Coronavirus: Versagen in Deutschland, Anleitung zum Selbstschutz

Bild: CDC

Die Politiker haben die Gefahr immer noch nicht verstanden und zögern unverantwortlich. Aber gleichzeitig sind die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen und der Gesellschaft auch so groß wie nie

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Update: Der Bundeskanzlerin scheint gestern Abend klarer geworden zu sein, was exponentielle Dynamik bedeutet, und sie fordert die Menschen auf, "Sozialkontakte so weit wie möglich einzuschränken" (Angela Merkel fordert "Verzicht auf Sozialkontakte"). Spät, aber immerhin.

Vertrauliche Mail an den Autor: coronavertraulich@protonmail.com.

Eigentlich sollte dieser Beitrag nur ein Nachtrag zu den letzten Artikeln sein. Als Reaktion darauf habe ich jedoch so alarmierende E-Mails von Ärzten bekommen, dass nun neue Handlungsempfehlungen für die Bevölkerung notwendig sind. Allerdings muss ich mich auf das Wichtigste beschränken. Bezüglich der Infektionszahlen, die explodieren, verweise ich auf meine Artikel, deren Aussagen man jeden Tag neu überprüfen kann. Veranschaulichungen dafür hier und hier, weitere gute Argumente für sofortiges Social Distancing hier, die Forderung des Berliner Amtsarztes Patrick Larscheid, das öffentliche Leben sofort einzustellen, hier, ebenso ein Artikel mit 7 Millionen aufrufen.

Ärzte in Panik

Die Mediziner erkennen nun den Ernst der Situation. In einer E-Mail an 13.000 Hausärzte schreibt Prof. M. Kochen:

Ich habe gestern lange mit einem guten Freund in Mailand telefoniert, der als Hausarzt und Notfallmediziner bis vor zwei Jahren die größte italienische Notfallambulanz im Mailänder Ospedale Niguarda geleitet hat. Er berichtete, dass jedes einzelne Krankenhaus in Mailand täglich zwischen 20 und 40 Patienten mit schweren Viruspneumonien erreichen. 30% davon würden in kurzer Zeit intensivpflichtig. Ein leitender italienischer Anästhesist berichtete auf YouTube, dass rund 12% aller bisher aufgetretenen Krankheitsfälle (also inklusive der Zahl leichterer Ausprägungen) beatmet werden müssten.

M. Kochen

Der wichtigste sachliche Punkt, der nochmals hervorgehoben werden muss, ist das verzögerte Einsetzen der Komplikationen während einer Phase des starken Anstiegs der Infektionen. Das bedeutet, dass man die Zahl der kritischen Patienten nicht mit der Zahl der Infizierten in Beziehung setzen darf, weil diese Atemnot erst nach einigen Tagen entwickeln - eigentlich schon lange bekannt:

Das heißt, man muss die Zahl der Intensivpatienten (1153 in Italien) mit den Hospitalisierungen (ricoverati) 3-4 Tage vorher (ca. 4000) in Bezug setzen - das ergibt 26 bis 32 Prozent!

Zeit durch Geschwafel verloren

Es ist offensichtlich, dass Deutschland nur kurze Zeit - ein bis zwei Wochen - von der Situation in Italien entfernt ist, wenn nichts geschieht. Offenbar wurden die Entscheidungsträger teilweise von inkompetenten Experten beraten, wie zum Beispiel dem unsäglich arroganten Vorsitzenden der kassenärztlichen Bundesvereinigung oder dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, der - so äußerte sich ein praktizierender Arzt mit gehobener Funktion im Gesundheitswesen in einem Telefonat - "noch nichts verstanden hat". Hört irgendjemand eigentlich auf die WHO? Hier ist, was sie sagt:

Wir können es nicht laut genug, nicht deutlich genug und nicht oft genug sagen: Alle Länder können den Verlauf dieser Pandemie noch ändern. (…) Selbst Länder mit einer Übertragung in der Gemeinschaft oder mit großen Clustern können das Blatt für dieses Virus wenden. (…) Einige Länder haben mit einem Mangel an Kapazitäten zu kämpfen, einige Länder mit einem Mangel an Ressourcen. Und einige mit mangelnder Entschlossenheit.

WHO, s.a. Pressekonferenz

Eine besonders unglückliche Rolle spielt der Star-Virologe Christian Drosten von der Charité. Er mag in seinem Fach genial sein, wäre in normalen Zeiten vielleicht ein Anwärter für den Nobelpreis und ist sicher auch persönlich ein integrer Mann. Drosten sieht eine "Naturkatastrophe in Zeitlupe", aber merkt nicht, dass sie im Zeitraffer endet. Er hat die verantwortungslose Idee erst in die Welt gesetzt, man könne 70 Prozent der Bevölkerung sich infizieren lassen, wenn das nur genügend langsam gehe.

Im Moment kämpft er redlich gegen die Folgen der Sorglosigkeit und benennt auch einige alarmierende Fakten richtig. Aber es unterlaufen ihm wieder verheerende Fehler wie etwa die Aussage, Jugendliche seien ja nur 15 Prozent der Bevölkerung, man müsse die Schulen nicht schließen. Gerade über diesen Infektionsweg quer durch die Gesellschaft verbreitet sich das Virus in alle Familien (update: heute hat er es bemerkt). Vor allem darf sich Drosten nicht länger als Beruhigungspille missbrauchen lassen. Wenn er nicht aufhört, im Ton eines Schoßhundes der Politiker deren unzureichende Maßnahmen zu loben, wird er als tragische Figur einer der Verantwortlichen der Katastrophe sein.

Testdefizite

Noch vorgestern verkündete Drosten im NDR-Podcast, Deutschland sei wegen seiner guten Testmöglichkeiten weit vor Italien. Auch das ist wohl eine fatale Fehleinschätzung. Allein durch die langsamen Tests hat Deutschland eine Dunkelziffer, aber vor allem aber durch die restriktiven Kriterien des Robert-Koch-Instituts, durch welche Verdachtsfälle um einen Test förmlich kämpfen müssen (ich danke für den Hinweis einer Zeit-Autorin). Ein Assistenzarzt aus einer Praxis in NRW schreibt mir dazu:

Eine reine "Kann"-Regelung ist einfach Murks. Es bräuchte einfach eine klare Ansage vom RKI, dass z.B. in Deutschland jeder Grippepatient (oder sogar: Jeder Erkältungspatient!) auf Grippe und Corona zu testen ist.

In den asiatischen Ländern kann sich jeder testen lassen, das muss auch hier möglich werden, sonst hat man keine Chance. Und wenn wir es selbst nicht schaffen, müssen wir eben bei dem bösen autoritären China um Hilfe bitten. Nur: das wird immer schwieriger, je länger man geschlafen hat.

Besonders alarmierend ist eine Studie, nach der in den Niederlanden bereits vier Prozent des Krankenhauspersonals infiziert sind - unerkannte potentielle Superspreader, deren Prozentsatz seit der Datenaufnahme (6.-9.3.) natürlich angewachsen ist. Es ist daher völlig unklar, ob nicht schon ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung in Europa infiziert ist.

Ziviler Ungehorsam

Es bringt auch nichts, jetzt über wirtschaftliche Folgen zu diskutieren, die umso größer sein werden, je länger man darüber diskutiert. Und es ist jetzt nicht mehr die Zeit, in deutscher Gründlichkeit die Haftungsrisiken für das Budget von Gesundheitsämtern zu erörtern. Die Rechtsaufsichtsbehörden, Regierungen usw. müssen anordnen: Schließungen von Universitäten, Schulen, Kindergärten (Beaufsichtigung im Freien organisieren), öffentliche Einrichtungen bzw. Notbetrieb nur bei ausreichendem Infektionsschutz, Absagen von Sportveranstaltungen, Events, Konzerten.

Die Entscheidungsträger müssen sofort alles tun, Ansteckungen im öffentlichen Leben zu unterbinden und angemessen zu warnen. Für alle, die dies nicht tun, geht es jetzt nicht um Geld, sondern um Strafbarkeit. Mir liegen jetzt schon E-Mails vor, die für eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung reichen werden, sobald es zu vermeidbaren Todesfällen kommt. Noch ist es nicht zu spät. Aber das Strafmaß wird davon abhängen, ob es sich um einzelne oder Tausende handelt.

Daher auch hier eine Aufforderung an alle, die Verantwortung tragen und Funktionen ausüben: informieren Sie die die höchste Person in der Hierarchie, die Sie persönlich kennen, fordern Sie sie zum Handeln auf und dokumentieren Sie dies. Die Entscheidungsträger, also Bundeskanzler, Innen- und Gesundheitsminister, Ministerpräsidenten und Landesminister, Bürgermeister, Behördenleiter brauchen Druck aus ihren Institutionen. Deutschland braucht einen zivilen Ungehorsam gegen Verantwortungslosigkeit. Die analoge Anwendung von §34 StGB, §904 BGB, §228 BGB schützt vor juristischen Konsequenzen, wenn die Handlung (oder Verweigerung) aufgrund des Schutzes des höheren Rechtsguts - hier Leben und Gesundheit - verhältnismäßig ist.

Selbstschutz

Verweigern Sie daher eine Arbeitsumgebung, in der kein ausreichender Schutz vor Infektion gegeben ist. Bleiben Sie jedoch dem Arbeitgeber gegenüber flexibel und versuchen Sie, Ihre Pflichten so gut wie möglich zu erfüllen. Gehen Sie keinesfalls mit Symptomen zur Arbeit.

Auch das Tragen einer einfachen Maske hat sich während der SARS-Epidemie als wirksam erwiesen, wenn es auch keine Sicherheit gibt. Fahren Sie nicht im öffentlichen Personennahverkehr ohne Schutz. Das Virus kann sich auf 4-5 Meter Distanz übertragen. Halten Sie diesen Abstand bei allen Treffen mit Personen außerhalb der Familie ein und insbesondere gegenüber Älteren.

Waschen Sie die Hände gründlich und halten Sie die Husten-Nies-Etikette ein. Achten Sie darauf, dass sich das Virus auf Oberflächen verbreitet. Berühren Sie keine Türgriffe, Druckknöpfe, Haltestangen, Einkaufswagen, Touchscreens, Tastaturen, PIN-pads direkt. Desinfizieren Sie Oberflächen von Gegenständen, die Sie nach Hause gebracht haben, sowie solche mit häufigem Handkontakt wie Schlüssel und Handy.

Kein Händeschütteln, Umarmungen, Küsse mit Bekannten, auch wenn es schwerfällt - offen ansprechen hilft. Jeder soziale Kontakt muss auch so nahestehen, dass er eine eventuelle Erkrankung mitteilt!

Bei Verdacht: Jeder muss sich testen lassen können, durchführbar am besten mit selbst durchgeführtem Abstrich. Ein Mediziner sagte mir, 2 cm tief in jedem Nasenloch herumrühren sei am besten, weil leichter durchzuführen als ein Selbst-Rachenabstrich. Bei Infektion wie folgt verfahren, allgemeine Empfehlungen.

Das allerwichtigste ist vielleicht: die psychologische Barriere zu überwinden und die Komfortzone zu verlassen. Aber leider sind manche Forschungen über die Auswirkungen des Virus ebenfalls alarmierend (scrollen zu Autopsie). Niemand kennt derzeit die langfristigen Folgen, daher muss sich jeder so gut wie möglich selbst schützen. Sie tragen dazu bei, indem Sie diesen Artikel verbreiten. Gute Gesundheit!

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.