Clinton-Video legte Netz nicht lahm

Die Veröffentlichung des Intimen wird weitergehen

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Anders, als viele erwartet haben, war die Veröffentlichung des Clinton-Video kein Test für das Internet und Streaming Video. Zwar wurde mehr Software als sonst etwa von RealNetworks heruntergeladen, wo mit 200000 doppelt soviele Kopien von RealVideo übertragen wurden als sonst, doch nach einer kurzen Spitze zu Beginn der Übertragung des Video kam es wieder zu einem Datenverkehr, der nicht ungewöhnlich ist. Keine Rekorde also. Das Netz wurde in den USA ein wenig langsamer, aber hielt sich in den Grenzen bereits gewohnter "rush hours".

Sicher, die Menschen haben genug von der Affäre, die eher einem Zirkus gleicht, aber das nicht allzugroße Interesse hat sicher auch mit dem Internet zu tun. Es ist eben doch noch kein Massenmedium, das sich, was Bilder anbelangt, mit dem Fernsehen messen kann. Sites, die Clintons Video veröffentlichten, hatten, wie Netratings mitteilte, zwar anfänglich Probleme, doch wer mag sich im Internet schon vier Stunden lang einen Hauptdarsteller ansehen, dessen Enthüllungen auch nicht gerade mitreißend sind und wenig Neues bieten. Möglicherweise hatten manche auch Probleme damit, die notwendige Software zum Anschauen herunterzuladen und sie vor allem richtig zu installieren, aber die Neugierigen haben wohl - technisch gesehen - überwiegend die richtige Entscheidung getroffen und sich das Video im Fernsehen angeschaut. Einige Sender hatten sich entschlossen - wohl unter dem Druck wechselseitiger Konkurrenz -, das Video fast in voller Länge zu senden. Und im Fernsehen sind die Videobilder halt ebenso gut, wie sie aufgenommen wurden.

Hat doch das Fernsehen gewonnen? Nein, denn Videobilder sind eben etwas anderes als Text und einzelne Bilder. Das Netz hat eindeutig einen Vorteil, wenn es um Texte geht, was sich, um beim Anlaß zu bleiben, am Starr-Report gezeigt hatte. Keine Zeitung, kein Radio und erst recht kein Fernsehsender würde viele Seiten drucken, ablesen oder senden. Hier hat das Netz einen eindeutigen Vorteil, zumal sich das Dokument auch durchsuchen läßt, man sich nur das "Interessante" heraussuchen kann und die Übertragung schnell geschieht. Kaum jemand wird es sich ganz ausgedruckt haben. Wer alles wollte, für den wurden schnell Bücher hergestellt und zum Verkauf gebracht. Bislang hatte hinsichtlich des Clinton-Videos nur Amazon einen Rekord gebrochen: seit Samstag konnte man sich das Video für knapp 10 Dollar online vorbestellen - und es belegt noch immer den ersten Platz auf der Bestseller-Liste, was bislang nur "Titanic" geschafft hatte. (Hängt das vielleicht damit zusammen, daß in beiden Videos eine Katastrophe geschieht?)

Noch sind Fernsehen und Internet also nicht konvergiert, und es ist auch keineswegs abzusehen, in welcher Form diese Konvergenz geschehen wird. Viele gehen ja, weil die Aufmerksamkeit und die Zeit beschränkt sind, davon aus, daß mit zunehmender Zahl an Nutzern des Internet auch weniger gefernseht wird. Immerhin ist beispielsweise der durchschnittliche AOL-Kunde an die 45 Minuten täglich online, eine nicht unerhebliche Zeit. Eine kürzlich veröffentlichte Befragung von Nielsen Media Research scheint dem Bild vom tödlichen Wettkampf zu entsprechen: Haushalte, in denen das Internet stark benutzt wird, schauen zu 15 Prozent weniger in die Glotze als der Rest der Offline-Gesellschaft. Viele Untersuchungen ergeben allerdings ein entgegengesetztes Bild, nämlich daß die Menschen, die mehr und mehr Zeit im Internet verbringen, gleichzeitig auch mehr fernsehen. Aufgrund einer Befragung von MTV Networks sagte etwa MTV-Direktorin Betsy Frank: "Wir sehen, daß Medienkonsum zu weiterem Medienkonsum führt. Menschen hören nicht fernzusehen, weil sie online gehen. Sie machen beides mehr." Überdies würden sie auch mehr lesen. Auch eine neue, von Discovery Networks in Auftrag gegebene Untersuchung ließ erkennen, daß das Surfen im Netz nicht die Zeit vor dem Fernsehen verkürzt - abgesehen von Zuschauern im Alter zwischen 12 und 24 (vielleicht wächst da ja die Post-TV-Generation heran).

Das ist seltsam, denn man sollte doch meinen, daß man den Medienkonsum nicht endlos erweitern kann und die Medien in Konkurrenz um das knappe Gut der Zuschauerzeit liegen, die ja auch noch anderes machen müssen. Eine Lösung dieses erstaunlichen Sachverhalts könnte darin liegen, daß die Menschen gleichzeitig mehrere Medien benutzen. Das nennt man Multitasking: man surft im Netz, schreibt E-Mails, telefoniert, läßt die Glotze laufen ... Wenn die Menschen immer mehr gleichzeitig verschiedene "Fenster" geöffnet haben und ihre Aufmerksamkeit zwischen diesen hin- und herzappt, dann verliert zwar nicht unbedingt ein Medium gegenüber dem anderen, aber die Angebote werden sich stärker denn je auf die flüchtige Aufmerksamkeit ausrichten müssen, um sie überhaupt noch ansprechen zu können. Sie für längere Zeit zu halten, wird jedoch immer schwieriger werden. Ein vierstündiges Video wie das von Clinton ist in diesem Sinne wahrhaft ein Mediendinosaurier gegenüber der jetzt erforderlichen multimedialen Montage der Attraktionen.

Das Internet ist aber nicht nur ein Massenmedium für schriftliche "Informationen", sondern es hat gerade auch in der Clinton-Affäre eine andere Eigenschaft gezeigt. Beginnend mit Drudge über den Starr-Report bis hin zur jüngsten Veröffentlichung des 30 Jahre vergangenen Fehltritts des Vorsitzenden des Rechtsauschusses, des Republikaners Henry Hyde, im Internet-Magazin Salon kommen im Netz oft "Informationen" durch, die sonst keine Chance haben und von traditionellen Medien abgelehnt werden, auch wenn sie nach der Online-Veröffentlichung dann doch wieder schnell Eingang in sie finden. Niemand kann heute noch, so die Lehre daraus, den Fluß der Informationen wirklich kontrollieren, weil das Internet die Möglichkeit geschaffen hat, daß im Prinzip jeder ohne jeden großen Aufwand und billig alles weltweit veröffentlichen kann. Das ist in der Tat eine Demokratisierung, die jedoch auch einer etwaig noch verbliebenen journalistischen Ethik, wie sie jüngst wieder auf der Tagung der World Association of Press Councils in Istanbul angesichts der Behandlung der Clinton-Affäre gefordert wurde, das Wasser abgräbt. Zumindest handeln die Medien so, daß dann, wenn schon einmal etwas veröffentlicht wurde, man dies auch macht, weil es ja nicht mehr schadet - und man höchstens hinter die Konkurrenz zurückfällt, wenn man sich weigert.

Im Salon schrieb die Redaktion zum Entschluß, die Hyde-Story zu veröffentlichen, nachdem viele andere Medien kein Interesse gezeigt hatten: "Ugly times call for ugly tactics." Trotz Bombendrohung hatte Salon damit - wie einst Drudge - Erfolg und ist selbst wieder ein Stück bekannter geworden. Zu erwarten steht, daß die Überbietungsspirale in Sachen Veröffentlichung des Intimen weitergehen wird, nachdem das Verhalten von Clinton so detailreich und erschöpfend vor aler Augen untersucht wurde. Werden Medien, auch wenn die Menschen allmählich ermüden, neue Hinweise auf sexuelle Verhaltensweisen hoher Politiker unterdrücken, wenn sie sie erhalten? Damit ist kaum zu rechnen, zumal jetzt möglicherweise ein Libido-Check für alle Politiker einsetzt.

Schon jetzt haben einige republikanische Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen erklärt, daß sie niemals in ihrem Leben außereheliche Beziehungen eingegangen seien. Das fordert allein schon dazu heraus, sich das Intimleben aller Kandidaten einmal genauer anzusehen. Vielleicht könnte man ja gleich eine Heerschar an Sonderermittlern ins Amt setzen, denn irgendwo wird jeder irgendeinen dunklen Fleck haben. Zumindest werden sich Politiker überlegen, ob sie sich und ihre Familie den neuen Tests überhaupt aussetzen wollen. "Washington wird", wie die Los Angeles Times schreibt, "in einer Spirale in die nihilistische Politik hineingezogen, bei der die Vertreter jeder Partei nach dem einzigen persönlichen Fehltritt - dem "Etwas" - suchen, das die Führer der anderen entehren und zerstören kann." In den USA hat man den Wahlkampf jedenfalls fürs Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie entdeckt - Politik hört beim Unterleib nicht auf. Das haben ja schon andere immer wieder gesagt: Alles ist politisch. Die Frage ist nur, ob die damit verbundene political correctness im Zeitalter der vernetzten PCs zu immer prüderen Politikern führen wird oder ob sich die Moral liberalisiert, was auch hieße, daß Bett- und Zigarrengeschichten nicht mehr die Aufmerksamkeit der Medien auslösen. So oder so ist Clinton jedenfalls Pionier und Opfer zugleich.

Siehe auch die Kolumne von Michael Goldhaber: Die gerechte Strafe für die Sünden im Zeitalter der Aufmerksamkeit.