Corona-Todesfälle: Die Mär von den zehn verlorenen Lebensjahren

Seite 2: Das Gegenargument der fehlenden Übersterblichkeit

Auch wenn es sich bei den obigen Zahlen nur um eine grobe Überschlagung handelt, legen diese sehr klar nahe, dass die vom RKI-geschätzte Zahl von durchschnittlich 9,6 verlorenen Lebensjahren pro Covid-19-Todesopfer eine deutliche Überschätzung der tatsächlich verlorenen Lebensjahre darstellt. Unterstützt wird diese Annahme durch eine Analyse der im Jahr 2020 zu verzeichnenden Sterbefälle im Vergleich zu den Vorjahren.

Wenn Covid-19 in der Tat die Lebenszeit der betroffenen Personen im Schnitt um 9,6 Lebensjahre verkürzt haben sollte, müsste es eigentlich so sein, dass der Großteil der im Jahr 2020 mit der Diagnose Covid-19 verstorbenen Personen ohne das Auftreten der Corona-Pandemie nicht verstorben wäre. Sollte Covid-19 die Lebenszeit also in der Tat im vom RKI geschätzten Ausmaß verkürzt haben, müssten im Jahr 2020 mehr Personen verstorben sein als in den Vorjahren.

Obwohl man auf den ersten naiven Blick den Eindruck haben könnte, dass dem so sein könnte, zeigt ein genauerer Blick, dass dem in Wirklichkeit nicht so ist. Um das nachvollziehbar zu machen, soll eine entsprechende Studie von Michael Höhle genauer vorgestellt werden, er ist Professor für mathematische Statistik an der Universität Stockholm und hat gemeinsam mit dem Statistischen Beratungslabor der LMU München das Nowcasting Verfahren entwickelt, mit welchem das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit die Coronavirus-Fallzahlen in Bayern schätzt.

Die folgende Tabelle aus der Studie zeigt zunächst das Bild, das des Öfteren auch in den Medien verbreitet wird: Dort wird in Spalte zwei die Anzahl der im Jahr 2020 verstorbenen Personen gezeigt (Kalenderwochen 1-52 um das Problem zu umgehen, dass 2020 ein Schaltjahr war und damit einen Tag mehr hatte) und in Spalte drei die durchschnittliche Anzahl der in den Jahren 2016 bis 2019 verstorbenen Personen (aufgeschlüsselt nach den verschiedenen Altersgruppen).

Blickt man auf die prozentuale Änderung in der dritten Spalte, hat man den Eindruck, dass im Jahr 2020 insgesamt fünf Prozent mehr Menschen verstorben sein könnten im Vergleich zu den Vorjahren, und dass insbesondere in den Altersgruppen über 80 Jahre eine solche Übersterblichkeit zu verzeichnen ist:

Allerdings ist dieser erste naive Blick irreführend, denn die Tabelle zeigt nur die absolute Anzahl an beobachteten Todesfällen. Diese müssen aber zum einen in Relation zum Bevölkerungswachstum gesetzt werden, weil in einer zahlenmäßig größeren Bevölkerung mehr Menschen versterben als in einer kleineren Bevölkerung.

Zum anderen müssen diese Zahlen in Relation zur Verschiebung der Altersstruktur gesetzt werden, weil in einer Bevölkerung mit einer größeren Anzahl an alten Menschen mehr Menschen versterben als in einer Bevölkerung mit einer kleineren Anzahl an alten Menschen.

Der letzte Punkt ist für die Sterbezahlen in Deutschland besonders relevant, weil die Anzahl alter Menschen in der Bevölkerung stark gestiegen ist. So hat die Anzahl der Menschen in der Altersgruppe über 80 Jahre laut Statistischem Bundesamt seit 2015 um eine Million zugenommen. Damit könnte die beobachtete höhere absolute Anzahl an Sterbefällen im Jahr 2020 im Vergleich zu den Vorjahren eine ganz andere Ursache haben: Womöglich geht die höhere Anzahl gar nicht darauf zurück, dass eine neue hinzukommende Todesursache die Sterbewahrscheinlichkeit im Vergleich zu den Vorjahren erhöht und damit zu mehr Todesfällen geführt hat. Stattdessen könnte die Sterbewahrscheinlichkeit unverändert geblieben sein, und es wurden nur deswegen mehr Sterbefälle beobachtet, weil die Anzahl der hochbetagten Menschen stark gewachsen ist.

Ob dem so ist, kann man mit einer einfachen statistischen Technik überprüft werden: Anstatt für eine Altersgruppe die Anzahl der verstorbenen Personen zu berechnen, berechnet man für jede Altersgruppe bezogen auf die jeweilige Gesamtanzahl der Personen in der Altersgruppe den prozentualen Anteil der verstorbenen Personen (Sterbewahrscheinlichkeit).

Wenn sich der prozentuale Anteil über die Jahre hinweg nicht verändert, heißt das: Die Sterbewahrscheinlichkeit ist gleichgeblieben, und die höhere absolute Anzahl an beobachteten Todesfällen im Jahr 2020 spiegelt nur die Tatsache wider, dass die Anzahl der hochbetagten Menschen stark gewachsen ist.

In der Studie von Michael Höhle wurde eine solche Analyse durchgeführt, die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle dargestellt. Die zweite Spalte zeigt wie in der obigen Tabelle wieder die Anzahl der im Jahr 2020 verstorbenen Personen. Für die dritte Spalte wurde berechnet, wie viele Personen in der jeweiligen Altersgruppe 2020 versterben hätten müssen, wenn die Sterbewahrscheinlichkeiten in den verschiedenen Altersgruppen verglichen mit den Vorjahren 2016-2019 genau gleich geblieben wären. Die dritte Spalte zeigt also, was zu erwarten gewesen wäre, wenn sich das allgemeine Sterberisiko nicht verändert hätte:

Die Ergebnisse sind überraschend: Die Sterbewahrscheinlichkeit war im Jahr 2020 insgesamt sogar niedriger, als es aufgrund der Sterbewahrscheinlichkeiten in den Vorjahren zu erwarten war. Michael Höhle schreibt hierzu selbst in seiner Studie (Übersetzung durch den Autor):

Was zunächst wie eine leichte Übersterblichkeit bei der Betrachtung absoluter Fallzahlen aussah, erwies sich bei der Einrechnung bevölkerungsbezogener Veränderungen als eine leichte Untersterblichkeit. Das zeigt, wie wichtig es ist, bei der Berechnung der erwarteten Sterbezahlen Veränderungen in der Bevölkerungszahl einzuberechnen".

Wichtig ist noch eine Anmerkung: Die Studie von Michael Höhle wurde Ende Januar 2021 veröffentlicht. Inzwischen hat das statistische Bundesamt die Daten zu den Sterbezahlen 2020 upgedated und um Nachmeldungen ergänzt. Die Gesamtanzahl der Sterbefälle 2020 (Kalenderwochen 1-52, wie in der Studie von Michael Höhle verwendet) ist damit von 973.328 (Stand zum Zeitpunkt der Studie von Michael Höhle) auf 974.873 (Stand 15.2.) gestiegen. Diese Zahl liegt immer noch deutlich unter der Zahl, welche zu erwarten gewesen wäre, wenn sich die Sterbewahrscheinlichkeiten im Vergleich zu den Vorjahren nicht geändert hätten (986.709).

Damit kann man einen interessanten Befund festhalten: Das Sterberisiko war 2020 insgesamt nicht etwa höher als in den Vorjahren, sondern sogar leicht geringer. Dieser Befund steht der vom RKI aufgestellten Behauptung, dass eine an Covid-19 verstorbene Person im Schnitt noch 9,6 Jahre gelebt hätte, diametral entgegen.

Laut der RKI-Studie zur Abschätzung der verlorenen Lebenszeit waren zum Zeitpunkt der Berechnung für das Jahr 2020 insgesamt 38.641 Todesfälle mit positivem SARS-CoV-2-Testergebnis gemeldet worden, von denen in 31.638 Fällen (81,9 Prozent) Covid-19 als Todesursache übermittelt wurde.

Wenn diese Personen wirklich im Schnitt ohne Coronavirus-Infektion noch 9,6 Jahre zu leben gehabt hätten, hätte kaum eine dieser Personen ohne das Auftreten der Corona-Pandemie versterben dürfen. Sollte die Schätzung des RKI zu den verlorenen Lebensjahren stimmen, hätten im Jahr 2020 also mehr Menschen als gewöhnlich sterben müssen – das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall.

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