damals zusammen mit China die reichste Gesellschaft der Erde war. Währenddessen stahl England Indiens weiter fortgeschrittene Technologie.
Einige Grundsätze, wie die Welt geordnet wird, haben eine lange Lebensdauer.
Es sollte nicht nötig sein, erneut darzulegen, wie sehr sich die Außenpolitik der USA bis heute an Smiths Maxime hält. Ein Leitsatz lautet, dass die USA nicht dulden werden, was Vertreter des Außenministeriums als "die Philosophie des neuen Nationalismus" bezeichnen.
Diese umfasste "eine Politik, die darauf abzielt, eine breitere Verteilung des Wohlstands zu erreichen und den Lebensstandard der Massen zu erhöhen". Dazu kommt die als gefährlich angesehene Idee, "dass die ersten Nutznießer der Ressourcen eines Landes die Menschen dieses Landes sein sollten."
Das ist nicht der Fall. Die ersten Nutznießer sind die Investoren, vor allem aus den USA.
Diese harte Lektion wurde den rückständigen Lateinamerikanern auf einer von den USA 1945 einberufenen hemisphärischen Konferenz erteilt, auf der eine Wirtschaftscharta für die Amerikas verabschiedet wurde, die den abtrünnigen Glauben ausmerzte. Solche "Irrlehren" waren aber nicht auf Lateinamerika beschränkt.
Vor achtzig Jahren schien es, als würde die Welt endlich aus dem Elend der Weltwirtschaftskrise und den Schrecken des Faschismus herauskommen. Eine Welle radikaler Demokratie breitete sich in weiten Teilen der Welt aus, mit der Hoffnung auf eine gerechtere und menschlichere Weltordnung.
Für die USA und ihren britischen Juniorpartner bestand das erste Gebot darin, diese Bestrebungen zu unterbinden und die traditionelle Ordnung wiederherzustellen, einschließlich der faschistischen Kollaborateure, zunächst in Griechenland (mit enormer Gewalt) und Italien, dann in ganz Westeuropa und schließlich auch in Asien.
Russland spielte eine ähnliche Rolle in seinen eigenen, weniger bedeutenden Gebieten. Das waren die ersten Kapitel der Nachkriegsgeschichte.
Während Smiths Herren der Menschheit ganz allgemein dafür sorgen, dass die staatliche Politik ihren unmittelbaren Interessen dient, gibt es Ausnahmen, die einen guten Einblick in die Politikgestaltung geben. Eine davon haben wir gerade angesprochen: Kuba.
Nicht nur die Welt wehrt sich vehement gegen die Sanktionspolitik, der sie sich beugen muss. Das Gleiche gilt für mächtige Sektoren unter den Fittichen der "Herren der Menschheit", einschließlich des Energiesektors, der Agrarindustrie und insbesondere der Pharmaindustrie, die sich gerne mit der fortschrittlichen Industrie Kubas verbinden würden.
Doch das Exekutivkomitee in Washington verbietet das. Ihre kurzfristigen Eigeninteressen werden von dem langfristigen Streben überlagert, eine "erfolgreiche Missachtung" gegenüber der US-Politik zu bestrafen, die auf die Monroe-Doktrin zurückgeht, wie das Außenministerium vor 60 Jahren erklärte.
Jeder Mafia-Pate würde das verstehen.
Ein und dieselbe Person würde im gegebenen Fall als Vorstandsvorsitzender eines Unternehmens eine andere Entscheidung treffen als im Außenministerium. Er hat in beiden Fällen zwar dieselben Interessen im Auge, aber eine andere Perspektive, wie sie durchzusetzen sind.
Ein weiterer Fall ist der Iran, in diesem Fall geht er auf das Jahr 1953 zurück, als die parlamentarische Regierung versuchte, die Kontrolle über die immensen Erdölvorkommen des Landes zu erlangen. Wobei sie den Fehler beging zu glauben, "dass die ersten Nutznießer der Ressourcen eines Landes die Bevölkerung dieses Landes sein sollte".
Großbritannien, der traditionelle Aufpasser im Iran, war nicht mehr in der Lage, die Aushebelung der alten Ordnung zu unterdrücken, und rief die transatlantische Macht mit den echten Muskeln auf den Plan. Die USA stürzten die Regierung und setzten die Diktatur des Schahs ein – der erste Schritt, mit dem das iranische Volk durch die USA gefoltert wurde, was bis heute ohne Unterlass anhält und das britische Erbe fortsetzt.
Doch es gab ein Problem. Als Teil des Abkommens verlangte Washington, dass US-Konzerne 40 Prozent der britischen Konzession übernehmen sollten, wozu sie jedoch aus kurzfristigen Gründen nicht bereit waren. Denn es würde ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien beeinträchtigen, wo die Ausbeutung der dortigen Ressourcen billiger und profitabler war.
Die Eisenhower-Regierung drohte den Unternehmen mit Kartellklagen, und sie fügten sich. Es war zwar keine große Belastung, aber eine, die die Unternehmen nicht wollten.
Die Spannung zwischen dem politischen Washington und den US-Konzernen hält bis heute an. Wie im Fall von Kuba lehnen sowohl europäische als auch US-amerikanische Unternehmen die harten US-Sanktionen gegen den Iran entschieden ab, sind aber gezwungen, sie zu befolgen, wodurch sie vom lukrativen iranischen Markt abgeschnitten werden.
Auch hier überwiegt das Interesse des Staates, den Iran für seine "erfolgreiche Missachtung" von US-Befehlen zu bestrafen, gegenüber den kurzfristigen Profitinteressen des Landes.
Das heutige China ist ein viel größerer Fall. Weder europäische noch US-amerikanische Unternehmen sind glücklich über Washingtons Kampagne, "Chinas Innovationsrate zu verlangsamen", während sie den Zugang zum reichen chinesischen Markt verlieren. Es scheint, dass die US-Unternehmen einen Weg gefunden haben, die Handelsbeschränkungen zu umgehen.
Eine Analyse der asiatischen Wirtschaftspresse ergab "eine gut voraussagbare Beziehung zwischen den Importen dieser Länder [Vietnam, Mexiko, Indien] aus China und ihren Exporten in die Vereinigten Staaten", was darauf hindeutet, dass der Handel mit China einfach umgelenkt wurde.
In derselben Studie heißt es, dass "Chinas Anteil am internationalen Handel stetig zunimmt. Sein Exportvolumen ... ist seit 2018 um 25 Prozent gestiegen, während das Exportvolumen der Industrieländer stagnierte."
Es bleibt abzuwarten, wie die europäische, japanische und südkoreanische Industrie auf die Anweisung reagieren wird, auf einen Hauptmarkt zu verzichten, um das Ziel der USA zu erfüllen, Chinas Entwicklung zu verhindern. Das wäre ein herber Schlag, viel schlimmer als der Verlust des Zugangs zum Iran oder natürlich auch zu Kuba.
Vor mehr als zwei Jahrhunderten stellte Immanuel Kant seine Theorie des immerwährenden Friedens als die einzig vernünftige Art und Weise vor, wie Staaten miteinander koexistieren können. Doch der ewige Frieden bleibt eine Fata Morgana, ein unerreichbares Ideal. Könnte es sein, dass eine weltpolitische Ordnung, die den Nationalstaat als primäre Einheit abschafft, eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung des immerwährenden Friedens ist?
Noam Chomsky: Kant vertrat die Ansicht, dass die Vernunft in einer wohlwollenden globalen politischen Ordnung den ewigen Frieden herbeiführen würde. Ein anderer großer Philosoph, Bertrand Russell, sah die Dinge etwas anders, als er nach den Aussichten für den Weltfrieden gefragt wurde:
Nach Zeitaltern, in denen die Erde harmlose Trilobiten [ausgestorbene Gliederfüßler] und Schmetterlinge hervorbrachte, ist die Evolution so weit fortgeschritten, dass sie Neros, Dschingis Khans und Hitlers hervorgebracht hat. Ich glaube jedoch, dass dies ein vorübergehender Alptraum ist; mit der Zeit wird die Erde wieder zu ihrer Unfähigkeit zurückkehren, Leben auf ihr aufrechtzuerhalten, und der Frieden wird zurückkehren.
Ich maße mir nicht an, mich in diese Reihe zu stellen. Ich würde gerne glauben, dass die Menschen die Fähigkeit haben, es viel besser zu machen, als Russell vorausgesagt hat, auch wenn sie nicht Kants Ideal erreichen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Common Dreams. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".