Commander Brian und der Anarchismus

Londons Top Cop diskutierte in linken Webforen und erklärte Cannabis zum Bagatell-Delikt; konzertierte Medienhetze könnte nun zu seiner Absetzung führen

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Ein Cop als Volksheld? Das gibts doch sonst nur im Fernsehen. Der Polizeichef des Londoner Bezirks Lambeth, Brian Paddick, hat es jedoch in den letzten Monaten zu außergewöhnlicher Popularität gebracht. Zunächst stand er hinter dem für britische Verhältnisse einmaligem Experiment, in dem lebendigen und bevölkerungsreichen Innenstadt-Bezirk Cannabis-Konsum zu tolerieren, um Polizeikräfte für schwerere Verbrechen frei zu halten. In der Vergangenht outete er sich als Englands hochrangigster, offen homosexueller Polizeibeamter. Dann mischte er sich auch noch in einem links-anarchistischem Web-Forum unter dem Nickname "Commander Brian" in die Diskussion und gestand, "das Konzept des Anarchismus anziehend" zu finden. Doch nun steht er selbst unter Verdacht des Drogenmissbrauchs und wurde auf einen Schreibtischposten versetzt.

Die steile Karriere von Commander Brian könnte von der fragwürdigen britischen Tradition des Scheckbuch-Journalismus zu Fall gebracht werden. Den stattlichen Betrag von 100.000 Pfund soll eine der sensationalistischen Sonntagszeitungen an einen ehemaligen Liebhaber Paddicks bezahlt haben, damit dieser auspackt. Der Ex-Lover des Kommandanten hielt sich nicht zurück: Neben ausführlichen Schilderungen sexueller Eskapaden in Saunas und anderen Cruising-Orten enthielt das Interview Vorwürfe über angeblichen Drogenmissbrauch des "Commanders". Paddick habe nicht nur geduldet, dass sein Lover in der gemeinsamen Wohnung Marihuana konsumierte, sondern habe in mehr als 100 Fällen selbst mitgeraucht.

Nach diesen "Enthüllungen" wurde Paddick vorläufig in die zweite Reihe versetzt, auf einen administrativen Posten bei Scotland Yard, solange eine interne Untersuchung über die Vorwürfe andauert. So richtig überrascht war allerdings niemand von diesem Gegenangriff durch die journalistischen Kettenhunde des Rechtspopulismus. Commander Brian habe mit dem Feuer gespielt und sich dabei die Hände verbrannt, lautete ein weit verbreiteter Pub-Kommentar.

Drogenliberalisierung in Brixton

Angefangen hatte alles mit dem Experiment, im Bezirk Lambeth kleinere Marihuana-Vergehen nur mit einem Verweis zu ahnden. Großbritannien hat eine der strengsten Drogengesetzgebungen Westeuropas. Jedes Delikt, sei es auch noch so klein, muss laut dem Buchstaben des Gesetzes strafrechtlich verfolgt werden. Drogen werden verschiedenen Kategorien zugeordnet und Marihuana oder Haschisch fallen unter sogenannte "Class B Drugs". Besitz, Konsum und Handel mit jeglicher Form von Cannabis, egal in welcher Menge, sind strafbar. Im Bezirk Lambeth, zu dem auch das Viertel Brixton gehört, mit einem hohen Anteil an karibischen Einwanderern, Künstlern, Bohemians und anderen, die das multikulturelle Flair und rege Nachtleben des Viertels schätzen, drohte die hohe Zahl der Verhaftungen wegen Cannabis-Delikten die Polizeiarbeit zu beeinträchtigen. Mit zeitraubenden bürokratischen Aufgaben bei der Abarbeitung der Fälle beschäftigt, fanden die Cops zu wenig Zeit, Händlern harter Drogen, Räubern und Einbrechern das Handwerk zu legen.

Brian Paddick, Bezirkskommandant der Polizei von Lambeth, gelang es im Sommer vergangenen Jahres, seine Vorgesetzten in den höheren Sphären Scotland Yards davon zu überzeugen, einen zeitlich begrenzten Feldversuch zu wagen. Seine Beamten sollten in Zukunft bei kleineren Cannabis-Delikten beide Augen zudrücken dürfen, um sich stattdessen mit größerer Vehemenz anderen Bereichen zuzuwenden. Jüngste Statistiken bestätigen, dass das Konzept aufzugehen scheint. Die Verhaftungen wegen harter Drogen (Class A: Kokain, Heroin, Crack) sind um 65% Prozent gestiegen, hingegen Straßenraub um 35% und Einbrüche um 8% gesunken. Die konservativen Kritiker Paddicks, die meinten, Brixton würde durch dieses Experiment zu einem Drogenmekka werden, das von Usern aus der gesamten Hauptstadt aufgesucht wird, um high zu werden, fanden sich in ihren Vermutungen nicht bestätigt.

Die Hauptleute anderer Bezirke Londons mit hoher Kriminalitätsrate wollen dem Beispiel Brixtons nun folgen. (Allerdings wurde am gestrigen Donnerstag, 21.03.2002, beschlossen, das Experiment auf keine anderen Bezirke auszudehnen, in Lambeth allerdings fortzuführen.) Der Innenminister, David Blunkett, denkt inzwischen sogar laut über eine Herabstufung von Cannabis auf Class C nach. Damit wäre die Droge zwar nicht komplett legalisiert, aber Besitz und Konsum kein Strafrechtsdelikt mehr. Findige Jungunternehmen stehen bereits in den Startlöchern, um in Brixton, Shoreditch, Portobello und anderen hippen Gegenden Coffee-Shops im Amsterdam-Stil aufzumachen.

Der diskussionsfreudige "Commander Brian"

Doch der Gegenangriff der konservativen Front konnte nicht ausbleiben, nicht zuletzt, da Brian Paddick sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Den ersten Eklat gab es, als Paddick vor einem parlamentarischen Ausschuss zu Drogenthemen sagte, dass es eigentlich auch kontraproduktiv sei, Konsumenten von Kokain und Ecstasy zu verfolgen, solange sie diese nur als Freizeitdrogen benutzen und zur Finanzierung ihres Konsums keine Straftaten begehen. Ein Aufschrei ging durch Presse und Politik und Paddick musste seine Äußerungen zurück nehmen.

Kurz darauf, im Januar dieses Jahres, tauchte ein mysteriöser "Commander Brian" in den Web-Foren der links-anarchistischen Website Urban75 auf. Seine Diskussionspartner konnten es zunächst nicht glauben, es mit dem Kommandanten Brian Paddick, dem Polizeichef ihres Viertels, zu tun zu haben. Den Zweiflern antwortete er unter anderem:

Where do I start? I am here as myself. I am a police officer and a human being. These are my own personal views. I am not giving some official view. I am doing this in my own time because I want to. I think it is really important that I talk to all sorts of people from all backgrounds to make sure I have a more balanced view of life. I really want to try to move beyond all the hate and anger people feel although I understand people are expressing how they really feel. This board provides an important place where people can express themselves and I would like to express myself as well.

Nach mehreren solchen Wortmeldungen und einer privaten E-Mail an den Moderator des Forums brach das Eis, "Commander Brian" wurde für voll genommen und gewann ein gewisses Maß Anerkennung in der Forums-Community, zumindest bei den meisten Teilnehmern. Kein Wunder, denn in seinen Forums-Beiträgen zeigte Commander Brian, dass er die außergewöhnliche Gabe - zumindest für einen Polizisten - hat, nicht nur offen und vielschichtig diskutieren zu können, sondern auch zuzuhören und sogar auf feindselige Postings ausgewogen zu antworten.

Genau das sollte jedoch an anderer Stelle zum Stein des Anstoßes werden. In einem Thread über den Brixton Movement for Justice March, bei dem es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei sowie zu Sachbeschädigungen gekommen war, schrieb der Commander:

The concept of anarchism has always appealed to me. The idea of the innate goodness of the individual that is corrupted by society or the system. It is a theoretical argument but I am not sure everyone would behave well if there were no laws and no system.

Es half ihm wenig, dass er die Aussage, das Konzept des Anarchismus immer schon anziehend gefunden zu haben, im übernächsten Satz gleich wieder relativierte, denn nicht alle wollten sich der Auffassung anschließen, dass es sich um ein "theoretisches Argument" handelte. Ein sympathisierender Artikel in der Obdachlosenzeitschrift Big Issue machte die Presse auf die Forums-Postings des "Commanders" aufmerksam, was zu Schlagzeilen wie "Ich unterstütze Anarchie" (The Sun) und "Anarchismus ist attraktiv" in der nicht für ihre Zurückhaltung bekannten englischen Tagespresse führte.

Hexenjagd auf den Commander

Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde zur Jagd auf Commander Brian geblasen. Während die linksliberale Presse ihn in Schutz nahm, indem etwa Decca Aitkenhead in The Guardian schrieb, "He's our kind of cop", forderten die Tories und die ihnen nahestehenden Presseorgane seinen Rücktritt. Die Anarchismus-Sympathie diente dabei als Aufmacher, begleitet von kaum verschleierten homophoben Angriffen und Denunziationen der "kifferfreundlichen" und generell liberalen Linie des Bezirkspolizeichefs. Steigende Straßenkriminalität (bei insgesamt sinkender Kriminalität) bildete den Hintergrund für eine pausenlose Law-and-Order-Kampagne von Teilen der Presse in den letzten Wochen. Rufe nach einer härteren Gangart der Polizei übersehen dabei den Umstand, dass die Polizei manchmal selbst Teil des Problems ist.

Die Polizeistation von Brixton hatte und hat ein düsteres Image. Polizeipraktiken hatten 1981 zu den Aufständen von Brixton geführt. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Empfängern der öffentlichen Sicherheitsdienstleistung und ihren Ausübenden war nie wieder hergestellt worden. Zahlreiche Todesfälle in Polizeigewahrsam trugen dazu bei, dass die Polizeistation Brixtons von vielen als eine Art Festung einer Besatzungsmacht angesehen wurde. Der McPherson-Bericht über die Ermordung des schwarzen Jugendlichen Steven Lawrence und die vermurkste polizeiliche Aufklärungsarbeit bescheinigte der Metropolitan Police am Ende des vergangenen Jahrzehnts "institutionellen Rassismus".

Paddick war im Begriff gewesen, die Polizei von Lambeth von innen heraus umzukrempeln und die Polizeistation in einen transparenteren, freundlicheren Ort zu verwandeln, an den sich jeder, egal welcher Herkunft oder sozialen Schicht, würde vertrauensvoll wenden können. Die Hexenjagd gewisser Zeitungen könnte diesen dringend notwendigen Anstrengungen zur Reform der Polizei ein vorzeitiges Ende bereiten. Doch seine Beliebtheit ist inzwischen so groß, dass Community-Gruppen in Brixton zu Solidaritätskundgebungen aufgerufen haben. In einer Message from Brian bedankt sich dieser für die überwältigende Unterstützung des Urban75-Forums. Was, angesichts der "normalen" Beziehungen zwischen Polizei und den aufmüpfigsten Untertanen ihrer Majestät, beinahe schon einer Revolution gleicht.