Corona: Verschärfte Exit-Strategie jetzt
Bis zum 19.4. soll sich nichts ändern. Statt Abwarten wäre ein evidenzbasiertes, kontinuierliches Justieren der Regelungen aber kein Zeichen von Schwäche, sondern von Kompetenz
Spät, aber vielleicht gerade noch rechtzeitig hat sich in Deutschland an der Strategie orientiert, die in dem geleakten Arbeitspapier des Innenministeriums beschrieben ist und auf dem schon oft zitierten The Hammer and the Dance -Konzept beruht.
Eine sehr didaktische Erklärung, dass es nicht anders geht, gibt es übrigens hier. Das an alle Regierungsstellen gelangte Dokument ist aber insofern sehr wichtig, als dass sich kein Entscheidungsträger mehr auf Unwissenheit berufen kann und die Befürworter einer schnellen "Durchseuchung" der Bevölkerung damit strafrechtlich belangt werden können.
Ebenfalls erfreulich ist, dass in einer so existenziellen Krise evidenz- und zahlenbasiert gehandelt wird. Eine Entwarnung, ein "Weiter so", oder auch nur ein zweiwöchiges Zaudern kann aber sowohl medizinisch gefährlich als auch wirtschaftlich desaströs sein. Eine Pandemie erfordert sofortiges Eingreifen, sobald sich neue Erkenntnisse ergeben. Insofern ist es ein Fehler, dass die Politik die Zahlen nicht ganz zeitnah evaluiert.
Erkenntnisse über den Infektionsweg - Konsequenzen ziehen
In den letzten Tagen scheint sich eine Erkenntnis durchgesetzt zu haben, die eigentlich schon länger klar ist: Der herkömmliche Infektionsweg Tröpfcheninfektion über Anhusten und Schmierinfektion kann unmöglich die hohe Kontagiösität von SARS-CoV2 erklären (Transmission Potential of SARS-CoV-2 in Viral Shedding).
Offenbar halten sich Krankheitserreger, die nur durch Ausatmen freigesetzt werden, lange als Aerosole in der Luft. Dies muss sofort in einer Verschärfung der Distanzregeln eingearbeitet werden. Das Problem ist, dass die Ausbreitung in der Luft nicht einem einfachen Abstandsgesetz folgt, sondern von Windrichtung und Durchmischung abhängt. Ein Schwall infizierter Luft kann sich im ungünstigen Fall wesentlich weiter als 1,5 Meter ausbreiten. Daher ist es auch im Freien sinnvoll, einen Mindestabstand von 3 Metern vorzuschreiben.
Umgekehrt ist es nicht einzusehen, dass der Aufenthalt im Freien verboten sein sollte, auch wenn es sich nicht um Sport oder Spaziergänge handelt. Sinnvoll wäre zum Beispiel in öffentlichen Parks oder Erholungsfreiflächen ein Mindestabstand in Ruhe von 10 Metern (außer wie bisher Familien oder Paare). Zur Vermeidung von Menschenansammlungen könnte mit Drohnen kontrolliert werden, ob z.B. ein Wert von 200 Personen pro Hektar überschritten wird.
Umgekehrt spricht in diesem Fall nichts dagegen, Ausflüge zur Naherholung zuzulassen. Maßnahmen zum social distancing sind dann wirksam, wenn sie ganz überwiegend von der Bevölkerung mitgetragen werden. Kontraproduktiv wäre es dagegen, Ordnungskräfte zu verschleißen, um Regeln einzuhalten, welche die Ansteckungsgefahr erkennbar nicht senken. Im Übrigen würden Gerichte früher oder später solche Regeln kippen.
Noch größer ist die Infektionsgefahr aber in Innenräumen. Der Aufenthalt von Personen im gleichen Zimmer ohne Schutzmaßnahmen müsste untersagt werden, auch im Arbeitsumfeld und insbesondere bei öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch in Supermärkten. Auch hier scheint sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass bereits ein einfacher Mund-Nasenschutz, wenn ihn alle tragen, die Infektionsraten drastisch nach unten drücken würde.
Dieser reduziert nicht nur die Wahrscheinlichkeit der eigenen Infektion, sondern unterbindet weitgehend das Ausscheiden von Pathogenen durch asymptomatische Infizierte.
Daten und die Reaktionszeit darauf
Da der Median der Inkubationszeit bei 5 Tagen liegt, kann übrigens auch schon nach wenigen Tagen die Wirkung einer Maßnahme abgeschätzt werden - wenn denn das RKI endlich einmal in der Lage wäre, die Infiziertenzahlen ohne Wochenendhügel in Echtzeit zu liefern.
Insofern könnte sich die Schutzmaskenpflicht in Österreich seit dem 01.04. schon positiv ausgewirkt haben - dort sinken die Neuinfektionen seit dem 01.04. im Mittel täglich um 14 Prozent (5. Wurzel aus 246/531 = 0,86). In Deutschland ist so ein Trend noch nicht so verlässlich erkennbar.
Stagniert die Zahl der Neuinfektionen, wie das etwa in Italien auf hohem Niveau (4.000 bis 5.000 Fälle) zu beobachten ist (7. Wurzel aus 4316/5217 =0,973, also nur 2,7 Prozent tägliche Abnahme in der letzten Woche), bedeutet das zwar, dass das Gesundheitssystem nicht noch stärker überrollt wird, aber trotzdem am Limit bleibt. Gleichzeitig ist dies aber von einem wirtschaftlich verheerenden Lockdown begleitet.
Die italienischen Zahlen zeigen einerseits, dass die über social distancing hinausgehenden rigiden Ausgangssperren wohl wenig bringen und andererseits, dass das Land keine Chance haben wird, auf die Füße zu kommen, solange nicht alle Masken tragen. Dass der Westen diese offensichtliche Evidenz aus allen Ländern, die den Ausbruch erfolgreich bekämpft haben, solange ignoriert hat, bezahlt er mit Fallzahlen, die um den Faktor 10 größer sind als in Asien.
Wann kommt endlich die Maskenpflicht?
Die Versäumnisse in der Maskenbevorratung wurden schon hinreichend thematisiert, so dass man sich jetzt auf die Beschaffung und Produktion konzentrieren sollte (was ja auch geschieht), ohne die Verantwortlichkeiten zu vergessen. 50 Millionen Stück pro Woche (Wiederverwendung durch Bügeln) sollten jedenfalls reichen.
Sobald einfacher Mund-Nasen-Schutz für alle zur Verfügung steht, muss er sofort verpflichtend in allen geschlossenen Räumen und Verkehrsmitteln eingeführt werden. Österreich spielt hier einen nicht unvernünftigen Vorreiter. Umgekehrt kann es dann auch Lockerungen geben, wie sie auch die sehr guten Stellungnahmen der Leopoldina vorschlagen.
Im Freien können damit die Abstandsregeln z.B. auf die halbe Entfernung reduziert werden. Gleichzeitig spricht dann nichts dagegen, Geschäfte und Betriebe wiederzueröffnen, zum Beispiel unter der Vorgabe von mindestens 10 m2 Fläche pro Person. Neben dem Mindestabstand und Desinfektionsregeln spielt dabei auch die Raumbelüftung eine wesentliche Rolle.
In gut belüfteten Räumen könnten z.B. auch die anstehenden Abiturprüfungen abgehalten werden - mit Abstand und Masken. Ebenfalls spricht nichts dagegen, den Gastronomiebetrieb zumindest im Freien sukzessive zuzulassen, gegebenenfalls auch den Hotelbetrieb. Sobald individuelle Ansteckung in den Verkehrsmitteln (Flugzeug, Bahn, Bus) wirksam unterbunden werden kann, ist auch gegen steigende Mobilität nichts einzuwenden.
Epidemiologisch bisher unterschätzt ist die Isolierung von Infizierten in Behandlungszentren. In den besonders betroffenen Regionen Nordbayerns sollen dazu schon Vorbereitungen im Gange sein (so jedenfalls berichtete mir ein Lokalredakteur, der nicht genannt werden wollte), die Ausweitung von solchen Zentren wäre jedenfalls sinnvoll. Ebenso wenig spricht gegen die frühe Identifikation von Kranken mittels Fiebermessen z.B. in Geschäften oder Gaststätten.
Maßstäbe sind Zahlen und Evidenz
Als Kriterium taugt übrigens die wenig sinnvolle "Verdopplungszeit" kaum. Zu einer Lockerung müssen vielmehr die Neuinfektionen so weit sinken (wohl bis auf ca. 100 pro Tag, vgl. Südkorea), dass man in die "Phase 1" der Bekämpfung zurückkehren kann, indem man Kontakte nachverfolgt und Infektionsketten frühzeitig unterbricht.
Nützlich kann dabei die derzeit vorgestellte Tracking-App sein oder auch jene vom österreichischen Roten Kreuz entwickelte, die auf Bluetooth basiert. Damit diese Strategie nicht wieder scheitert (vgl. Deutschland anscheinend unfähig, auf Coronavirus zu testen), sind nicht nur viele Tests nötig (Kapazitäten wurden inzwischen aufgebaut), sondern vor allem auch schnelle.
Sobald die Epidemie auf diese Weise unter Kontrolle ist, können Grenzen mit Ländern wieder geöffnet werden, die ähnliche Standards haben. Ideal wäre dies bald innerhalb Europas, gerade deshalb sollte Deutschland nicht durch Zögern Zeit verlieren.
Zur sinnvollen Anpassung der Regelungen müsste zusätzlich ein wissenschaftlicher Beirat gebildet werden, der permanent die neuesten Ergebnisse evaluiert. Dabei tun sich u.a. folgende Fragen auf: Welche Symptome und Spätfolgen des Virus gibt es, welche Organe werden befallen? Inwieweit existiert Immunität? Wie mutiert das Virus und gibt es dabei klinische Unterschiede?
Welche Medikamente und Impfungen versprechen Erfolg? Gibt es noch unbekannte Faktoren, die sehr milden von den sehr schweren Verläufen unterscheidet? (eine ungewöhnliche Charakteristik von Covid-19) Welche Übertragungswege sind die wichtigsten, wie überleben Viren, wie desinfiziert man? (wichtig z.B. auch das Infektionsrisiko in Wasser). Was ist die Infektionsrate in einer zufällig ausgewählten Bevölkerungsgruppe?
Entgegen den "Durchseuchungs-Szenarien", die tatsächlich 1-2 Jahre dauern würden, ist die Corona-Pandemie mit den richtigen Maßnahmen innerhalb von Wochen in den Griff zu bekommen, trotz der dramatischen Gefahren, die sie nach wie vor heraufbeschwört.
Vertrauliche Informationen an den Autor unter coronavertraulich@protonmail.com. Meinungen sind im Forum besser aufgehoben. Zahlreiche Aspekte wurden schon in den vorigen Artikeln des Autors besprochen.
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.