Corona-Lockdown: Die Schönheit der Leere
Seite 2: Wenn die Kultur aufatmet
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Die Gefahr, dass einige der europäischen Kulturnationen den Weg in die kulturelle Einöde einschlagen, scheint programmiert. Lockdown statt Umsetzung von bereits vorhandenen Sicherheitskonzepten in Theatern, bestehend aus Abstand und FFP2-Masken, wird sich vermutlich bitter rächen. Wozu verstärken viele Regierungen – quer durch die EU – mit teils chaotisch wirkenden Lockdown-Verordnungen den potenziellen Teilalphabetismus einer ganzen Generation?
Vielleicht auch deshalb, weil die Teilalphabeten als ökonomisch dependentes Wahlvolk herzlich willkommen sind und den Regierungen nützen? Weil die aus dem Absolutismus stammende Sentenz, "Sprach der König zum Bischof: Halt' du sie dumm, ich halte sie arm", doch ein Fünkchen Wahrheit enthält?
Die Kultur als organisches Gebilde atmet immer dann besonders auf, wenn wenige sich ihr respektvoll nähern. Wie der Mount Everest aufatmete, wenn nicht täglich mehrere Busladungen von zum Teil an Sauerstoffflaschen hängenden Bergfanatikern von Sherpas in seine lichten Höhen geschleppt würden. Doch nicht nur die von Overtoursim bedrängte Natur holt kurz Luft, auch die Städte Europas atmen zurzeit auf.
Welch stille Größe, was für ein edler Anblick bietet sich dem durch leere Städte streifenden Flaneur! Der menschenleere Markusplatz in Venedig, der abends bläulich-weiß erstrahlende Trevi-Brunnen Roms oder das in goldgelbes Licht getauchte Heidelberger Schloss: so schön wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Leere, das ist auch pure Qualität und Schönheit, denn die Anziehungskraft einsamer Plätze ist gewaltig.
Gewiss betrauert der aufrichtige Corona-Flaneur die schwer zu Schaden Gekommenen und Toten der Pandemie zutiefst. Doch gleichzeitig erkennt er, welche Möglichkeiten die Leere bietet. Wenn sich die Architektur aller Epochen der Belästigung durch Überfülle entledigt. Die Figur des Flaneurs biegt um die Straßenecken, getrieben von Trauer und dem von Elias Canetti beschriebenen Glücksgefühl des Überlebenden. Was wäre Caspar David Friedrichs Blick über das Nebelmeer, wenn sich am Horizont Massen in Masken um das neueste Smartphone prügelten?
Der Tanz auf dem Vulkan
Die Ruhe der Leere gewährt den freien Blick auf die allabendlich erstrahlenden historischen Prachtbauten. Trotz allen Schreckens und bedauernswerten menschlichen Leids ermöglicht die Leere eine Ordnung der Gedanken. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Auf seltsame Weise bezeichnet Corona im übertragenen Sinn diesen pandemisch-ästhetischen Kulminationspunkt.
Und gerade weil geschäftstüchtige Museums- und Theaterleute den angeblichen Weg von der Kulturnation zum Mittelmaß drohend an die Wände malen, übersehen sie Entscheidendes. Der kulturell exaltierte Tanz auf dem Vulkan wäre jederzeit möglich, das engagierte Balancieren am Rande des Abgrunds, ohne als gesamte Gesellschaft in diesen zu stürzen.
Theater und Opernhäuser könnten kurzerhand zu Museen erklärt werden und sich dem Publikum auf kontrollierte Weise öffnen: mit kostenlosen Architekturführungen und Opern-Streaming, wie das etwa die Wiener Staatsoper seit Februar tut, um das Stammpublikum an sich zu binden und neues Publikum anzuziehen. Man/Frau von Verantwortung müsste es nur tun, anstatt sich der pandemischen Ermattung kampflos hinzugeben.
Corona ist zweifellos ein schrecklicher, tragischer, gleichzeitig jedoch ästhetischer Höhepunkt, aus dem Vieles, auch Großes entstehen kann, wie nach vielen Katastrophen in der Menschheitsgeschichte. Nachdem einst die Träne der Trauer aus dem Gesicht gewischt und die Sicht wieder klar sein wird, können diese Chancen erdacht und ergriffen werden. Corona ist ein evolutionärer Ausbruch, der wie Lava weite Landstriche versengt. Danach, lange danach entsteht jedoch fruchtbares Land, denn jeder Vulkanausbruch erzeugt ungeahnte Möglichkeiten.
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter. Er ist Autor von "Verbalradikalismus" (2012) und "Minimale Moral" (2016). Sein neues Buch "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" erschien 2020.
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