Chomsky: Was passiert, wenn Befehlen aus Washington nicht gefolgt wird?

Kollaps oder Frieden, in welche Richtung sich die Welt entwickele, hänge stark von Entwicklungen in den USA ab, sagt Chomsky. Bild: Asadr1337 / CC BY-SA 4.0

Es ist die Zeit der Monster. Chomsky beschreibt die Zerfallsprozesse. Rechter Kollaps in den Ex-Zentren, rebellierende Konzerne, Befehlsverweigerung der aufsteigenden Staaten. Und dann? (Teil 2, Schluss)

Den ersten Teil des Interviews "Noam Chomsky über den gefährlichsten Punkt in der Geschichte der Menschheit" finden sie hier. Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou.

Wir haben bei unzähligen Gelegenheiten sowohl von politischen Experten als auch von einflussreichen Wissenschaftlern gehört, dass die Demokratie im Niedergang begriffen ist. In der Tat behauptete die Economist Intelligence Unit (EIU) Anfang 2022, dass nur 6,4 Prozent der Weltbevölkerung in einer "vollständigen Demokratie" leben, obwohl es alles andere als klar ist, was das konservative Wochenmagazin The Economist unter "vollständiger Demokratie" versteht. Aber wir können uns alle darauf einigen, dass es mehrere Schlüsselindikatoren gibt, die auf eine Dysfunktion der Demokratie im 21. Jahrhundert hinweisen. Aber ist es nicht auch so, dass die Wahrnehmung einer Krise der Demokratie schon fast so lange existiert wie die moderne Demokratie selbst? Und ist es nicht auch so, dass sich die allgemeine Rede von einer Krise der Demokratie ausschließlich auf das Konzept der liberalen Demokratie bezieht, die alles andere als eine echte Demokratie ist?

Noam Chomsky: Was genau ist eine Krise der Demokratie? Der Begriff ist bekannt. Er war zum Beispiel der Titel der ersten Veröffentlichung der Trilateralen Kommission, liberaler Intellektueller aus Europa, Japan und den USA.

Dieser Titel steht neben dem Powell-Memorandum als einer der Vorboten des neoliberalen Angriffs, der in der Carter-Administration (meist Trilateralisten) an Fahrt aufnahm und mit Reagan und Thatcher seinen Lauf nahm. Das Powell-Memorandum, das sich an die Geschäftswelt richtete, war die harte, konservative Seite. Der Bericht der Trilateralen Kommission war die weiche, liberale Seite.

Das Powell-Memorandum, das von Richter Lewis Powell verfasst wurde, nahm kein Blatt vor den Mund. Es forderte die Businesswelt auf, ihre Macht zu nutzen, um das abzuwehren, was sie als einen großen Angriff auf die Wirtschaft ansah – was darin gesehen wurde, dass der Unternehmenssektor nicht mehr fast alles frei kontrollieren konnte, sondern dass es einige zarte Bemühungen gab, seine Macht einzuschränken.

Das Aufblitzen von Paranoia und wilden Übertreibungen gibt zu denken, aber die Botschaft war klar: einen harten Klassenkrieg zu starten und den "unruhigen Zeiten" ein Ende zu setzen, ein Standardbegriff für den Aktivismus der 1960er-Jahre, der die Gesellschaft stark zivilisiert hat.

Wie Powell waren auch die Trilateralisten besorgt über die "unruhigen Zeiten". Die Krise der Demokratie bestand darin, dass der Aktivismus der 60er-Jahre zu viel Demokratie hervorgebracht habe.

Alle möglichen Gruppen forderten mehr Rechte: die Jungen, die Alten, die Frauen, die Arbeiter, die Landwirte, manchmal auch "Sonderinteressen" genannt. Eine besondere Sorge galt dem Versagen der Institutionen, die "für die Indoktrination der Jugend" verantwortlich waren: Schulen und Universitäten.

Sie wurden verantwortlich gemacht. Deshalb sähe man so viele junge Leute, die mit ihren Aktivitäten die Gesellschaft störten. Solche Bestrebungen des Volkes wurden als untragbare Belastung für den Staat angesehen, der auf diese Sonderinteressen nicht reagieren konnte. Also hatten wir eine Krise der Demokratie.

Die Lösung lag auf der Hand: "mehr Mäßigung der Demokratie". Mit anderen Worten, eine Rückkehr zu Passivität und Gehorsam, damit kurioserweise die Demokratie gedeihen kann.

Dieses Demokratiekonzept hat tiefe Wurzeln, die bis zu den Gründervätern und den Briten vor ihnen zurückreichen und in wichtigen Werken zur Demokratietheorie von Denkern des 20. Jahrhunderts wiederbelebt wurden, darunter Walter Lippmann, der prominenteste öffentliche Intellektuelle, Edward Bernays, ein Guru der mächtigen PR-Industrie, Harold Lasswell, einer der Begründer der modernen Politikwissenschaft, und Reinhold Niebuhr, der als Theologe des liberalen Establishments bekannt ist.

Alle waren gute Liberale im Stile der US-Präsidenten Wilson, Roosevelt und Kennedy. Sie alle stimmten mit den Gründervätern der Vereinigten Staaten darin überein, dass die Demokratie eine Gefahr darstellt, die es zu bannen gilt.

Die Bürger des Landes haben in einer gut funktionierenden Demokratie die Aufgabe, alle paar Jahre einen Hebel zu betätigen, um jemanden zu wählen, der ihnen von den "verantwortlichen Männern" angeboten wird. Sie sollen "Zuschauer, nicht Teilnehmer" sein und mit "notwendigen Illusionen" und "gefühlsstarken Vereinfachungen" bei der Stange gehalten werden, was Lippmann die "Herstellung von Zustimmung" nannte, eine Hauptaufgabe jeder Demokratie.

Die Erfüllung dieser Bedingungen würde eine "vollständige Demokratie" darstellen, wie das Konzept in der liberalen Demokratietheorie verstanden wird. Andere mögen andere Ansichten haben. Aber wer von dem Vorgegebenen abweicht, ist Teil des Problems, nicht der Lösung, um es mit Reagan zu sagen.

Um auf die Besorgnis über den Niedergang der Demokratie zurückzukommen: Selbst diese "vollständige Demokratie" im oben beschriebenen Sinn ist in ihren traditionellen Zentren im Niedergang begriffen. In Europa versetzt die rassistische "illiberale Demokratie" von Ministerpräsident Viktor Orban in Ungarn die Europäische Union in Unruhe, ebenso wie Polens Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit und andere Organisationen, die ihre zutiefst autoritären Tendenzen teilen.

Kürzlich war Orban Gastgeber einer Konferenz der rechtsextremen Bewegungen in Europa, von denen einige neofaschistische Wurzeln haben. Das US-amerikanische National Conservative Political Action Committee (NCPAC), ein Kernelement der heutigen Republikanischen Partei, war einer der Hauptteilnehmer. Donald Trump hielt eine wichtige Rede. Tucker Carlson steuerte einen Dokumentarfilm bei, eine Ehrerbietung.

Kurz darauf hielt das NCPAC eine Konferenz in Dallas, Texas, ab, auf der Orban als Hauptredner auftrat, der als führender Vertreter des autoritären weißen christlichen Nationalismus gepriesen wird.

Das ist nicht zum Spaßen. Sowohl auf bundesstaatlicher als auch auf nationaler Ebene sucht die heutige Republikanische Partei in den USA, die ihre frühere Rolle als parlamentarische Partei aufgegeben hat, nach Wegen, um als Minderheitenorganisation, die sich einer illiberalen Demokratie im Stil Orbans verschrieben hat, dauerhaft die politische Kontrolle zu erlangen.

Ihr Anführer, Trump, hat keinen Hehl aus seinen Plänen gemacht, den parteilich ungebundenen öffentlichen Dienst, Grundlage jeder modernen Demokratie, durch treue Loyalisten zu bevölkern, einen halbwegs seriösen Unterricht US-amerikanischer Geschichte zu verhindern und Nischen einer mehr als nur formalen und begrenzten Demokratie zu beseitigen.

Im mächtigsten Staat der Menschheitsgeschichte, mit einer langen, gemischten, manchmal fortschrittlichen demokratischen Tradition, sind das keine Nebensächlichkeiten.

Länder an der Peripherie des globalen Systems scheinen zu versuchen, sich vom Einfluss Washingtons zu lösen und fordern zunehmend eine neue Weltordnung. So folgt beispielsweise Saudi-Arabien sogar dem Iran, um sich dem chinesischen und russischen Sicherheitsblock anzuschließen. Welche Auswirkungen hat diese Neuordnung der globalen Beziehungen, und wie wahrscheinlich ist es, dass Washington diesen Prozess mit taktischen Mitteln aufhalten wird, damit er nicht weiter voranschreitet?

Noam Chomsky: Im März trat Saudi-Arabien der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit bei. Kurz darauf folgte das zweite Erdöl-Schwergewicht des Nahen Ostens, die Vereinigten Arabischen Emirate, die bereits zu einem Knotenpunkt für Chinas maritime Seidenstraße geworden waren, die von Kalkutta in Ostindien durch das Rote Meer nach Europa führt.

Diese Entwicklungen folgten auf Chinas Vermittlung eines Abkommens zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die zuvor erbitterte Feinde waren, und damit die Bemühungen der USA, das Regime zu isolieren und zu stürzen, erschweren. Washington beteuert zwar, nicht besorgt zu sein, aber das ist schwer zu glauben.

Seit der Entdeckung des Öls in Saudi-Arabien im Jahr 1938 und der baldigen Erkenntnis seines außerordentlichen Ausmaßes hat die Kontrolle Saudi-Arabiens für die USA hohe Priorität. Das Abdriften des Landes in die Unabhängigkeit – und schlimmer noch, in die expandierende Wirtschaftssphäre Chinas – muss in politischen Kreisen tiefe Besorgnis hervorrufen. Dies ist ein weiterer großer Schritt in Richtung einer multipolaren Ordnung, die den USA ein Gräuel ist.

Bislang haben die USA keine wirksame Taktik entwickelt, um diesen starken Tendenzen im Weltgeschehen zu begegnen, die viele Ursachen haben – einschließlich der Selbstzerstörung der US-amerikanischen Gesellschaft und des politischen Lebens.

Wenn Konzerne nur widerwillig der US-Außenpolitik folgen

Organisierte Unternehmensinteressen hatten in den letzten zwei Jahrhunderten einen entscheidenden Einfluss auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Heute wird jedoch argumentiert, dass die Hegemonie der Wirtschaft über die Außenpolitik der USA nachlässt, und China wird als Beweis dafür angeführt, dass Washington nicht mehr auf die Ökonomie hört. Aber ist es nicht so, dass der kapitalistische Staat zwar immer für die allgemeinen Interessen der Wirtschaft arbeitet, aber auch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit besitzt und andere Faktoren in die Gleichung einfließen, wenn es um die Umsetzung der Außenpolitik und die Verwaltung der Außenbeziehungen geht? Mir scheint, dass die Außenpolitik der USA gegenüber Kuba zum Beispiel ein Beweis für die relative Unabhängigkeit des Staates von den wirtschaftlichen Interessen der kapitalistischen Klassen ist.

Noam Chomsky: Es mag eine Karikatur sein, den kapitalistischen Staat als Exekutivkomitee der herrschenden Klasse zu bezeichnen, aber es ist eine Karikatur von etwas, das es gibt und schon seit Langem gibt.

Erinnern wir uns noch einmal an Adam Smiths Beschreibung der frühen Tage des kapitalistischen Imperialismus, als die "Herren der Menschheit", denen die Wirtschaft Englands gehörte, die "Hauptarchitekten" der Staatspolitik waren und dafür sorgten, dass ihre eigenen Interessen angemessen bedient wurden, egal, wie schlimm die Auswirkungen auf andere waren.

Zu diesen anderen gehörten die Menschen in England, aber noch viel mehr die Opfer der "grausamen Ungerechtigkeit" der Herren, insbesondere in Indien in den frühen Tagen der Zerstörung des Landes, das damals zusammen mit China die reichste Gesellschaft der Erde war. Währenddessen stahl England Indiens weiter fortgeschrittene Technologie.

Einige Grundsätze, wie die Welt geordnet wird, haben eine lange Lebensdauer.

Es sollte nicht nötig sein, erneut darzulegen, wie sehr sich die Außenpolitik der USA bis heute an Smiths Maxime hält. Ein Leitsatz lautet, dass die USA nicht dulden werden, was Vertreter des Außenministeriums als "die Philosophie des neuen Nationalismus" bezeichnen.

Diese umfasste "eine Politik, die darauf abzielt, eine breitere Verteilung des Wohlstands zu erreichen und den Lebensstandard der Massen zu erhöhen". Dazu kommt die als gefährlich angesehene Idee, "dass die ersten Nutznießer der Ressourcen eines Landes die Menschen dieses Landes sein sollten."

Das ist nicht der Fall. Die ersten Nutznießer sind die Investoren, vor allem aus den USA.

Diese harte Lektion wurde den rückständigen Lateinamerikanern auf einer von den USA 1945 einberufenen hemisphärischen Konferenz erteilt, auf der eine Wirtschaftscharta für die Amerikas verabschiedet wurde, die den abtrünnigen Glauben ausmerzte. Solche "Irrlehren" waren aber nicht auf Lateinamerika beschränkt.

Vor achtzig Jahren schien es, als würde die Welt endlich aus dem Elend der Weltwirtschaftskrise und den Schrecken des Faschismus herauskommen. Eine Welle radikaler Demokratie breitete sich in weiten Teilen der Welt aus, mit der Hoffnung auf eine gerechtere und menschlichere Weltordnung.

Für die USA und ihren britischen Juniorpartner bestand das erste Gebot darin, diese Bestrebungen zu unterbinden und die traditionelle Ordnung wiederherzustellen, einschließlich der faschistischen Kollaborateure, zunächst in Griechenland (mit enormer Gewalt) und Italien, dann in ganz Westeuropa und schließlich auch in Asien.

Russland spielte eine ähnliche Rolle in seinen eigenen, weniger bedeutenden Gebieten. Das waren die ersten Kapitel der Nachkriegsgeschichte.

Während Smiths Herren der Menschheit ganz allgemein dafür sorgen, dass die staatliche Politik ihren unmittelbaren Interessen dient, gibt es Ausnahmen, die einen guten Einblick in die Politikgestaltung geben. Eine davon haben wir gerade angesprochen: Kuba.

Nicht nur die Welt wehrt sich vehement gegen die Sanktionspolitik, der sie sich beugen muss. Das Gleiche gilt für mächtige Sektoren unter den Fittichen der "Herren der Menschheit", einschließlich des Energiesektors, der Agrarindustrie und insbesondere der Pharmaindustrie, die sich gerne mit der fortschrittlichen Industrie Kubas verbinden würden.

Doch das Exekutivkomitee in Washington verbietet das. Ihre kurzfristigen Eigeninteressen werden von dem langfristigen Streben überlagert, eine "erfolgreiche Missachtung" gegenüber der US-Politik zu bestrafen, die auf die Monroe-Doktrin zurückgeht, wie das Außenministerium vor 60 Jahren erklärte.

Jeder Mafia-Pate würde das verstehen.

Ein und dieselbe Person würde im gegebenen Fall als Vorstandsvorsitzender eines Unternehmens eine andere Entscheidung treffen als im Außenministerium. Er hat in beiden Fällen zwar dieselben Interessen im Auge, aber eine andere Perspektive, wie sie durchzusetzen sind.

Ein weiterer Fall ist der Iran, in diesem Fall geht er auf das Jahr 1953 zurück, als die parlamentarische Regierung versuchte, die Kontrolle über die immensen Erdölvorkommen des Landes zu erlangen. Wobei sie den Fehler beging zu glauben, "dass die ersten Nutznießer der Ressourcen eines Landes die Bevölkerung dieses Landes sein sollte".

Großbritannien, der traditionelle Aufpasser im Iran, war nicht mehr in der Lage, die Aushebelung der alten Ordnung zu unterdrücken, und rief die transatlantische Macht mit den echten Muskeln auf den Plan. Die USA stürzten die Regierung und setzten die Diktatur des Schahs ein – der erste Schritt, mit dem das iranische Volk durch die USA gefoltert wurde, was bis heute ohne Unterlass anhält und das britische Erbe fortsetzt.

Doch es gab ein Problem. Als Teil des Abkommens verlangte Washington, dass US-Konzerne 40 Prozent der britischen Konzession übernehmen sollten, wozu sie jedoch aus kurzfristigen Gründen nicht bereit waren. Denn es würde ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien beeinträchtigen, wo die Ausbeutung der dortigen Ressourcen billiger und profitabler war.

Die Eisenhower-Regierung drohte den Unternehmen mit Kartellklagen, und sie fügten sich. Es war zwar keine große Belastung, aber eine, die die Unternehmen nicht wollten.

Die Spannung zwischen dem politischen Washington und den US-Konzernen hält bis heute an. Wie im Fall von Kuba lehnen sowohl europäische als auch US-amerikanische Unternehmen die harten US-Sanktionen gegen den Iran entschieden ab, sind aber gezwungen, sie zu befolgen, wodurch sie vom lukrativen iranischen Markt abgeschnitten werden.

Auch hier überwiegt das Interesse des Staates, den Iran für seine "erfolgreiche Missachtung" von US-Befehlen zu bestrafen, gegenüber den kurzfristigen Profitinteressen des Landes.

Das heutige China ist ein viel größerer Fall. Weder europäische noch US-amerikanische Unternehmen sind glücklich über Washingtons Kampagne, "Chinas Innovationsrate zu verlangsamen", während sie den Zugang zum reichen chinesischen Markt verlieren. Es scheint, dass die US-Unternehmen einen Weg gefunden haben, die Handelsbeschränkungen zu umgehen.

Eine Analyse der asiatischen Wirtschaftspresse ergab "eine gut voraussagbare Beziehung zwischen den Importen dieser Länder [Vietnam, Mexiko, Indien] aus China und ihren Exporten in die Vereinigten Staaten", was darauf hindeutet, dass der Handel mit China einfach umgelenkt wurde.

In derselben Studie heißt es, dass "Chinas Anteil am internationalen Handel stetig zunimmt. Sein Exportvolumen ... ist seit 2018 um 25 Prozent gestiegen, während das Exportvolumen der Industrieländer stagnierte."

Es bleibt abzuwarten, wie die europäische, japanische und südkoreanische Industrie auf die Anweisung reagieren wird, auf einen Hauptmarkt zu verzichten, um das Ziel der USA zu erfüllen, Chinas Entwicklung zu verhindern. Das wäre ein herber Schlag, viel schlimmer als der Verlust des Zugangs zum Iran oder natürlich auch zu Kuba.

Vor mehr als zwei Jahrhunderten stellte Immanuel Kant seine Theorie des immerwährenden Friedens als die einzig vernünftige Art und Weise vor, wie Staaten miteinander koexistieren können. Doch der ewige Frieden bleibt eine Fata Morgana, ein unerreichbares Ideal. Könnte es sein, dass eine weltpolitische Ordnung, die den Nationalstaat als primäre Einheit abschafft, eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung des immerwährenden Friedens ist?

Noam Chomsky: Kant vertrat die Ansicht, dass die Vernunft in einer wohlwollenden globalen politischen Ordnung den ewigen Frieden herbeiführen würde. Ein anderer großer Philosoph, Bertrand Russell, sah die Dinge etwas anders, als er nach den Aussichten für den Weltfrieden gefragt wurde:

Nach Zeitaltern, in denen die Erde harmlose Trilobiten [ausgestorbene Gliederfüßler] und Schmetterlinge hervorbrachte, ist die Evolution so weit fortgeschritten, dass sie Neros, Dschingis Khans und Hitlers hervorgebracht hat. Ich glaube jedoch, dass dies ein vorübergehender Alptraum ist; mit der Zeit wird die Erde wieder zu ihrer Unfähigkeit zurückkehren, Leben auf ihr aufrechtzuerhalten, und der Frieden wird zurückkehren.

Ich maße mir nicht an, mich in diese Reihe zu stellen. Ich würde gerne glauben, dass die Menschen die Fähigkeit haben, es viel besser zu machen, als Russell vorausgesagt hat, auch wenn sie nicht Kants Ideal erreichen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Common Dreams. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".