Covid-19 und Flüchtlinge: Die Abwärtsspirale
Norwegische Flüchtlingshilfe berichtet von verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise
Deutschland ist, wie es aussieht, im Verhältnis zu anderen Ländern bislang relativ glimpflich durch die Coronakrise gekommen, sowohl die Zahl der an Covid-19-Erkrankten wie die der an oder mit der Erkrankung Verstorbenen halten sich im internationalen Vergleich in Grenzen.
Von wirtschaftlicher Seite gibt es hier und da auch Signale einer "spürbaren Erholung". Das Zwischenfazit lautet, dass die Schrumpfung der hiesigen Wirtschaft bislang nicht so schlimm gekommen ist wie befürchtet.
Auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlev Scheele, konstatierte am Wochenende im Interview mit dem Deutschlandfunk dass, "der Arbeitsmarkt gut durch die Krise gekommen" sei: Vom Juni zum Juli und vom Juli auf den August habe es keine "nennenswerten Corona-bedingten Anstiege" mehr gegeben.
Dennoch warnte Scheele, dass Deutschland trotz der stabilen Lage am Arbeitsmarkt nach wie vor weit von der Normalität entfernt sei und führte dazu die Zahl von 636.000 mehr Arbeitslosen im Vergleich zum Vorjahr an, was er so kommentierte: "Das ist ja schon ein ordentlicher Schluck aus der Pulle, mit dem wir gar nicht gerechnet hatten."
Das sind vorläufige Einschätzungen, die von Überraschungsmomenten berichten. So warnen auch manche vor einer "Wohlstandsillusion" . Unsicher wird auf die Insolvenzen geschaut, die über ein Moratorium wegen der Corona-Krise aufgeschoben wurden. Das Bild könnte nach Ablauf des Stopps Ende September anders aussehen. Böse Überraschungen sind nicht ausgeschlossen: Ob da der nächste "ordentliche Schluck aus der Pulle" ansteht?
180 Millionen Menschen könnten in Armut landen
Indessen zeigt sich im größeren Bild, dass sich die viel beschriebene Kluft zwischen den Reichen und den Ärmeren durch die Corona-Krise beträchtlich weiter geöffnet hat. Den Berichten über die Vermögensvermehrung unter den Schwerreichen ("In den letzten sechs Monaten stieg das Nettovermögen der reichsten 643 Amerikaner um 845 Milliarden Dollar") stehen finstere Aussichten für die Armen gegenüber.
Der UN-Sondergesandte für extreme Armut warnte kürzlich, dass 180 Millionen weitere Menschen aufgrund der Corona-Maßnahmen in der Armut landen werden. Während die reichen Staaten mit Milliarden und Billionen ihre Wirtschaft - und manche der Branchen - zu retten versuchen, wird sich in den meist sowieso bereits überschuldeten armen Ländern die Armut rasant verbreiten, wurde letzte Wochen an dieser Stelle berichtet (Covid-19: Die schlimmsten Folgen kommen noch).
Vertriebene und Flüchtlinge: Kein Geld und keine Schule
Die NGO Norwegische Flüchtlingshilfe (englisch: Norwegian Refugee Council, NCR) hat sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise auf Vertriebene und Flüchtlinge näher angeschaut. Ihr Bericht sagt vieles schon im kurzen Titel: "Abwärtsspirale". Die Wegmarken schauen so aus:
77 Prozent der Befragten haben seit Beginn der Pandemie Einkommensverluste.
71 Prozent sprechen von Schwierigkeiten, die Miete oder andere elementare Wohnungskosten bezahlen zu können. Viele gaben an, dass sie im März ihrer vorhergehende Unterkunft verlassen mussten.73 Prozent gaben an, dass sie ihre Kinder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage "weniger wahrscheinlich" zur Schule schicken.
70 Prozent gaben an, dass sie die Zahl der Mahlzeiten beschränkt haben.
Norwegische Flüchtlingshilfe, Zusammenfassung und Bericht "Abwärtsspirale"
62 Prozent erhalten nach ihren Auskünften weniger finanzielle Hilfen von ihren Familien, die woanders leben. 68 Prozent gaben an, dass sie wahrscheinlich woanders hinziehen, weil sie keine Arbeit finden und kein Einkommen haben.
Zu den aufgezählten Schwierigkeiten kommen noch Mängel in der medizinischen Versorgung und Verschuldung hinzu, da sich manche nur mit Krediten über Wasser halten können. Letzteres soll auf etwa 30 Prozent der Befragten zutreffen.
Dass die Binnenflüchtlinge wie auch diejenigen, die in andere Länder geflüchtet sind, meist nur einen beschränkten Zugang zu sozialen Sicherungsmaßnahmen haben, gehört auch zur Situation. Der Bericht der Norwegischen Flüchtlingshilfe spricht von "kombinierten Domino-Effekten" auf diese Gemeinschaften. Die Befragten halten sich allesamt in Krisenländern auf, dort hat die Corona-Krise, insbesondere die wirtschaftlichen Folgen, der Misere noch weitere Fallböden hinzugefügt.
Im Libanon hat die Covid-19-Krise die Wirtschaft, die ohnehin schon durch die Finanzkrise und die politischen Unruhen in seriösen Schwierigkeiten steckt, weiter verschlechtert. Dazu kam dann im August die Explosion im Hafen von Beirut Ungefähr 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge und fast 80 Prozent der Palästinenser, die schon vor der Pandemie zu den Ärmsten und Verwundbarsten im Libanon gehörten, haben nun Möglichkeiten zum Einkommenserwerb verloren oder Einbußen im Vergleich zum Vorjahr erlitten.
NRC, "Abwärtsspirale. Der wirtschaftliche Effekt von Covid-19 auf Flüchtlinge und Vertriebene."
Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, dafür aber akut. Ende August wurden 1.431 Flüchtlinge, Binnenflüchtlinge - oder vertriebene in acht Ländern über Telefon befragt: in Afghanistan, Kolumbien, dem Irak, Kenia, Libyen, Mali, Uganda und Venezuela. Ergänzt wurde dies nach Angaben der NGO mit Recherchen in Somalia, der Demokratischen Republik Kongo, dem Libanon, Jordanien, Burkina Faso und dem Jemen.
Bis zum jetzigen Zeitpunkt hätte die UN nur 23 Prozent der nötigen Hilfsmittel über ihre humanitären Appelle einsammeln können. Die bisherigen Zusagen hätten sich vor allem auf gesundheitliche Maßnahmen bezogen. Die wirtschaftlichen Probleme wurden demgegenüber hintangestellt. Selbst wenn die Forderungen nach humanitären Mittel völlig erfüllt würden, würde das nicht ausreichen, um den Nöten zu begegnen, die jetzt aufkommen, so das NRC.