Corona-Krise in Deutschland: Bürokratie, Neid und kleinkariertes Denken?
Konkrete Gründe für das Scheitern beim effizienten Impfen - und wieder neue politische Durchsetzungspläne
Deutschland sei im letzten Drittel eines Marathons, sagte RKI-Chef Wieler neulich zur Pandemie-Lage. "Nervlich am Ende", hört man jede Viertelstunde im Radio. Krise und Krisenbewältigung heißen die Groß-Themen der Berichterstattung am Osterwochenende.
Das wird im großen Maßstab angegangen wie beim "Top-Manager" Wolfgang Reitzle, der davon spricht, dass Deutschland nach 16 Jahren Merkel zum beschämenden Sanierungsfall geworden ist: "Bürokratie im Faxzeitalter stecken geblieben, Digitalisierungsrückstand, kein schnelles Internet, massive Mängel in der Infrastruktur und marode Schulen sind nur einige Beispiele …"
Beim Impfen fiel dem Strategen mit dem Panoramablick auf, dass "ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden ein wirkungsvolles Impfen verhindert".
Wenn ein Land seine stark ausgeprägte Gerechtigkeitshaltung mit Priorität durchsetzen will, dann kann die Pandemiebekämpfung nicht funktionieren. Der Staat beansprucht die Totalkontrolle über das Impfen und versagt kläglich - wie immer, wenn es um Effizienz und Geschwindigkeit geht. Unnötig viele Menschen sterben wegen der Unfähigkeit unseres überregulierten Behördenapparates.
Wolfgang Reitzle
Dass man nicht die "über 100.000 niedergelassenen Ärzte" als dezentrale Impfstation genutzt habe, erklärt sich Reitzle mit dem großen Misstrauen gegenüber den Ärzten, dass dadurch "womöglich der ein oder andere Tennisfreund oder Privatpatienten bevorzugt worden wäre".
Aus welchen Gesprächsrunden Reitzle diesen Verdacht bezieht, verrät er nicht. Klar ist für ihn, dass man aus Schonung derartiger Empfindlichkeiten, lieber in Kauf nehme, "dass das Impfen für alle ineffizient und extrem langsam ablaufe", so der wütende "Maestro und Kultfigur der Autoindustrie (BMW, Ford, Conti)".
Auch der Oberarzt Cihan Çelik, tätig beim Klinikum Darmstadt, das nun wieder im Covid-Notbetrieb ist, kritisiert zu wenig Pragmatismus beim Impfen und eine Priorisierung, die wenig Spielräume lässt. So deutet er an, dass die Bürokratie verhindert, dass Begleitpersonen von Patienten mitgeimpft werden können. Eine hilfreiche Aktion, die nur wenig Aufwand und Zeit in Anspruch nimmt, ist demnach nicht möglich, weil die Bürokratie hier unverständliche Grenzen zieht, wie er in einem aufschlussreichen Interview zur Lage in seinem Krankenhaus erwähnt:
Ich bekomme schon mit, dass der Weg zur Impfung sehr bürokratisch ist. Pragmatismus ist nicht wirklich vorhanden. Sobald es mehr Impfstoff gibt und die absoluten Risikogruppen geimpft sind, spricht aus Sicht eines ungeduldigen Klinikers zum Beispiel nichts dagegen, dass die Begleitperson bei einer Impfung direkt mitgeimpft wird. Kleinkariertes Denken und Impfneid helfen uns jetzt nicht weiter.
Ich bin froh über jeden Geimpften, den wir hier nicht behandeln müssen. Das im internationalen Vergleich langsame Impftempo zeugt davon, dass durch die zu strikte Einteilung der Priorisierungsgruppen ein bürokratisches Monster erschaffen wurde, das uns aufhält.
Cihan Çelik, FAZ
Das konkrete Detail ist bemerkenswert, da es zeigt, wo die Impfblamage in einzelnen Abläufen sitzt und wie sehr die Folgsamkeit gegenüber bürokratischen Verordnungen - und das Verstecken dahinter - eine pragmatische situative Intelligenz ausspielt.
Wenig die Rede ist in den großen Masterplänen, die am Osterwochenende zu lesen sind, auch von anderen konkreten Resultaten der bisherigen politischen Krisenbewältigung, z.B. dass sich die Hilferufe von Jugendlichen, die obdachlos geworden sind oder davon bedroht sind, im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt haben: "Wo es brodelt in Familien, kann es im Lockdown zum totalen Zerwürfnis kommen. Das endet dann schon mal mit dem Rausschmiss."
Manche auf Infektionszahlen fixierte düstere Voraussagen müssen nicht zutreffen, wie Corona-Zahlenexperte Olaf Gersemann heute zwischenbilanziert: "Was z.B. ist eigentlich aus den 50.000 Fällen am Tag geworden, die @derspiegel im Februar für Ende März prognostizierte?"
Seehofer und die Sehnsucht der Bevölkerung
Die jüngsten Ideen zur besseren Krisenbekämpfung, wie sie von gegenwärtigen und früheren Spitzenpolitikern geäußert werden, gehen Richtung neue Gesetzgebung. Innenminister Seehofer schlägt vor, die Pandemiebekämpfung mit einem Bundesgesetz zu regeln. Seinem Eindruck nach gibt es in der Bevölkerung "die große Sehnsucht nach einheitlichen Regelungen".
"Dieses Gesetz sollte genau vorschreiben, welche Schritte bei den jeweiligen Inzidenzwerten unternommen werden müssen - von der Verschärfung bis zur Lockerung. Auf diese Weise bekämen die Menschen von Flensburg bis Berchtesgaden eine klare Perspektive", sagte Horst Seehofer der Welt am Sonntag. "Mit dem Gesetz soll durch klare Richtlinien Transparenz geschaffen werden."
Mit Transparenz kann man Hoffnungen machen, konkret gibt es da aber einige Spielräume für die Regierungsverantwortlichen, die da ganz pragmatisch in ihrem Sinne vorgehen, wie der genannte Welt-Journalist Gersemann konkret an der neuen Info-Diät des Gesundheitsministers genau aufblättert. Spahns Ministerium mühe sich nicht gerade, möglichst viele Informationen umfassend und zeitnah bereitzustellen, eher im Gegenteil:
"So wird neuerdings nicht mehr ausgewiesen, wie viele Bürger wegen welcher Indikation geimpft wurden (Alter? Pflegeheimbesitzer? Vorerkrankungen? Medizinisches Personal?)." " Neuerdings wird nicht mehr täglich, sondern nur noch wöchentlich ausgewiesen, wie viele Vakzindosen ausgeliefert wurden."
Das ist als ein Beispiel konkreter Ausübung der Krisen-Politik im Hinterkopf zu behalten, wenn es um die großen Visionen für neue Ausnahmeregelungen geht, wie sie etwa der Vorgänger Seehofers im Amt des Innenministers, Thomas de Maizière in der heutigen Ausgabe der Frankfurter Sonntagszeitung (FAS) vorstellt. Ein guter Kompromiss sei viel wert, brauche aber Zeit, so de Maizière.
In der Krise aber braucht man Tempo, Verbindlichkeit, klare Verantwortlichkeiten. Und die nächsten Krisen werden kommen. Ein Cyberangriff, ein Stromausfall, länderübergreifende Waldbrände. Und deshalb brauchen wir eine krisenfeste Aufstellung.
Wir brauchen zu Beginn der nächsten Legislaturperiode eine große Staatsreform. Wir benötigen die Regelung eines Ausnahmezustands für Deutschland. Fast alle demokratischen Nationen haben das. Wir nicht. Wir haben eine Notstandsgesetzgebung, aber nur für den Verteidigungsfall. An ihrer Stelle sollten wir die Möglichkeit eines Ausnahmezustands definieren. Das muss befristet sein, den muss das Parlament beschließen.
Thomas de Maizière, FAS, 4. April 2021
Ein Regierungssprecher hatte vor dem Osterwochenende mitgeteilt, um die dritte Corona-Welle zu brechen, werde derzeit überlegt, ob und wie der Bund einheitliche Vorgaben zur Eindämmung des Coronavirus machen solle - falls das Vorgehen der Länder nicht ausreiche.