Crysis: Postkarte von der Front
Ein Spiel, das in seinem Genre alles richtig macht: Crysis beweist, dass die Methode "Alles Aalglatt" nicht nur in Hollywood zieht
„Grafik-Prolls“ nennt man Spieler, die vor allem deshalb virtuelle Welten im Computer besuchen, um sich an deren aufwändiger Computergrafik zu ergötzen. Möglicherweise ist das reiner Sozialneid auf Mitmenschen, die sich neuste Hardware leisten können – denn die braucht man für Crysis. Mit ihr kriegt der Grafik-Proll dann aber auch alles, was er sich wünscht: Die Sonne bricht ihr Licht in Palmwedeln und hinterlässt im Dunst der Luft schattige Bahnen. Alles, was sich schnell bewegt, wirkt verschwommen - zum Beispiel die Trümmer der Explosionen. Weiter entferntes ist deutlich unschärfer als Nahes, vor allem, wenn man über Kimme und Korn zielt. Eine Augenweide.
2020 oder so stürzt ein Asteroid auf die Erde – auf eine Inselkette, die zu Nordkorea gehört. Natürlich stecken Außerirdische dahinter. Natürlich wollen die bösen Koreaner ganz alleine deren Technologie abgreifen. Natürlich wollen die guten US-Amerikaner das nicht zulassen, zumal die Asiaten natürlich nicht checken, wie gefährlich das alles ist. Ihr Auftrag, sollten Sie ihn annehmen, ist es, erst mal die Koreaner platt zu machen und dann die Außerirdischen, um, vereinfacht gesagt, die Welt zu retten. Soweit die Story, eine Nummer kleiner haben wir das nicht mehr. Doch soviel darf ohne Spoiler verraten werden: vielfältig, spannend und actionreich sind die Herausforderungen trotzdem. Crysis ist der derzeit beste Shooter auf dem Markt, basta. Windows Vista brauchen Sie dafür übrigens nicht, denn erstens läufts damit bloß langsamer als auf XP, zweitens nur unerheblich schöner. Und um gutes Aussehen dreht sich auf der hübschen Tropeninsel alles. Das Terrain ist so herrlich idyllisch, dass man sofort darauf Urlaub machen möchte. Ein wenig schwimmen, am Strand herumfläzen … nie waren Sonnenuntergänge schöner, nie zogen Vögel malerischer über den Himmel. Ein paar Wasserschildkröten nehmen links ein Bad, rechts wiegen sich Palmen im Wind, selbstverständlich tun sie das sanft. Bienen summen, Schmetterlinge flattern durch die Idylle, da hinten laufen ein paar gackernde Hühner durch den Garten... Man könnte es Aushalten in der virtuellen Welt von Crysis, wären da nicht die erwähnten außerirdische Störenfriede am Werk.
Das war schon bei Far Cry so, dem 2004er-Debut des Crysis-Herstellers Crytek: Dessen wahre Innovation lag nicht darin, dass die Gegner sich schlauer verhielten als in anderen Shootern, ordentlich Deckung suchten und so weiter. Nein, wirklich sensationell war die Location: ein tropisches Inselparadies mit Sandstrand, Palmen und allem, was dazugehört. Stundenlang hätte man damals wie heute durch den Dschungel spazieren, am Strand entlang laufen und mit dem Motorboot an der Küste entlang tuckern können. Aber es gibt ja stets diese stressigen Missionen, in denen man irgendwelche Schurken, Mutanten oder Aliens beseitigen muss. Bei der Killerspieldebatte wird das immer wieder vergessen: Niemand fightet sich durch solche Games, um Aggressionen ab- oder gar aufzubauen oder den Amoklauf vorzubereiten. Sondern weil ein Blick aus dem Fenster gerade in einem November wie diesem Lust macht auf einen Urlaub, und virtuell ist der eben am billigsten zu haben.
Ein Platz an der Sonne
Crysis ist eine Welt gewordene Kitsch-Postkarte zum Hineinflüchten. Es wird geballert, dass es eine Freude ist. Nie sahen Landschaft und Gegner besser aus, nie klangen Gefechte druckvoller. Die Explosionen (Jeeps, Panzer, dank Luftangriff auch größeres) sind von erhabener Schönheit. Die Sonnenauf - und -untergänge haben Millionen von Farben und sind dank Post-Processing noch etwas bunter als in Wirklichkeit. Der Himmel ist so blau, dass man dem 3D-Utopia unterstellen darf, dass in ihm keine Billig-Airlines die Reste unserer fossilen Brennstoffe verfliegen. Und solch saubere Strände wie in Crysis gibt die müde Realität längst nicht mehr her - jedenfalls nicht für gut 55 Euro. Keine Coca-Cola-Büchse liegt im Gebüsch. Kein McDonalds weit und breit. Wer da von übertriebenem Spielrealismus spricht, sollte sich mal den Strand vor Nizza ansehen.
Gerühmt wurde in der Vorberichterstattung die KI. Es wäre vielleicht angebracht, hier einen neuen Begriff einzuführen. Denn „Künstliche Intelligenz“ scheint etwas hoch gegriffen angesichts der Tatsache, dass wohl jeder Spieler am Ende siegreich aus diesem Geknatter hervorgehen wird. „Künstliche Militärische Intelligenz“ (KMI) wäre wohl der bessere Begriff, denn das nennt die arg spezialisierte Weisheit der Gegner beim Namen: Verstecken, wenn der Spieler sein Magazin leert; aus dem Weg hopsen, wenn die Granate fliegt; sich davon abgesehen aber brav abmetzeln lassen - Intelligenz sieht anders aus. Das kann man bei einigen Gebäudekämpfen schön beobachten: Es reicht, sich als Spieler am oberen Ende der Treppe zu verschanzen. Die Feinde kommen einer nach dem anderen die Treppe raufgelatscht, wundern sich nie, dass schon zehn Pixel-Leichen herumliegen, gehen unverdrossen weiter – und enden wie ihre Kollegen. Echte KI, das wären doch wohl weiße Fahnen, Deserteure, Kriegsdienstverweigerer. KMI aber sorgt für Disziplin. Auch die Aliens sind leider nur gesichtsloses Kanonenfutter.
Perfekter Einheitsbrei
Man muss sich schon etwas einfallen lassen, um sich aus dem Shooter-Einerlei abzuheben. "Half Life 2" brachte die Schwerkraftwaffe ins Spiel, mit der man nahezu alles durch die Luft heben kann. "Prey" versuchte es mit einem Indianer, der seinen Geist durch Sperren schicken kann und sich im Übrigen in einer Welt ohne eindeutiges oben und unten zurechtfinden muss. "Portal" bezieht seinen Reiz daraus, dass die Wumme eine Art 4D-Wurmlöcher in die 3D-Welt brennt. Die Besonderheit von Crysis ist dagegen vergleichsweise schlapp: Ein Super-Kampfanzug, der via Nanotechnik diverse Superkräfte verleiht, aha. Dank Superstärke kann man also höher hüpfen und dicke Knarren mit vermindertem Rückschlag nutzen. Supergeschwindigkeit dopt das Lauftempo auf Tour-de-France-Niveau. Die Superpanzerung lässt Kugeln abprallen (Zivilisten dürfen so was sicherlich nicht kaufen, sie können ja damit an einer Demo teilnehmen). Und die Supertarnkappe im „Predator“-Look macht unsichtbar, ideal für alle, die Crysis nicht als tumbes Ballerspiel, sondern als Schleich-Shooter zocken wollen – das geht nämlich auch.
Alle Waffen lassen sich modifizieren, es gibt Aufsätze vom Schalldämpfer bis zum Betäubungspfeil, dazu verschiedene Visiere. Bei alledem kämpft man sich nicht durch enge Korridore des Erlaubten, sondern hat reichlich Freiheit. Einige Areale sind so atemberaubend groß, dass man es fast bedauert, seine Mission schon abgeschlossen zu haben. Kein Problem, einfach ne Runde spazieren gehen, es ist doch so schön hier... Doch am Ende des Tages fehlt trotzdem etwas. Gemeint ist nicht die eingebaute VirtualDigiCam, mit der man die explodierenden Idyllen knipsen und automatisch bei Flickr hochladen könnte. Gemeint ist zum Beispiel die Story-Tiefe von "Half Life". Das nasse Hawaii-Hemd aus „Far Cry“. Der Irrsinn von "Bioshock". Etwas dreckiger Humor a la "Duke Nukem". Auch ein bisschen Schmuddelwetter aus "S.T.A.L.K.E.R." hätte nicht geschadet. Crysis ist ein wenig zu glatt, zu perfekt geworden. Eben ein Action-Schnuller mit Massengeschmack, der jeden Grafik-Proll glücklich machen wird.
Probieren kostet nichts
Für fleißigen Fandom sorgt gewiss auch der mitgelieferte Sandbox-2-Editor, mit dem Jeder eigene Mehrspieler- und Einzelspieler-Maps erzeugen kann. Schon jetzt gibt’s auf dem offiziellen Modding-Portal höchst interessante Karten, dank der man seine Zeit mit der kostenlosen Demo noch ein wenig strecken kann. Die Demo sollte übrigens niemand ernst nehmen: Ja, sie zeigt, wie schön der Dschungel ist. Aber die vielfältigen Möglichkeiten, die Sie als Spieler haben, um in Crysis eine Mission zu beenden – die zeigen sich erst in der Vollversion.