Coronavirus: Der kopflose Westen
Die Politik erweist sich als unfähig, die selbstverschuldete Katastrophe zu stoppen - obwohl es nach wie vor möglich wäre
Der body count der Toten - und in der Lombardei, in Madrid, in New York sehen wir erst den Anfang - wird eines Tages das ganze Versagen der westlichen Hemisphäre offenlegen, natürlich inklusive der heute noch unabsehbaren Schockwirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft in der ganzen Welt.
Wochenlang haben die Verantwortlichen die Fakten nicht zur Kenntnis genommen und die Gefahr heruntergespielt. Als die Ausbreitung entgegen der beruhigenden Vorhersagen plötzlich offensichtlich war, ging man zu einer anderen Form des Kopf-in-den-Sand-Steckens über: Fatalismus, man könne ja gegen die Verbreitung ohnehin nichts mehr tun. Dümmer als jeder religiöse Fanatiker vereinten Politiker wissenschaftliche Ignoranz mit dem Glauben an das Schicksal.
Führende Witzfiguren
Von der Trump-Administration hat kaum jemand Verstand erwartet, Europa (mit einer Ärztin an der Spitze) war jedoch ebenso ein Totalausfall. Die Gefahr für Italien kam nicht wirklich überraschend, das zerstrittene Spanien erweist sich als total unfähig, Politkasper Boris Johnson spielt mit dem Leben seiner Landsleute Roulette, die Regierung Macron lässt keine Gelegenheit aus, sich in Korruption zu verstricken, Deutschland war bisher führend in den Disziplinen Inkompetenz, Aussitzen und Beschwichtigen. Aber auch die kleineren Staaten machen es kaum besser.
Zuerst war ja das kleine Virus weit weg und daher kein Problem, nun explodieren auf der Weltkarte die roten Punkte mit den Infektionszahlen - und daher könne man ja nichts mehr machen. Beides sind gleichermaßen irrationale Fehleinschätzungen. Anfangs verstand man das exponentielle Anwachsen nicht, nun ist man zu dumm, in den verheerenden Exponenten mit kühlem Kopf einzugreifen. Diejenigen, die immer vor "Panikmache" gewarnt und behauptet haben, die Angst sei schlimmer als das Virus, ergreift jetzt wirkliche Panik. Sie machen vor Angst in die Hose, anstatt evidenzbasiert, überlegt und entschlossen zu Handeln. Das wäre immer noch möglich.
Keine Ahnung, kein Plan, zu arrogant über den Tellerrand zu blicken
Dabei muss das Rad nicht neu erfunden werden. Aber man war entweder zu ignorant, Fachtexte zu lesen, oder zu arrogant, von den asiatischen Ländern zu lernen (Wirksame Maßnahmen in China, Wie Asien die Epidemie in den Griff kriegte). Die Medien assistieren dabei wie gewohnt, allen voran Claus Kleber mit seinem China-Bashing. Die Marschrichtung lautet offenbar, das Staatsversagen zu kaschieren, noch bevor die ganze Bandbreite der Folgen sichtbar wird.
Noch immer sind die Maßnahmen nicht auf das Wesentliche fokussiert. Kreditgarantien sind verständlich, aber sie sind ungefähr so wirkungsvoll, wie Versicherungssummen auszuzahlen für ein brennendes Gebäude, dessen Hauptteil noch zu retten wäre. Damit wird auch klar, dass die Strategie "stoppen" angebracht ist statt "verlangsamen".
Die westlichen Regierungen gleichen einer Feuerwehr, die erwägt, ob sie lieber löschen soll und die verbleibenden Funken austreten oder den Brand doch "kontrolliert" weiterqualmen lässt, bis er in der Ruine von selbst ausgeht. Das hilft auch der Wirtschaft nicht.
Die Lösung liegt bereits vor
Es gibt keine überzeugendere und fundiertere Begründung dafür als den brillanten Artikel des Ingenieurs und Wirtschaftswissenschaftlers Tomas Pueyo, dem ich mich voll anschließe (und 40 Millionen andere). Bitte nehmen Sie sich die Zeit, ihn durchzulesen! (hier deutsch). Anders als in den meisten Beiträgen wird hier mit Zahlen und Evidenz argumentiert. Zur Illustration, wie verrückt der Vorschlag des "Laufenlassens" ist, ein Diagramm aus dem Artikel, das zeigt, um welche Größenordnung die potenziellen Intensivpatienten (ICU) die Kapazitäten übersteigen würden (auch eine bessere Versorgung in Deutschlands würde die rote Linie nur marginal heben. Alle über der Linie sterben).
Als ob das nicht schon schlimm genug wäre: Die Überlastung des Gesundheitssystems würde zu vielen weiteren Toten führen, eine "Abmilderungsstrategie" zusätzlich die Mutationen des Virus fördern.
Umsetzen kann man eine solche Strategie der Vernunft derzeit nur in Nationalstaaten. Es ist hier besser, auch dezentral Maßnahmen sofort zu treffen und deren Wirksamkeit zu beweisen, als um der politischen Geschlossenheit Willen wertvolle Zeit zu verlieren. Was ist also zu tun?
1. Sofortmaßnahmen: weitere Ansteckungen vermeiden
Seit zwei Tagen steigen die Infektionszahlen wieder beunruhigend. Offenbar werden die Maßnahmen noch nicht ausreichend eingehalten
- Konsequentes und ausnahmsloses social distancing privat, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Nahverkehr, aber auch im Freien. Jeder ist potenzielles Ansteckungsrisiko und muss sich von anderen fernhalten (außer Familie, Partner und Wohngemeinschaft).
- Für jeden, insbesondere natürlich für Menschen mit vielen beruflichen Kontakten, müssen Masken zur Verfügung stehen. Das Tragen wird von Ärzten längst empfohlen.
Das Leugnen der Wirksamkeit durch die Behörden ist geradezu kriminell. Ist man zu stolz, China um Hilfe zu bitten?
- Verhindern von Kontaktinfektionen durch Händewaschen, Handschuhe, Berührungen vermeiden und Desinfektion, auch außen in dicht besiedelten Innenstädten. Werbung für sinnvollen Individualschutz könnte dazu beitragen.
- Ausgangssperren sowie Schließungen von Betrieben, Geschäften, Restaurants, Schulen und Universitäten nur als Notmaßnahme.
- Erweiterung der Bettenkapazität (nur bedingt möglich und geeignet, s. Diagramm oben).
- Bereitstellung von aktuellen Daten, insbesondere zu Intensivbelegung, ggfalls durch Entzug von Kompetenzen des RKI (Dashboard), das sich als unfähig erwiesen hat (vgl. Italien).
2. Kurzfristig: Kranke identifizieren und isoliert behandeln
- Einrichtung von COVID19-Behandlungszentren in Hallen oder Zelten durch die Landkreise oder Städte, gegebenenfalls unterstützt durch technisches Hilfswerk oder Bundewehr.
- Dort findet Erstdiagnostik statt durch Fiebermessen, Blutbild, Sauerstoffsättigung, Lungen-CT, Influenza- und SARS-CoV2-Test sowie die Behandlung leichter Fälle, auch medikamentös (vgl. Epidemiologisch wirksame Maßnahmen in China).
- Erkennen von Verdachtsfällen durch Temperaturscreening im öffentlichen Raum, insbesondere an Bahnhöfen, Supermärkten, Ämtern, Zugang verweigern bei Fieber oder Husten.
- Verdachtsfälle sollen sich freiwillig in die Behandlungszentren begeben. Allerdings soll die Überführung schwerer Fälle ins Krankenhaus in der Regel nur von den Zentren aus erfolgen, wo effizientere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten vorliegen (Chinesische Leitlinien).
- Alle erdenklichen Schutzmaßnahmen, Erleichterungen und vorrangige Behandlung für Krankenhauspersonal. Separate COVID19-Behandlungskapazitäten aufbauen, ohne dass es zu einer Unterversorgung anderer dringender Fälle kommt.
- Alle Erkrankten sollen auf Wunsch Zugang zu neuartiger medikamentöser Behandlung innerhalb von Studien erhalten, insbesondere wenn vorläufige Evidenz für die Wirksamkeit vorliegt. Sicherstellen der Medikamentenversorgung, ggfalls staatliches Außerkraftsetzen von Patenten.
3. Mittelfristig: Wege zur Besserung
- Massive Ausweitung der Testkapazitäten mit schnellen Ergebnissen. Geeigneter Einsatz von Genesenen.
- Ausgangssperren sowie Schließungen von Betrieben, Geschäften, Restaurants, Schulen und Universitäten nur so lange, bis die Anzahl der Neuinfektionen signifikant zurückgegangen ist.
- Wenn individueller Schutz durch Abstand, Masken, Frischluft und Hygiene gewährleistet ist (aber nur dann), graduelles Lockern der obigen Notmaßnahmen, Übergang zu smart distancing.
- Reisebeschränkungen zu Gebieten mit ähnlichem Infektionsanteil und gleichen Maßnahmen können aufgehoben werden (auch international).
- Monitoring der neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse hinsichtlich Pathologie des Virus (insbesondere mögliche Folgeschäden, Behandlungsoptionen, Medikamenten, Vorbeugung, Epidemiologie, Virologie, Mutationen, Hygiene und entsprechende Anpassung der obigen Maßnahmen. Offene Diskussionskultur in diesen Beratergremien.
4. Langfristiges Ziel: Sukzessive Eliminierung
- Sobald die Neuinfektionsrate praktisch Null erreicht, langsamer Übergang zu der Strategie Kontaktnachverfolgung und Unterbrechen der Infektionsketten. Die kann allerdings nur funktionieren mit schnellem Testen und Isolieren sowie Quarantäne bei Einreise (Modell Taiwan).
- Sukzessive Zulassung von Veranstaltungen nach Abwägung von Wichtigkeit und Gefährdungspotential.
- Rücknahme aller in der Krise getroffenen staatlichen Ermächtigungen, sofern sie nicht unverdächtig der Vorbeugung dienen (insbesondere keine weitere Überwachung oder Einschränkung der Meinungsfreiheit).
Insgesamt: ein lösbares Problem!
Ausblick
Es ist klar, dass damit noch nicht alle Aspekte der Corona-Epidemie erörtert sind. Mindestens wird man die Frage aufwerfen, ob ein Wirtschaftssystem, das Einsparungen im Gesundheitswesen anpries und aus Budgetgründen das Einstampfen von Schutzausrüstung erlaubte, den Menschen wirklich nützt. Agieren die Länder des "freien Westens" aber weiterhin derart inkompetent, besteht die Gefahr, dass dieses Staatenmodell den momentanen Evolutions- bzw. Selektionsschritt überhaupt nicht übersteht.
Vertrauliche Informationen an den Autor unter coronavertraulich@protonmail.com. Meinungen sind im Forum besser aufgehoben.
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.
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