Tür ins Nirgendwo
Mit der "Orange Box" liefert Valve "Half-Life 2" als Komplettsammlung ab: Neben der Fortsetzung der Half-Life-Episodenserie und dem Multiplayer-Shooter "Team Fortress" überzeugt vor allem "Portal" als eines der faszinierendsten und originellsten Spielkonzepte des gesamten Genres.
Dass Egoshooter eine neue Form des interaktiven Erzählens darstellen können, zeigt sich leider nur allzu selten. Nur wenige Titel nutzen die einzigartigen Chancen, das "Erleben" einer Handlung durch die Augen eines Protagonisten ansprechend zu gestalten, und oft - wie leider auch im atmosphärischen "Bioshock" (Architecture and Morality) - ist die Story nur nebenbei erzählte Dekoration, die optionale Hintergrundinformationen für Rätsel à la "Bring A nach B" bietet. Der Genre-Primus "Half-Life 2" beweist in seiner neuesten Inkarnation, dass Hersteller Valve sich nicht auf den Lorbeeren ausruht, sondern kontinuierlich an der Aufgabe arbeitet, eine neue Form des Erzählens für das eigenständige Medium voranzubringen. Die "Orange Box" versammelt zum regulären Preis eines einzelnen Spiels "Half-Life 2", "Episode 1 & 2", "Team Fortress" sowie "Portal".
War vor über eineinhalb Jahren, beim Erscheinen von "Episode 1", noch Skepsis angesagt, ob das Serienformat für Computerspiele ein sinnvolles Vertriebsmodell darstellen kann, räumt Valve mit den beiden Neuzugängen in der "Orange Box" nun alle Zweifel aus dem Weg. Die ungewöhnliche Entwicklungsmethode erlaubt die kontinuierliche Aufwertung und Ausreizung der technischen und spielerischen Elemente der soliden Basis, die in "Half-Life 2" gelegt wurde, der Entwickler kann experimentieren und Spielerfeedback direkter und schneller einfließen lassen.
Durch die Hinzunahme des Multiplayer-Shooters "Team Fortress" im schrägen, kinderzimmertauglichen Comic-Look sollten Online-Teamspieler monatelang versorgt sein, doch vor allem für Einzelspieler lohnt sich der Kauf. Obwohl "Episode 2" als auch "Portal" auch Gelegenheitsspieler wohl kaum länger als ein Wochenende beschäftigen werden, werden in den insgesamt zehn Stunden Spielzeit beider Titel alle Register gezogen - sowohl "Episode 2" als auch "Portal" stellen kleine, aber willkommene Meilensteine in der Kunst des digitalen Erzählens dar.
"Episode 2" schließt nahtlos an die Handlung des Vorgängers an. Wieder ist die vom Computer gesteuerte resolute Alyx die wichtige Begleitung des Spielers, und wieder demonstriert Valve, dass gut geschriebene Dialoge, sympathische Charakterzeichnung und intelligentes Scripting den Spieler auch emotional packen und mehr zur Atmosphäre und zur Immersion beitragen als Fotorealismus und spektakuläre Zwischensequenzen. Dabei bleibt "Episode 2" zwar linear, überrascht den Spieler aber fast ohne Unterbrechung mit gescripteten Wendungen, witzigen Details und abwechslungsreichen Aufgaben, die sich wohltuend vom eintönigen Hindernisparcours plus Schießen der meisten anderen Titel abheben.
Genrefreunde werden dennoch ihre Freude an den herausfordernden Gefechten haben, doch eigentlich erweist sich "Half-Life" immer deutlicher als abwechslungsreiches Action-Adventure, in dem weniger die hervorragende Spielmechanik als vielmehr das Erzählen und Erleben einer Handlung im Vordergrund stehen. Obwohl spielerische Innovationen in "Episode 2" Mangelware sind und "nur" das gewohnt hohe Niveau der Reihe mühelos gehalten wird, liefert Valve bei zugleich erweiterter Grafikengine und neuen Physikeffekten dennoch mit Eleganz erinnerungswürdige Momente am laufenden Band und führt den Spieler in atemloser Hetzjagd nach einer spektakulären und herausfordernden Massenschlacht am Ende bis zum spannenden Cliffhanger - ein auf Hochglanz poliertes, spannendes Stück digitales Actionkino, das andere Entwickler mühelos zu mehreren "vollwertigen" Durchschnittsspielen verdünnt hätten. Wie bei "Episode 1" liefert zudem der optional zuschaltbare Entwicklerkommentar (im Stil der Kommentarspuren auf DVDs) interessante Einblicke in die Entwicklung und vor allem in die Liebe zum Detail und zum Genre, die man dem Titel eindeutig anmerkt.
Ist "Episode 2" selbst schon mehr als gelungen, überrascht ein eigenständiges, simpel daherkommendes "Bonus"-Spiel noch nachhaltiger: "Portal", entwickelt von den Programmierern des Indie-Freeware-Spiels "Narbacular Drop", von dem auch die zentrale Idee übernommen wurde. Dreh- und Angelpunkt der Spielmechanik ist die "Portal Gun", mittels derer Teleport-Portale platziert werden können - ein Linksklick öffnet in einer Wand einen Eingang, ein Rechtsklick lässt etwa an der Decke ein zweites Portal entstehen - durchschreitet man das eine, kommt man an der anderen Stelle zum Vorschein. Diese an sich simple Idee, in "Prey" letztes Jahr schon einmal in kleinerem Rahmen verwendet, bietet in Verbindung mit dem ausgeklügelten Leveldesign so manche, teils haarige Rätselaufgaben. Dabei bleibt die "Portal Gun" das einzige Werkzeug des Spielers, der sich, anfangs ohne jede erklärende Hintergrundgeschichte, als Laborratte in immer neuen Versuchsanordnungen findet.
Einziger Begleiter und Leiter des Experiments ist die allgegenwärtige weibliche Computerstimme der künstlichen Intelligenz GladOS, die sich aber, im Verlauf der 19 immer schwieriger werdenden Testräume, als eigenständige und letztendlich mörderische Persönlichkeit mit bizarrem Charakter herausstellt - ein simpler, aber äußerst effektiver erzählerischer Kniff, der ganz ohne offensichtlich präsentierte Story ein erstaunliches Ausmaß an Motivation und Hintergrund liefert. Was sich zu Beginn als stylisches Denkspiel präsentiert, wird unvermutet zum fesselnden Thriller, der in seiner Abgeschlossenheit und Konsequenz an Vincenzo Natalis "Cube" erinnert und - bitte nicht verpassen - auch beim Abspann noch grandios unterhält. Elegant, gewaltfrei, herausfordernd und spannend: "Portal" steht als Unikat und Meisterwerk des Game-Designs nicht nur im Genre Egoshooter ganz an der Spitze der Liste intelligenter Computerunterhaltung - ein Spiel, das sich keinesfalls nur Shooterfreunde näher ansehen sollten.
Leider bleibt Valve auch bei seinen neuen Titeln der umstrittenen Veröffentlichungspolitik und der Plattform Steam treu - und setzt noch einen drauf: Treue Käufer der Vorgängertitel können im Laden nur das teure Gesamtpaket erwerben, auch wenn sie alle Vorgängerspiele bereits im Regal stehen haben - einzeln gibt es sowohl "Portal" als auch "Episode 2" nur per Download von Steam. Die doppelt gekauften Spiele könne man dann zumindest per Steam an Freunde weiterverschenken. Für alle Einsteiger in die Serie aber gilt: Die "Orange Box" bietet mit das Beste, was das Genre Egoshooter in den letzten Jahren zu bieten hatte - und zeigt in seinen jüngsten Titeln, wie der Weg zum interaktiven Erzählen weiter beschritten wird.