Corona-Winter ohne "epidemische Lage nationaler Tragweite"?
Gesundheitsminister Spahn ist für ein Auslaufen des Ausnahmezustands. Lauterbach warnt. Steigende Zahlen beunruhigen; Modelle plädieren für einen "Mittelweg" bei den Maßnahmen
Bleibt die Erlaubnis für eine 2G-Regelung für Supermärkte, mit der Hessen letzte Woche für viele Diskussionen gesorgt hat? Wird das Schule machen?
Die Frage schlummert in den Diskussionen über die Beendigung der "epidemischen Lage von nationaler Bedeutung". An deren Feststellung hängen rechtlich eine Reihe von Maßnahmen. Aufgelistet sind sie im Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes. Dort wird im Absatz 7 auch etwas über die Eigenständigkeit der Länder festgeschrieben: "Nach dem Ende einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite können die Absätze 1 bis 6 auch angewendet werden, soweit und solange die konkrete Gefahr der epidemischen Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in einem Land besteht und das Parlament in dem betroffenen Land die Anwendbarkeit der Absätze 1 bis 6 für das Land feststellt."
Dazu gibt es noch das Hausrecht, wie die Tagesschau informiert: "Supermärkte, Gaststätten und der ÖPNV könnten Abstandsgebote, Masken- oder 3G-Nachweispflichten selbst in ihren Räumen einführen - gestützt auf ihr Hausrecht.."
Am 25. November muss nach vorgegebener Fristsetzung ("spätestens alle drei Monate", § 5 Infektionsschutzgesetz, Epidemische Lage von nationaler Tragweite) vom Bundestag neu überprüft werden, ob die Feststellung der epidemischen Lage nationaler Tragweite noch gegeben ist und die Einschränkung der Grundrechte in der aktuellen Lage weiter zu rechtfertigen ist.
Spahn: Die Impfung macht den Unterschied
Gesundheitsminister Spahn sprach sich am Montag bei Beratungen mit den Gesundheitsministern der Länder dafür aus, die "epidemische Lage nationaler Tragweite" auslaufen zu lassen und den "seit fast 19 Monaten bestehenden Ausnahmezustand" zu beenden". Zur Begründung wird auf die Impfung verwiesen, die den Unterschied macht:
Entscheidender Grund für Spahns Plädoyer war nach Teilnehmerangaben, dass das Robert Koch-Institut die Gefährdungslage für geimpfte Personen und die Gefahr einer Überforderung des Gesundheitssystems mittlerweile nur noch als moderat einstuft. Das RKI weist seit längerem darauf hin, dass fast alle Infektionen und vor allem die schweren Corona-Krankheitsverläufe fast nur noch bei Ungeimpften auftreten.
Tagesschau
Die Gegenposition zur Ankündigung von Erleichterungen kommt verlässlich plakativ von Karl Lauterbach, der kürzlich vor "Heroin in Cannabis" warnte, was selbst den Fakten-Checkern von der Tagesschau nicht geheuer war. Der SPD-Gesundheitspolitiker bezeichnete Spahns Vorstoß als "falsches Signal":
Es klingt nach FreedomDay durch den Minister. Wir brauchen mehr Erfolg beim Impfen, sinkende Inzidenz, Schutz unserer Kinder. Der Winter wird als Covid Problem unterschätzt. Nach Erfolg kann der Bundestag die Epidemie beenden.
Karl Lauterbach
Warten bis zum nächsten Frühjahr, bis zum März, April oder gar Mai? Wie auch im letzten Winter gibt es keinen Mangel an Nachrichten, die das Lager der Vorsichtigen beunruhigen. Eine endlose Fortsetzung?
Vierte Welle mit "neuem Schwung"
Ein Beobachter der Corona-Zahlen zeigt anhand von Kurven, welchen "neuen Schwung" die vierte Welle gerade aufnimmt und schließt aus den Trends: "Erfahrungsgemäß ist nun damit zu rechnen, dass schon in den nächsten Tagen die Intensivbettenbelegung wieder deutlicher zunimmt."
Ähnliches stellt auch ein Spiegel-Bericht (mit Zahlschranke) in Aussicht, der "drei Szenarien für den Coronawinter" präsentiert, die ein Team um die Physikerin Viola Priesemann errechnet hat. Dort wird davon ausgegangen, dass die Strategie im Winter maßgeblich über die Situation im Frühjahr entscheidet. Die Modellrechnungen würden einerseits zeigen:
Weniger Maßnahmen führen zu einer stärkeren Infektions- und Erkrankungswelle im Winter, begünstigen aber eine hohe Impfquote und einen höheren Anteil Genesener im Frühjahr. Die Lage entspannt sich nach dem Winter.
Spiegel
Anderseits:
Gelten im Winter dagegen strengere Regeln, stecken sich zur kalten Jahreszeit weniger Menschen an oder erkranken, dafür sinkt die Impfbereitschaft und es gibt weniger natürliche Infektionen. Werden im Frühjahr dann offizielle Maßnahmen gelockert, droht eine umso heftigere Infektions- und Erkrankungswelle.
Spiegel
Großveranstaltungen beschränken und Masken tragen
Priesemann spricht sich im Beitrag für einen "Mittelweg" aus, der realistisch wäre. Konkret wird dafür an Maßnahmen genannt: Großveranstaltungen beschränken und Masken tragen, "wo es vertretbar ist". Damit würden zwar auch Infektionszahlen und die Zahlen der Erkrankten steigen, aber eine "heftige Welle" vermieden.
Bei dem Mittelweg-Szenario wäre nach der Aufhebung der Maßnahmen im Frühjahr ein "leichterer Anstieg bei den Infizierten und Schwerkranken" zu erwarten, "als wenn das Virus über den Winter sehr stark zurückgedrängt wird".
Die Modellierung der Pandemie
Bemerkenswert ist die nach Modellen errechnete Größe von Todeszahlen. Demnach wäre im Mittelweg-Szenario "bis zum Ende des Winters mit ungefähr 30.000 Covid-19-Toten zu rechnen". Die Modell-Zahl ergänzt der Spiegel-Bericht mit Zahlen aus dem Winter 2020/2021. In Deutschland seien in dieser Jahreszeit trotz strengerer Corona-Maßnahmen: "nachweislich gut 70.000 Menschen an und mit Covid-19 gestorben".
Nun sind solche Zahlen immer mit großen Diskussionen verknüpft. Auch unterliegen Modellrechnungen einem Streit auch innerhalb der Wissenschaft. Der findet, je nach Anspruch, auf einer anspruchsvollen Ebene statt. Den interessierten Lesern sei hierzu die Streitschrift "Zur Modellierung der Corona-Pandemie des Physikers Bernhard Müller für die Autorengruppe um Matthias Schrappe empfohlen.
Die politischen Entscheidungen
Die Erfahrung sagt, dass die Entscheidungen zur Corona-Politik sich aus der wissenschaftlichen Diskussion nicht die anspruchsvollen Einwände herausnehmen, sondern sich auf das stützen, was am bequemsten durchzusetzen ist, gestützt auf Mehrheitsannahmen und Interessen der Wirtschaft. Die Kritik an strengen Maßnahmen ist nicht zu überhören. Jetzt geht es um den Aufschwung.
Laut Insider-Angaben des Spiegel haben sich "die zukünftigen Ampel-Koalitionäre in den Sondierungen in der vergangenen Woche darauf verständigt, die epidemische Notlage zu beenden".
Auch Ärztevertreter, wie Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, oder Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, unterstützen Spahns Vorschlag. Dank der Impfung sei mehr möglich.
Gassen plädiert für eine "Vorlaufzeit von sechs bis sieben Wochen" damit sich mehr impfen lassen können. Dann rücke der "Freedom Day" schrittweise näher. Ländervertreter argumentieren für bundesweit einheitliche Lösungen "auch nach einem Auslaufen der sogenannten epidemischen Lage".
Die Frage danach, wie es um den 2G-Zugangsausweis an den Supermarkttüren steht, ermöglicht über deren Hausrecht und im Konflikt mit Grundrechten, ist noch offen. Die Gerichte arbeiten sich derzeit an vielen Eingaben ab.