Gespräch mit Jörg Phil Friedrich über Grenzen von wissenschaftlichen Modellen, die Szenarien für politische Entscheidungen liefern
Wie sind die wissenschaftlichen Modelle einzustufen, die während der nun fast schon ein Jahr dauernden Corona-Krise Vorlagen für die Maßnahmen- Entscheidungen der politisch Verantwortlichen lieferten? Jörg Phil Friedrich ist Telepolis-Lesern gut bekannt als Meteorologe und Philosoph, der sich mit Katastrophenszenarien und Wissenschafts-Modellen auseinandersetzt: Nach dem Klimawandel kommt das Klimachaos.
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In jüngsten Veröffentlichungen machte Friedrich auf die Erkenntnis-Grenzen der Pandemiemodellierungen aufmerksam. Telepolis sprach mit ihm über die Grenzen der Modellrechnungen und über das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft, wie es sich in den letzten Krisen-Monaten gezeigt hat.
"Wissenschaftler in der Pandemie verhalten sich anders als Klimaforscher"
Sie haben ein Buch geschrieben über Folgen des Klimawandels, das bei Telepolis als eBook erschienen ist. Sowohl bei der Einschätzung der Klimakrise wie auch bei der Corona-Pandemie spielt Wissenschaft eine große Rolle. Haben wir in der Corona-Krisen-Diskussion in den letzten Monaten etwas zum Verständnis von Wissenschaft dazu gelernt? Oder ist im Gegenteil manches schwieriger geworden, ein Stichwort dafür wäre "Wissenschaftsfeindlichkeit"?
Jörg Phil Friedrich: Wir haben dazugelernt, aber Schwierigkeiten und Wissenschaftsfeindlichkeit sind sicher auch stärker geworden. Und das macht mir Sorgen, weil wir meinem Eindruck nach das Problem haben, dass sich Wissenschaftler in der Pandemie oft ganz anders verhalten als die Klimaforscher.
Die Klimaforscher haben aufgrund ihrer Erfahrungen über lange Zeit gelernt, was ihr Bereich ist, wozu sie etwas wie sagen können, wie sie etwas formulieren können, was auch gesellschaftlich relevant ist. Wenn Sie einen IPCC-Report anschauen, dann ist das eine sehr abgewogene Arbeit. Da sind Konfidenzintervalle aufgeführt. Zu jeder wichtigen Aussage finden sie Anmerkungen dazu, wie sie abgesichert ist.
Man hält sich mit konkreten politischen Forderungen, was jetzt wirklich zu tun wäre, zurück. Natürlich fordern auch die Klimaforscher immer "Es muss etwas getan werden", aber sie sagen nicht "Folgendes muss verboten werden", es gibt da keine Lockdown-Forderungen oder Ähnliches. Das ist schon ein Unterschied.
Da lehnen sich die Forscher in Sachen Pandemie viel weiter aus dem Fenster und, wie ich finde, auf einer viel dürftigeren Basis als die Klimaforschung, die es ja auch schon länger gibt und die sich über die letzten zwanzig, dreißig Jahre über globale Forschungsarbeit eine ganz andere Datenbasis und ganz andere Evidenz erarbeitet hat.
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Aber wissenschaftliche Aussagen zur Corona-Pandemie werden auch unter ganz anderem Zeitdruck gefordert. Da gibt es eine andere Dringlichkeit …
Jörg Phil Friedrich: Ja, da geht es um Zeiträume, die die nächsten Wochen und Monate betreffen und es spielt auch eine andere Betroffenheit mit hinein. Da kann man auch Verständnis dafür haben, dass die Wissenschaftler ihre Rolle als Forscher verlassen und mehr in die Rolle des Bürgers hineingehen.
Das Problem ist aber, wenn beides miteinander verschränkt wird. Wenn die Person mit der Autorität des Wissenschaftlers spricht, aber eigentliche ihre persönliche Meinung als Bürger äußert.
Prognostische Aussagen über eine Dynamik in der Infektiosität sind komplex. Wenn ich sage, dass wir im März die und die Zahlen haben werden, dann gehe ich zu weit. Auch wenn manche der wissenschaftliche Modelle, die zur Berechnung des Pandemiegeschehens entwickelt wurden, faszinierend sind und es erstaunlich ist, in welch kurzen Zeiträumen sie entwickelt wurden, so sind doch bestimmte Aussagen nicht möglich.
Das schlägt dann durch, wenn sie Konkretes behaupten und vorhersagen - auch die Klimaforscher haben diese Erfahrungen gemacht, wenn da etwa die Aussage kommt: "in zehn Jahren steigt der Meeresspiegel um einen Meter" und dann tritt das gar nicht in diesem Ausmaß ein, dann verliert Wissenschaft auch an Glaubwürdigkeit.
"Wir können niemals alle notwendigen Parameter berücksichtigen"
Was wäre die Konsequenz daraus?
Jörg Phil Friedrich: Es muss klarer darauf hingewiesen werden, dass Wissenschaft in der Pandemieforschung keine Prognosen machen kann, sondern nur Szenarien errechnet.
Wir können niemals alle notwendigen Parameter berücksichtigen. Das ist eine komplexe Sache. Noch schwieriger wird das, wenn menschlichem Verhalten eine derartige Rolle zukommt wie in der Corona-Pandemie. Wissenschaftler können Szenarien rechnen und dies kann Orientierung geben, aber wir können nicht behaupten, das Geschehen wird sich mit Bestimmtheit so oder so entwickeln, also müssen die Schulen geschlossen werden.
Solche Entscheidungen müssen politisch getroffen werden. Die Wissenschaftler können auf ihre Szenarien verweisen und sagen, nach diesen rechnerischen Modellen kann sich das Geschehen so und so entwickeln, macht etwas damit. Aber sie können nicht die Aussage treffen: Die Schulen müssen geschlossen werden.
Eine solche Entscheidung ist politisch, weil da sehr viel mehr mitspielt, nicht nur das Infektionsrisiko "wie viel Viren in der Luft sind", und weil sehr viel mehr von ihr abhängt: die Weiterentwicklung der Schüler, das Risiko, dass sie abgehängt werden, welche Schüler abgehängt werden, wie sich Ungleichheiten vergrößern, wenn die Schüler nicht mehr in die Schule gehen, aber auch z.B., wie lange die ganze Gesellschaft und die Wirtschaft den Lockdown erträgt, wie der Lockdown die ganze Kultur verändern kann.
Alles das muss politisch ausgehandelt werden und damit müssen die Wissenschaftler auch einverstanden sein und sagen "ja ok, das ist jetzt so, ich hab' mein Szenario geliefert. Alles andere muss politisch und öffentlich diskutiert werden."
Dann kann ich auch als Wissenschaftler damit leben, dass nicht das herauskommt, was ich mir wünsche. Vielleicht ist es ja auch so, dass ich einen zu engen Blick habe, der mir den Blick auf die Lebenswirklichkeit anderer Menschen verstellt.
"Wissenschaftler müssen sich direkt gegenüber den Bürgern erklären"
Wie könnte man denn die gegenseitige Ausrichtung zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft verbessern?
Jörg Phil Friedrich: Angesichts dessen, dass wir neue Probleme bekommen können durch den Klimawandel, durch die Globalisierung, denken Sie nur an die Tropenmedizin, wo Sie Aussagen hören, dass bestimmte Stechmücken als Krankheitsüberträger nun an Stellen auftauchen, wo sie zuvor nicht waren, dann können wir schon damit rechnen, dass es weitere Pandemien u.ä. geben wird, die uns sehr beschäftigen werden.
Deshalb müssen wir bessere Kommunikationsformen zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit, der Bevölkerung überhaupt etablieren. Ich denke da an eine Art Schöffenmodell, man könnte auch den etwas angestaubten Begriff "Bürgerräte" nehmen: Wir brauchen Foren, in denen Wissenschaftler vor ganz normalen Bürgern auftreten, verschiedene Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, die ihre Standpunkte und Sichtweisen erläutern und von den Bürgern dazu befragt werden. Dann ziehen sich die Bürger zur Beratung zurück und diskutieren das in aller notwendigen Breite.
Wichtig ist, dass sich die Wissenschaftler direkt gegenüber den Bürgern erklären müssen. Dass sie in die Diskussion einsteigen müssen. Und dass sie so direkt und nicht nur vermittelt damit konfrontiert werden, wie die Sicht und die Sorgen der Bürger ausschauen. Sie haben dann selbst die Chance, den Bürgern ihre Sicht, ihre Sorgen und Einsichten zu erläutern. So kommen dann verschiedene Seiten zum Tragen. Beim Klimagipfel von Kopenhagen hat man das auch so gemacht.
Damit können wirkliche Einsichten entstehen. Das hätte eine andere Rückstrahlkraft auf die öffentliche Diskussion insgesamt.
Aber es wurden im Namen der Dringlichkeit in den letzten Monaten schon Parlamente ausgeschaltet. Jetzt kommen Sie mit zeitaufwendigen Schöffenversammlungen?
Jörg Phil Friedrich: Darüber müssen wir auch nochmal reden. Dieses "Wir müssen jetzt schnell handeln" ist ja auch eine Methode der Exekutive, um das zu tun, was ihr vorschwebt. Gemäß dem von Margaret Thatcher inspirierten TINA ("There is no Alternative")-Prinzip glauben die an der Macht Befindlichen auch, dass das so sein muss, dass man weiß, was gemacht werden soll und dass man das jetzt möglichst ohne Diskussion macht.
Zweierlei Umgang mit Unsicherheiten
Warum holt man denn dann überhaupt die Wissenschaftler ins Boot bei politischen Entscheidungen?
Jörg Phil Friedrich: So funktioniert unsere politische Kultur, dass wir über Wissenschaft sehr viel legitimieren können. Der Grund ist, dass Wissenschaft, vor allem Naturwissenschaft, in den letzten Jahrhunderten unglaublich viele faszinierende Erkenntnisse produziert hat, die unser Verständnis über die Welt enorm erweitert haben. Aber da muss man auch unterscheiden. Wir tun immer so, als ob Physik das Komplizierte wäre, und deshalb sind wir gerade von der Physik so beeindruckt, eigentlich ist sie das einfachste.
In der Physik können wir etwas im Labor machen oder im Weltall beobachten, was sich über sehr lange Zeiträume entwickelt. Und da passiert zwar einiges, und es ist toll, dass wir das verstehen und sogar nutzen können. Aber wenn man das mal damit vergleicht, was zwischen Menschen, in einer Gesellschaft, passiert, dann haben wir da eine ganz andere Unsicherheit und Komplexität, weil wir das nicht so kontrollieren können wie ein Laborexperiment..
Aber wir nehmen dieses Wissenschaftsmodell der Physik und packen es auf gesellschaftliche Prozesse, die viel komplexer sind, weil die Menschen zum Beispiel von Überzeugungen geleitet werden, die sich ändern und die auf veränderte Situationen auch nochmal anders reagieren und da gibt es Rückkopplungsprozesse usf. und niemand weiß genau, wie sie sich entscheiden.
Selbst wenn Sie z.B. mit einer wissenschaftlichen Behauptung kommen "Wenn ihr euch so und so verhaltet, dann geht die Welt unter", werden Sie auf Vernünftige treffen, die sich so verhalten, dass die Welt nicht untergeht, aber auch auf andere, die sagen "Dann muss ich nochmal so richtig reingehen".
Das soll heißen: Die Erkenntnisgrundlagen zum Verhalten der Menschen sind komplex und schwierig. Dazu kommt, dass die Datenbasis, wenn es um solche Geschehnisse wie die Corona-Pandemie geht, oft dünn ist und dies nicht deutlich genug ausgewiesen wird. Vergleichen Sie das mit der Klimaforschung: Da haben wir seit vielen Jahrzehnten systematische Messungen in eng verbundenen Messnetzen, dazu Satellitenbeobachtungen, Eiskernbohrungen usw.
Es gibt zudem eine lange Erfahrung, wie diese Daten zusammenzuführen sind, um die Modelle zu initialisieren. In der Klimaforschung haben Sie zudem den Vorteil, dass es auf die Details des Wetterzustandes zum Start der Modellrechnung nicht genau ankommt. Das alles ist bei der Pandemieforschung anders. Es käme eigentlich schon auf die genauen Daten der Infektionsverteilung an, aber diese Daten haben wir nicht. Aber darauf wird bei den Präsentationen der Modellrechnungen nicht ausdrücklich hingewiesen.
So hört man zwar bei manchen Pandemieforschern im Nebensatz davon, dass die Datenbasis Lücken hat, aber in den Hauptsätzen, die nach außen dringen, wird formuliert: Das und das liefern unsere Modelle, so wird sich das Geschehen entwickeln. So dass ganz klare Aussagen gemacht werden, die den Eindruck erwecken, dass diese Modelle richtige Prognosen liefern.
Interessant ist allerdings, dass wir da zwei verschiedene Varianten beobachten können. Wissenschaftler, die sich auch in der Poltikberatung stark engagieren, wie etwa Melanie Brinkmann und Michael Meyer- Hermann vom Helholtz Zentrum für Infektionsforschung, neigen dazu, ihre Ergebnisse als eindeutige und klare Prognosen darzustellen.
Im Forschungs-Paper von Meyer-Hermann werden Sie darüber informiert, wo die Unsicherheiten liegen. Auf der Webseite finden Sie davon nichts.
Auf der anderen Seite haben Sie die Wissenschaftler aus Jülich, wo man mit einer nochmals anderen, großen Rechenpower tolle Modelle durchrechnet. Wenn Sie da auf die Webseiete schauen, dann steht eben sehr ausdrücklich da, dass das alles Szenarien sind, dass man das nicht als tatsächliche Prognose des Geschehens betrachten darf. Und diese Wissenschaftler sind auch nicht politisch aktiv.
Auffallend ist aus meiner Sicht eine ganz klare Korrelation zwischen dem Versuch, klare Aussagen zu formulieren, die unbedingter sind als das, man wirklich wissenschaftlich verantworten kann, und der politischen Aktivität.
Wie sieht denn Ihre Zwischenbilanz aus der Corona-Krise aus?
Jörg Phil Friedrich: Also Wissenschaft kann schon auch eine ganze Menge. Sie kann Szenarien berechnen und die können uns Orientierung darüber geben, worauf wir uns vorbereiten sollten. Und gerade, was den vorher angesprochenen Punkt der Dringlichkeit angeht, so hätte man mit den Szenarien, die uns geliefert wurden, über Wochen hinweg sehr konkret darauf vorbereiten können, die Schulen mit Lüftungsanlagen auszustatten oder die Altenheime pandemiesicherer zu machen. Also solche Dinge hätte man schon tun können.
Sorgen macht mir, dass wir im Moment gar nicht mehr darüber reden, dass das Demonstrationsrecht als politische Meinungsbegründung gerade ausgehebelt ist. Wir reden über Gaststätten, über Theater. Das sind Dinge, die auch für mich persönlich sehr wichtig sind.
Aber Demonstrieren ist ein ganz wichtiges Grundrecht und darüber wird nicht geredet. Dass die Regierung darüber nicht böse ist, ist klar. Denken Sie mal an Fridays for Future, wann haben wir da die letzten großen Demonstrationen gehabt?
Aber die Zahlen bei den Demonstrationen 2019 waren schon beeindruckend, und das hat die Diskussion zum Klimawandel ja auch vorangebracht. Davon sind wir heute weit entfernt.
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