"Corona wird insbesondere die soziale Spaltung weiter vertiefen"
Der Internist Matthias Schrappe über analytische Fehler im Umgang mit dem Corona-Virus, die wirkliche Aussagekraft des R-Werts und die wahrscheinlichen Folgen der Pandemie
Herr Prof. Schrappe, seit Beginn der Corona-Pandemie sorgen immer wieder lokal begrenzte Ausbrüche des neuartigen SARS-CoV-2-Virus für Schlagzeilen. Entsprechend wird in den Hot-Spots getestet: an Flughäfen, in Partyvierteln, bei der Hamburger Werft Blohm+Voss, in Schlachtbetrieben. Sie kritisieren dieses Vorgehen. Weshalb?
Matthias Schrappe: Lokale Herde sind typisch für jede durch asymptomatische Träger übertragene Infektionskrankheit wie HIV, Krankenhausinfektionen und auch Corona. Diese Herde müssen erkannt und eingegrenzt werden, und wir haben nur kritisiert, dass man dies zu spät begonnen hat, weil man die herdförmige Komponente der Ausbreitung nicht für relevant hielt. Bereits Ende März hatten wir aber in aller Deutlichkeit gesagt, die ersten Herde sind die Krankenhäuser ...
… die sogenannte nosokomiale Verbreitung …
Matthias Schrappe: ... und Pflegeheime. Und tatsächlich: Bis zum 28. September waren 16.176 bzw. 11.164 Mitarbeiter und 4.229 Patienten bzw. 20.150 Bewohner in diesen Institutionen infiziert worden. Fast die Hälfte der Sterblichkeit geht auf diese Institutionen zurück. Zur Frage der Teststrategie muss man an diesem Beispiel leider illustrieren, dass von Anfang an gar keine Strategie vorhanden war. Die Politik hat sich als beratungsresistent erwiesen und sich lediglich auf solche Wissenschaftler bezogen, die die Epidemie unter der Laborperspektive beurteilen können. Die erfahrenen Infektionsspezialisten, die wir in Deutschland haben, und die Tag für Tag im Krankenhaus daran arbeiten, die nosokomialen Infektionen zu kontrollieren, wurden nicht einbezogen.
Dies betrifft leider auch die publizistisch aufgeladene Ausdehnung des Testumfanges. Wer viel testet ist ein durchsetzungsfähiger Politiker. Wenn man die Methode der PCR aber an der Infektiosität, also der einzig relevanten Fähigkeit zur Weitergabe des Virus, validiert, dann haben wir einen erheblichen Anteil an falsch-positiven Befunden. Wir schicken also Personen in Quarantäne, die nicht infektiös sind, vor allem bei Ausbleiben oder nach Abklingen der Symptome. Genau dies hat jetzt auch eine Review des Oxforder Zentrums für Evidenz-basierte Medizin ergeben.
In einem Fachaufsatz schlagen Sie gemeinsam mit fünf Kollegen sogenannte Kohortenstudien vor. Was wäre der Erkenntnisgewinn?
Matthias Schrappe: Die Problematik bei asymptomatisch übertragenen Infektionen besteht in der Dunkelziffer. Wählt man eine anlassbezogene Teststrategie, erkennt man nur die Kranken mit Symptomen, die auch eine schlechtere Prognose haben, dann ist auch die Sterblichkeit höher. Deswegen veröffentlicht das Robert-Koch-Institut (RKI) auch fortwährend Sterblichkeitsdaten, die um den Faktor 10 über der - mittlerweile wissen wir hier sehr genau Bescheid - wirklichen Letalität von circa 0,3 Prozent liegen. Aus diesem Grund wäre von Anfang an, also bereits Ende Februar, statt der ganzen Aufregung eine nationale Kohorte notwendig gewesen, die eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung umfasst und auch die symptomlosen Infizierten erfasst.
Als Vorbild führen Sie ja die sogenannte Island-Kohorte an. Was war dort das Studiendesign und was war das Ergebnis?
Matthias Schrappe: In Island hat man als erstes Land das Richtige getan: eine Populationskohorte aufgebaut und dadurch ein gutes Bild über die Ausbreitungsdynamik gewonnen: recht hohe Durchseuchung, geringe Rolle der Kinder hinsichtlich Manifestation und Übertragung, mäßige Infektiosität etwa in den Haushalten. Mehrere Studien haben die Ergebnisse bestätigt.
In Deutschland hat man einen solchen Ansatz nicht verwirklichen wollen. Auf Einzelinitiative sind einige Herde untersucht worden - sehr wichtige Untersuchungen, aber eine Herduntersuchung wie in Heinsberg hat eine ganz andere Aussagekraft als eine echte Kohorte, denn in den von Herdausbrüchen betroffenen Regionen ist der Sturm ja schon einmal drübergegangen.
"In der Infektiologie ist die Unterscheidung von Mortalität mit und wegen einer Infektion ein zentrales, wirklich unverzichtbares Element"
Sie schreiben, dass auch bei der Erfassung der pandemiebedingten Todesfälle der Blick sozusagen zu eng ist. Wie lässt sich tatsächlich erfassen und unterscheiden, wer mit dem neuartigen Corona-Virus verstorben ist und nicht an dem Virus?
Matthias Schrappe: Das war wirklich ein fast unglaubliches Erlebnis: Wir versuchen seit Jahrzehnten im Rahmen einer modernen Medizin, der Evidenz, dem nachvollziehbaren Wissen, den Vorrang einzuräumen, und dann kam die Empfehlung aus der Politik - das RKI ist dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt -, ausgerechnet bei dieser neuen und bedrohlich wirkenden Erkrankung auf Obduktionen zu verzichten. Glücklicherweise haben sich nicht alle Experten daran gehalten und Kriterien für die von Ihnen angesprochene Differenzierung wurden ausgearbeitet. In der Infektiologie ist nämlich die Unterscheidung von Mortalität mit und wegen einer Infektion ein zentrales, wirklich unverzichtbares Element.
Wie bewerten Sie diesen Eingriff in die wissenschaftliche Analytik durch das RKI?
Matthias Schrappe: Dieses unwissenschaftliche Vorgehen deutet auf ein gefährliches Moment in der Bewältigung der Corona-Epidemie hin, nämlich einer Missachtung der Wissenschaft in der Breite der unterschiedlichen Disziplinen. Im Gesundheitssystem und in den Gesundheitswissenschaften haben wir ja in der letzten Zeit enorme Fortschritte gemacht, nicht nur beim Thema Evidenz, sondern auch bei der Patientenrolle, also der Autonomie des Patienten, und beim Thema Patientensicherheit, also etwa der Frage, wie man mit Risiken um geht, sie erkennt und so fort. Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu einer Art Rollback kommt, so dass der Patient nur zu gehorchen hat und eine persönliche Einschätzung und Beurteilung keine Rolle mehr spielt.
"Eine Katastrophe, die Einschränkungen wie im geänderten Infektionsschutzgesetz notwendig macht, ist das sicherlich nicht"
Inzwischen wird aber obduziert. Mit welchem Ergebnis?
Matthias Schrappe: Es versterben vor allem mehrfach vorerkrankte Patienten höheren Alters. Es gibt bei weit über 9.000 Todesfällen in Deutschland nur drei unter 20 Jahre. Und es kommt bei diesen Patienten, wie bei schweren Infektionen üblich, zu Schädigungen fast aller Organsysteme. Vergleicht man die Situation aber mit ins Krankenhaus eingewiesenen Patienten mit einer "normalen" Lungenentzündung anderer Genese, dann liegt die Sterblichkeit der hospitalisierten Covid-19-Patienten um knapp 50 Prozent niedriger. Es hat außerdem Fortschritte in der Therapie gegeben. Eine Katastrophe, die - so hat ja auch die jüngste Expertenanhörung ergeben - Einschränkungen wie im geänderten Infektionsschutzgesetz notwendig macht, ist das sicherlich nicht.
Bei den von Ihnen beanstandeten anlassbezogenen Tests werden asymptomatische Infizierte nicht erfasst. Warum sollten sie erfasst werden?
Matthias Schrappe: Man muss sich klar vor Augen führen, wie sich die Situation zurzeit darstellt: Wir testen rund eine Million Personen in der Woche, ungefähr 10.000 davon, also ein Prozent, sind PCR-positiv. Diese werden dann auf die restlichen 82 Millionen Einwohner umgelegt, und man kommt dann auf Angaben wie "zwölf Infizierte auf 100.000". Dies ist natürlich völlig unsinnig, denn man weiß ja gar nicht, wie viele Infektionen bei den restlichen, nicht getesteten 82 Millionen Personen vorliegen.
Wenn man als Beispiel zur Annäherung annimmt, diese 82 Millionen hätten nur zehn Prozent der Prävalenz der ursprünglichen Stichprobe aus einer Million Personen, dann wären dies immerhin weitere 82.000 Fälle, die dort sozusagen versteckt vorkämen. Wir hätten in der besagten Woche in Deutschland statt 10.000 dann in Wirklichkeit 92.000 "Neuinfektionen".
Man kann es auch anders sagen: Durch die vorhandenen Daten kratzen wir nur etwas an der Oberfläche der Epidemie, die wirkliche Dynamik können wir mit solchen Methodiken kaum erahnen. Deshalb bleiben auch die Ursachen für die deutlichen Unterschiede der Testprävalenzen zwischen den Bundesländern verborgen. Wahrscheinlich erleben wir eine stille Ausbreitung der Epidemie von Süden und Westen kommend.
In der Presse spielt der sogenannte R-Wert eine große Rolle. Ist dieser Wert eine belastbare Größe?
Matthias Schrappe: Wir haben den R-Wert schon früh kritisiert. Es handelt sich um eine rückblickende Hilfsgröße, die zwei Zeiträume in den zurückliegenden Wochen miteinander vergleicht und daraus ableitet, ob die Zahlen steigen oder fallen. Wenn Sie sich als Gedankenexperiment vorstellen, dass Sie jetzt vier Tage lang keine Tests durchführen, dann ist der R-Wert auf null abgefallen. Wenn Sie bei der jetzigen Situation die Tests in den nächsten vier Tagen verdoppeln, dann steigt der R-Wert stark an, und Sie müssen einen neuen Lockdown ausrufen. Um es vorsichtig zu sagen: Eine Größe, die so schwerwiegende Entscheidungen abstützen kann wie z.B. der Einschränkung der Freizügigkeit durch Quarantäne oder des Demonstrationsrechtes, sollte anders aussehen.
"Es ist von einer zunehmenden Kontrollmacht des Staates auszugehen"
Was könnte also besser laufen, auch mit Blick auf mutmaßlich steigende Infektionsfälle im Herbst und Winter?
Matthias Schrappe: Ich kann hier nur drei Punkte herausgreifen: Zum einen müsste man die sogenannte sporadische, also gleichmäßig-homogene Ausbreitung in der Bevölkerung von den Herdausbrüchen trennen. Wenn in Hamm eine Hochzeitsfeier stattfindet, dann ist dies ein Ausbruch und hat wenig bis nichts mit der Gesamtbelastung in der Kommune zu tun. Herde kann man eingrenzen, aber die sporadische Ausbreitung ist durch Nachverfolgung nicht zu beherrschen.
Derzeit bringt man die Gesundheitsämter und die dortigen Mitarbeiter an ihre Belastungsgrenzen, die immer das gleiche sehen: Familienfeiern, In-door-Parties und ähnliche Szenarien. Stattdessen wäre es sinnvoll, die Gesundheitsämter zur regionalen oder lokalen Beurteilung der Situation zu ermutigen, denn sie kennen sich vor Ort aus und wissen ja gut, wo Risiken liegen und ein neuer Herd entstehen könnte.
Zweitens ist es unumgänglich, zur Beherrschung der sporadischen Ausbreitung und deren Auswirkung eine Strategie zum Zielgruppen-orientierten Schutz auszuarbeiten. Es gibt, wie bei allen Infektionen, Gruppen in der Bevölkerung, die besonders gefährdet sind. Da wir die Epidemie nicht stoppen können, bleibt uns eigentlich ja gar nichts anderes übrig. Leider wird dann immer vom Wegsperren gesprochen. Ein wohlwollender Schutz, der Persönlichkeit, Würde und Humanität in den Mittelpunkt stellt, kann man sich in unserer Gesellschaft anscheinend nur schwer vorstellen. Warum für ältere Menschen kein Taxi zum Preis eines ÖPN-Tickets? Warum keine Hilfprogramme für ambulant zu pflegende Personen? Dies wäre viel sinnvoller, als die immerwährende Drohung mit einem zweiten Lockdown.
Und drittens wäre es wirklich wichtig, sinnvolle Zahlen zur Steuerung zu verwenden. Der Wert "50/100.000" ist vollständig inhaltsleer. Wir würden keine Bachelor-Arbeit mit einem solchen Ansatz akzeptieren.
Was, denken Sie, wird diese Pandemie in Gesundheitssystemen und Gesellschaften verändern?
Matthias Schrappe: Alle reden von Rücksichtnahme und Verantwortung. Zu erwarten ist stattdessen leider eine zunehmende Ungleichheit. Corona ist eine Erkrankung, die insbesondere die soziale Spaltung weiter vertiefen wird, denn die beschlossenen Maßnahmen treffen eben nicht alle Mitbürger gleichermaßen.
Bereits jetzt hat ja die Diskussion darüber begonnen, wer die Kosten später tragen soll: Wenn die Schulden abgetragen werden sollen, dann werden weitere Jugendeinrichtungen und Schwimmbäder geschlossen. Was die Versprechungen angeht, da haben wir ja gesehen, was das Klatschen für die gefeierten Alltagshelden wert war.
Und außerdem ist von einer zunehmenden Kontrollmacht des Staates auszugehen, ein Punkt, der in der Zukunft sehr wichtig werden wird. Es werden anlässlich der Corona-Krise Instrumente ausgetestet, die, vergleichbar zu einigen ostasiatischen Staaten, eine individuelle Steuerung der individuellen Bürger und Bürgerinnen erlaubt. Das betrifft ihre Freizügigkeit etwa durch die sogenannte Corona-App und den Zwang zur Standortfreigabe, oder das Gesundheitsverhalten. Die ärztliche Schweigepflicht ist in größter Gefahr. Damit gefährden wir einen wichtigen, historisch über lange Zeit gewachsenen Pfeiler unserer Gesellschaft.
Matthias Schrappe ist emeritierter Professor für Innere Medizin. Von 2007 bis 2011 war er stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung im Gesundheitswesen.
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