Corona-Krise: Die Zahlen sinken, die Gereiztheit steigt
Deutschland vor der Lockdown-Verlängerung: Wie kann ein Diskurs mit mehr Graustufen und alternativen Szenarien aussehen?
Die Corona-Infektionszahlen gehen zurück; die Gereiztheit steigt. Das ganze diskutierende System steckt in einer erhöhten Nervosität. Man muss nur einen Blick in das hiesige Forum werfen, um einen Eindruck zu bekommen. Die einstmaligen Klagen über die Konsensrepublik Deutschland sind Schnee von vorgestern.
"Gesellschaften werden durch geteilten Stress gebildet", stellte Peter Sloterdijk vor zwei Jahren fest. Schon damals, weit vor Corona, ging es um hypernervöse Gemeinschaften, zunehmende Aggressivität und eine Welt aus den Fugen.
Am morgigen Mittwoch gibt es ein neues Bund-Länder-Treffen zur augenblicklichen Infektions-Lage. Jüngste Ankündigungen dämpfen die Erwartungen, dass es zu Lockerungen der Maßnahmen kommt. In Bayern sprach sich etwa der Mann, der als "erster CSU-Kanzler" (Albrecht von Lucke) Geschichte machen könnte, gegen Lockerungen aus. Söder sieht "keine Alternative zur Lockdown-Verlängerung".
Ich glaube, grundsätzlich wird der Lockdown erstmal verlängert werden müssen. Es hat ja keinen Sinn, jetzt abzubrechen einfach.
Markus Söder
Auch er beobachtet, dass der Stressfaktor für die Menschen zu hoch sei. Seine Lösung ist verpackt in der Kritik daran, dass die Wirtschaftshilfen des Bundes "zu schlecht und zu spät kommen".
Die Opposition gegen Söder in Bayern sucht den Gerichtsweg. Sollte die Staatsregierung die landesweite Ausgangssperre am 14. Februar nicht auslaufen lassen, werde man "gerichtlich gegen diese massive Grundrechtseinschränkung vorgehen", kündigte der FDP-Fraktionschef Martin Hagen an. Im Hintergrund dazu steht das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs in Baden-Württemberg, das sich gegen eine generelle Ausgangssperre aussprach. Nun gebe es nur mehr örtliche Maßnahmen, an Hotspots.
Die Forderungen nach Lockerungen kommen auch aus der CSU und von den Freien Wählern. Der aus Bayern stammende Virologe Alexander Kekulé unterstützt in seinen jüngsten Äußerungen die immer neu wiederkehrenden Forderungen nach differenzierten, auf die Lage zugeschnittenen Maßnahmen im Gegensatz zu generellen Einschränkungen. "Wir sollten uns nicht weiter von Lockdown zu Lockdown hangeln", sagt Kekulé im Interview mit der Welt
Statt je nach Fallzahlen nachzuschärfen oder zu lockern, bin ich für kontinuierliche Maßnahmen, die man lange durchhalten kann, ohne das soziale und wirtschaftliche Leben stillzulegen. Wir haben die technischen Möglichkeiten, viel selektiver vorzugehen, als einfach nur pauschale Lockdowns zu verhängen.
Alexander Kekulé
Neu ist der Standpunkt nicht, was meint Kekulé genau, zumal er einräumt, dass man jetzt mit einem diffusen Infektionsgeschehen zu tun habe, das nicht mehr zu orten ist?
"Viel Virologie nachgebüffelt"
Bemerkenswert ist, wie er als stärkste Waffe hervorhebt, dass die Bevölkerung dazu bereit wäre, auch strenge Maßnahmen konsequent mitzumachen - "wenn sie deren Sinn versteht". In die gleiche Richtung geht seine Feststellung, dass die Deutschen inzwischen viel Virologie "nachgebüffelt" hätten. Sie würden nun mehr verstehen. Zum Beispiel, "dass es im Freien kein Superspreading geben kann, wenn man Abstand hält".
Der Ansatz seiner Argumente ist das Verständnis der Bevölkerung und deren Vertrauen in die Politik, das im Frühjahr schon einmal so groß war, dass die Welt "uns" beneidet habe. Um dies wieder herzustellen, argumentiert er für einen "stabilen Gleichgewichtszustand", den er, wie üblich, mit einer Inzidenz von deutlich unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner markiert. Damit sollte ein Puffer erreicht werden, der ein sozial und wirtschaftlich halbwegs normales Leben ermöglichen soll und trotzdem das Virus in Schach halte. Das klingt gleichermaßen gut wie auch abstrakt.
Sinn und Unsinn des Maskentragens
Seine konkreten Vorschläge, die er im Interview vorstellt, orientieren sich hauptsächlich am Sinn und Unsinn des Maskentragens und des Abstandhaltens. Einerseits will er dort Lücken füllen: In geschlossenen Räumen sollten Menschen aus verschiedenen Haushalten immer Masken tragen - "Da gibt es insbesondere in der Arbeitswelt noch viele Lücken, von Taxifahrern über Paketzusteller im Treppenhaus bis zu Handwerksbetrieben und Büros." Andrerseits verärgert ihn Nervenaufreibendes
Dann ist es verständlich, dass manchem der Kragen platzt, wenn er draußen eine Maske aufsetzen soll, obwohl im Umkreis von zehn Metern niemand steht. Ich beschäftige mich zwar schon lange mit Seuchenbekämpfung, aber selbst ich komme bei vielen Maßnahmen nicht dahinter, welchen Sinn das jetzt machen sollte. Bei der berüchtigten 15-Kilometer-Leine zum Beispiel oder der Frage, ob man sich beim Rodeln mit den Kindern infizieren kann.
Alexander Kekulé
Man könnte noch mehr solcher Beispiele aufzählen. Es gibt noch auch bei den staatlichen Autoritäten einiges "nachzubüffeln", wenn es um virologische Maßnahmen und das Einverständnis und Vertrauen der Bevölkerung geht. Manche Äußerungen verraten ein eigentümlich altvordernes Bild von Untertanen und Staat. So zum Beispiel ein bayerischer Landrat, der vor ein paar Monaten angesichts höherer Infektionszahlen in seinem Kreis davon sprach, dass nun die "Daumenschrauben wieder angezogen werden müssten".
Und auch die Kommunikationsstrategie im Haus des Innenministers Seehofer zu den Corona-Maßnahmen im Frühling dieses Jahres ist keine vertrauensbildende Maßnahme.
Mehr Wert auf taktvolles Verhalten legen
Mögen die Vorschläge von Kekulé zu kleinteilig sein, so blättert der Soziologe Armin Nassehi die große Perspektive auf. Im Interview mit der SZ stellt der Sozialwissenschaftler, der ein Spezialist der Systemtheorie ist, ein Handicap der komplexen modernen Gesellschaft im Westen heraus. Für sie sei so etwas wie kollektives Handeln fast unmöglich - "wenn man es nicht politisch autoritär durchsetzen will".
Nassehi hält unserer Gesellschaft, die mit dem Paradox zu tun habe, dass Individuen aus eigener Freiheit heraus das gesellschaftlich Richtige tun zu sollen - "Sei frei, tu, was du willst, aber wolle das Richtige! Das ist der paradoxe Punkt, an dem wir in der Alltagseigendynamik oft scheitern" - eine Kultur entgegen, die zum Beispiel in Südkorea "im Alltag mehr Wert auf taktvolles Verhalten legt". Damit scheint sie in dieser Frage besser gerüstet zu sein. Auch hierzu gibt es ein Maskenbeispiel: "Es wird in asiatischen Ländern auch ohne Pandemie oft eine Maske getragen, nicht um sich selbst zu schützen, sondern um andere nicht anzustecken."
Sein konkreter Lösungsvorschlag ist zunächst ein prinzipieller, der die Diskussion betrifft. Man müsse weg vom Entweder-Oder. Es sei zu simpel, den öffentlichen Diskurs nur noch über Befürworter oder Gegner von Lockdowns zu führen.
Ich würde mir wünschen, dass wir auch auf der Ebene von Experten und Beratern hier einen Diskurs mit mehr Graustufen und alternativen Szenarien hinkriegen. Wir dürfen die mediale Polarisierung nicht einfach abbilden.
Armin Nassehi
Geht es um das Praktische, so plädiert Nassehi für Kompensationsmaßnahmen. Er sieht augenblicklich keinen Ausweg aus dem Zielkonflikt zwischen medizinischen Schäden und den Schäden in Wirtschaft, Bildung und Familie.