Coronavirus: Warum jetzt Maskenpflicht und Ausgangssperre notwendig sind
Der zögerliche Sonderweg Deutschlands könnte schlimmere Folgen haben als in Italien
Zunächst noch einmal eine Wiederholung für faktenresistente Zeitgenossen: Hier der Bericht über ein Krankenhaus in Bergamo: Intensivstation besetzt, die Leichenhalle füllt sich. Das "Wuhan Italiens" hatte in der vergangenen Woche 400 Todesfälle zu beklagen - fast 15 Mal so viel wie rechnerisch in einer 120.000 Einwohner-Stadt zu erwarten wäre. Weitere Schilderungen der dramatischen Situation aus erster Hand am Ende dieses Artikels. Italien hat daher 10.000 Medizinstudenten eine vorläufige Approbation erteilt. Offenbar steht das System vor dem Zusammenbruch.
Politik: Bitte endlich rechnen!
Leider sind die Zahlen unerbittlich. Deutschland hat am 17.03. bereits mehr Fälle (9367) als Italien am 09.03. (9172).Wie bereits am 7.03., 11.03. und 15.03. berechnet, ist der Abstand zu Italien knapp 8 Tage, bezogen auf die Bevölkerung nur einen Tag mehr.
Höchst alarmierend ist, dass in Italien in diesem Zeitraum die Infiziertenzahl täglich nur um 16,7 Prozent gewachsen ist (8. Wurzel aus 31506/9172 = 1,167), während die Infiziertenzahl in Deutschland in vergangenen vier Tagen um durchschnittlich 26,3 Prozent wuchs. (4. Wurzel aus 9367/3675 = 1,2635). Offenbar greifen die drastischen Maßnahmen wie Lockdown und Ausgangssperre in Italien bereits, während Deutschland weiterhin wichtige Zeit verschläft. Beim derzeitigen "Tempo" der Eindämmung (Faktor 1,263) werden wir Deutschland jedoch in 8 Tagen über 60.000 Infizierte haben, fast doppelt so viele wie Italien! Damit ist der Vorsprung unseres "besseren Gesundheitssystems" dann bald aufgebraucht.
Noch eine beunruhigende Rechnung: Italien scheint es zu gelingen, den Zuwachs der Neuinfektionen bei etwa 3500 täglich stagnieren zu lassen. Wenn davon 10 Prozent, also 350 pro Tag, intensivpflichtig werden und jeder Patient 20 Tage dort bleibt, benötigt man allein 7000 Betten. In Deutschland steigt dagegen die Zahl der täglichen Neuinfektionen nach wie vor rasant.
Die Krankenhäuser stehen ebenfalls schon vor der Überlastung. Sogar das Das Robert-Koch-Institut, bisher auf maximalem Beschwichtigungskurs, räumte in der Pressekonferenz am 17.3. "alarmierende Signale von Kliniken" ein, um kurz darauf die Verdopplung der Intensivkapazitäten zu "fordern". So einfach ist das. Noch immer hat das RKI mit seiner "Eindämmungsstrategie" nicht verstanden, dass es selbst den wirksamsten Beitrag leisten könnte: nämlich durch klare Warnungen und durch Fordern von drastischen Maßnahmen.
Unethische Coolness
In der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen (und von der Politik nicht verstanden) ist der große Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Risiko. Das individuelle Risiko durch die Krankheit ist mäßig hoch, vor allem, wenn man sich darauf verlassen kann, von einer funktionierenden medizinischen Infrastruktur behandelt zu werden. Sich darauf zu verlassen - und ein Großteil der Bevölkerung praktiziert bis jetzt diese Verantwortungslosigkeit - führt aber unweigerlich zu einem kollektiven Risiko des Systemzusammenbruchs, der dann alle trifft. Deswegen ist es höchst asozial, wahrscheinlich sogar Körperverletzung, ein Ansteckungsrisiko einzugehen und damit in Kauf zu nehmen, andere zu infizieren.
Wenn sich die Masse unsozial verhält, nützt auch individuelle Vernunft nur bedingt. Es ist ja nicht so, dass Coronaparty-Feiernde auf eine Insel gehen, um dort ihre ärztliche Versorgung selbst zu organisieren. Es macht leider keinen Unterschied in den klinischen Symptomen, ob man sich die Infektion durch eigene Dummheit oder durch Rücksichtslosigkeit eines Zeitgenossen geholt hat. Und die ewigen Verharmloser werden sich auch nicht freiwillig hinten anstellen, wenn die letzten Beatmungsplätze zu vergeben sind. Wenn staatliches Regeln sinnvoll sind, dann in so einer Situation.
Null Toleranz für das Virus
Eine Ausgangssperre ist schon deswegen sinnvoll, um überhaupt jedem die Ernsthaftigkeit der Bedrohung klarzumachen und unverantwortliche Menschansammlungen zu unterbinden. Sobald die Neuinfektionen stagnieren, spricht natürlich nichts dagegen, Spaziergänge im Freien bei ausreichendem Abstand wieder zuzulassen.
Die einzig sinnvolle Strategie besteht darin, Neuübertragungen vollständig zu verhindern. Das gilt natürlich auch für das Arbeitsleben - jede Arbeit ohne ausreichenden Schutz muss untersagt werden (und kann und darf verweigert werden). Ebenso muss der öffentliche Nahverkehr ohne Schutz als Infektionsquelle ausscheiden.
Damit sind wir bei der absurdesten Ausprägung des deutschen Sonderweges, der Abwesenheit von Atemschutzmasken. Ein Arzt berichtet mir von einer Studie bei der Betreuung von SARS-Patienten, bei der sich sogar ein ganz einfacher Mundschutz eine deutliche Wirkung hatte (s. Abb.)
Es ist aberwitzig, dass in Pressekonferenzen nun erläutert wird, warum ein Personenabstand notwendig ist, jedoch die mitschreibenden Journalisten dort dicht gedrängt ohne Schutzmaske sitzen. Selbstverständlich muss auch der Infektionsweg über die Hände und Gegenstände unterbunden werden - nichts anfassen, was von anderen berührt wurde. Und natürlich braucht man weitere Forschung. Unterschätzt ist wahrscheinlich der Infektionsweg über die Schuhe. Jedenfalls müsste der Staat jetzt entschieden einschreiten, um zu retten, was zur retten ist. Zögern führt nur zu weiteren Schäden, auch wirtschaftlichen.
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.
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