Das Gesetz der Serie
Mit "SiN Episodes" und "Half Life 2: Episode One" starten zwei prominente Egoshooter ein Vertriebsexperiment: Der Spieler soll häppchenweise bei der Stange gehalten werden. Im TV funktioniert’s, beim Medium Computerspiel ist der Erfolg ungewiss
Was im TV seit Jahrzehnten ordentlich Cashflow garantiert, kann auch für die Spieleindustrie nicht ganz falsch sein. Wenn Spiele nicht mehr als monolithische Einzelkraftakte abgeliefert werden müssten, sondern häppchenweise und in Episoden, würde einerseits viel Druck von den Spieleherstellern genommen, da schnelleres Produzieren möglich wäre, und andererseits würde im besten Fall ein großes, hoffentlich treues Publikum angesprochen, das den moderaten Preis der Serienspiele mit fleißigen und vor allem regelmäßigen Käufen belohnen würde - so weit die Theorie, die nun erstmals auf die Probe gestellt werden soll.
Nach dem mäßig erfolgreichen, auf der Kult-Comicserie „Bone“ basierenden Adventure im Serienformat letztes Jahr setzen nun zwei große Namen der Egoshooter-Szene auf das Prinzip der Serie: Ritual Entertainments „SiN Episodes: Emergence“ und Valves „Half Life 2: Episode One“. Bei beiden war die Positionierung als Serienexperiment von Projektbeginn an nicht immer vorgesehen, beide nutzen sowohl die Engine von „Half Life 2“ als auch das von Valve propagierte und von Verbrauchern und Datenschützern zu Beginn heftig kritisierte Vertriebssystem Steam. Vor allem die lange erwartete Fortsetzung von „Half Life 2“ war die längste Zeit als Addon geplant. Hier hätte Valve die Tradition von „Half Life“ fortsetzen können, dem mit „Opposing Forces“ und „Blue Shift“ 1999 und 2000 zwei hervorragende Addons gewidmet waren, die das erzähltechnische Kunststück vollbrachten, die Haupthandlung aus „Half Life“ durch die Augen anderer Figuren – im Fall von „Opposing Forces“ aufseiten des Militärs, in „Blue Shift“ als Sicherheitsmann – erlebbar zu machen.
Um es kurz zu machen: Beide Spiele liefern überraschend wenig. Während „SiN Episodes“ mit etwa fünf bis sechs Stunden Spielzeit durch ordentlichen Schwierigkeitsgrad und (wieder einmal) „revolutionäre“ KI-Routinen etwas länger Spaß macht als „Episode One“, das nach etwa vier bis fünf Stunden absolviert ist, zeigt sich doch, dass Valve nicht umsonst immer noch Genreprimus bleibt. „SiN Episodes“ bietet auswechselbare Schauplätze und zwar relativ clevere, aber doch immer gleiche Gegner in Standardsituationen, „Episode One“ kombiniert hingegen alte und neue Spielelemente in einer sparsamen und eleganten Effizienz. Es wird zwar wenig Neues geboten, aber die perfekte Kombination von Physikrätseln, Kämpfen und Erforschung lassen die lineare Flucht aus der Stadt rasant und kurzweilig werden. Im Vergleich zu „Half Life 2“ bietet „Episodes One“ neben beeindruckenden HDR-Effekten spielerisch Stagnation auf höchstem Niveau. „SiN Episodes“ konzentriert sich mehr auf actionreiche Schießereien und liefert solide Hausmannskost mit dynamisch reagierenden Gegnern, die sich der Spielweise und dem Können des Spielers anpassen.
Monologe im Epilog
Was macht den Reiz einer TV-Serie aus? Die Charaktere, die Handlung, Cliffhanger, kurz: das Erzählen. Trotz aller Richtungsstreitigkeiten zwischen Narratologen und Ludologen scheint es wahrscheinlich, dass vor allem Egoshooter auf Serienbasis den nicht zuletzt von „Half Life“ begonnenen Weg in Richtung interaktive Erzählung weitergehen müssten. Wie wenige andere Genres ermöglicht eben die genrebestimmende Innenperspektive ein intensiveres Teilhaben an einer Handlung – auch wenn dieses Versprechen bisher nur von den wenigsten Egoshootern eingelöst werden konnte. Das Serienformat sollte daher zumindest ein interessantes Experimentierfeld für das interaktive Erzählen im Computerspiel bieten – die Herausforderung, bei relativer Handlungsfreiheit tatsächlich Teil einer fortschreitenden, spannenden und noch dazu zum Kauf weiterer Teile anregenden Handlung zu sein, erweist sich allerdings als beträchtlich, zumindest, wenn man die ersten beiden Vertreter dieses noch jungen Formats betrachtet.
„Episode One“, das ursprünglich unter dem Titel „Aftermath“ den Spieler in der Rolle der Alyx samt Roboter Dog durch weitere Areale von City 17 führen sollte, kehrt wie gesagt der Addon-Tradition von „Half Life“ den Rücken. Der Besitz von „Half Life 2“ ist keine Voraussetzung, und auch der Perspektivewechsel wurde gestrichen: Wieder findet sich der Spieler in der Rolle Gordon Freemans und die Handlung setzt, als sollte sie das enttäuschend abrupte Ende von „Half Life 2“ relativieren, zeitlich unmittelbar nach dem wenig spektakulären Finale des Hauptspiels ein. Ein wenig wirkt es, als wäre „Episode One“ der Epilog des großen Vorgängers; in umgekehrter Reihenfolge muss sich der Spieler aus der Hightech-Zitadelle durch düstere U-Bahnschächte und zerstörte Stadtviertel den Weg zurück ins sichere Umland freikämpfen. Die bedeutendste spielerische und inhaltliche Neuerung findet sich sicherlich in der Bedeutung von Alyx, die den Spieler einen Großteil des Spiels begleitet – und fast hundert Prozent der Konversation betreibt. Wie bei den Vorgängern wird zugunsten des scheinbar programmatischen Ideals der Identifikation des Spielers mit seinem Alter Ego der Hauptfigur keine einzige Äußerung oder sonstige Charakterisierung zugestanden – ein Umstand, der den Helden wider Willen, Gordon Freeman, trotz der Popularität der „Marke Half Life“ seltsam gesichtslos und unplastisch wirken lässt.
Nullstelle Spielercharakter
Die hier wie in den meisten anderen Egoshootern praktizierte Designregel, die Spielerfigur als Projektionsfläche für den Spieler möglichst unbeschrieben und anonym zu lassen, kostet das Spiel einiges an Atmosphäre; gerade ein Serienformat aber sollte auch von der essenziellen Unverwechselbarkeit seiner Figuren getragen sein. Mit Alyx als Sidekick und – oft genug – Handlungsträger kommt – trotz aller Einseitigkeit der Gespräche – jedoch zumindest eine Ahnung von Dialogführung auf. Dabei ist dieses starre Festhalten an der „Nullstelle Spielercharakter“ nicht unbedingt einsichtig; vergessen scheinen die markigen Sprüche des klassischen Duke Nukem, die ausgerechnet ihn zu einer der markantesten Spielfiguren der gesichtslosen Egoshooter-Frühzeit machten. Was Dialoge zwischen Haupt- und Nebenfiguren für die Atmosphäre eines Spieles bewirken können, zeigte andererseits etwa auf komödiantischer Ebene erst vor kurzem „Evil Dead: Regeneration“, wo die ständigen Wortwechsel zwischen Spielerfigur und Sidekick selbst langweiligste Passagen höchst unterhaltsam werden ließen. Am ehesten wird diese erzählerische Lücke bei „Episode One“ noch durch die köstlichen Fernsehansagen der menschlichen Resistance geschlossen, doch auch hier bleibt der Spieler zum stummen Zusehen verdammt. Gordon Freeman – heldenhafte Ikone der Stummfilmära des Egoshooters?
Anders als in „Episode One“ wird in „SiN Episodes“ relativ viel Text geboten, die gute, alte Tradition des monologisierenden Bösewichts wird hochgehalten, und selbst die Hauptfigur John Blade kommt ansatzweise dialogisch, wenn auch wenig und meist nur bei Kommunikationen per Funk, zu Wort. Ironischerweise war es der 1998 erschienene Vorganger „SiN“, der als eine der wenigen Innovationen in diesem ansonsten mäßigen und mäßig erfolgreichem Spiel tatsächlich mit seinen Kumpels in der Basis Funkkontakt halten durfte. Abgesehen von der dadurch möglichen Charakterisierung des charismatisch gestylten Helden John Blade waren es gerade diese Dialoge, die die Handlung glaubhaft vorantrieben, und auch „SiN Episodes“ vermittelt dem Spieler so das Gefühl, stets – wenn auch in geringerem Ausmaß als etwa im Handy-Hektik-TV-Drama „24“ – über neue Entwicklungen informiert zu werden und dementsprechend zu handeln.
Leider fällt aber auch hier diese Form der dramaturgischen Inszenierungen des Stoffes recht karg aus, zudem bleibt John Blade über weite Strecken gesichtslos. Zu allem Unglück ist hier auch der weibliche Sidekick Jessica bei weitem nicht so überzeugend wie Valves Alyx, die tatsächlich in Bezug auf Gesichtsanimation und Scripting neue Maßstäbe im NPC-Schauspiel setzt. Einzig im Bereich der Story kommt „SiN Episodes“ dem Serienkonzept ambitioniert näher als „Episode One“, das wie erwähnt eigentlich nur „Half Life 2“ den ersehnten Schlusspunkt aufsetzt, aber schon wieder einen spannenden Schluss, geschweige denn einen Cliffhanger schuldig bleibt.
Das Serienkonzept ins Universum der Spiele zu übersetzen bleibt eine interessante Idee, die mit den vorliegenden Titeln in ihrem Potenzial höchstens angekratzt wurde. Eines der gröberen Probleme allerdings dürfte so schnell nicht gelöst werden: die Wartezeit auf Episode zwei. Denn während im TV höchstens mal eine Woche oder bei Staffelende einige Wochen zu überdauern sind, bis der Suchtkonsum wieder begonnen werden kann, dürfte es sowohl bei „SiN Episodes“ als auch bei „Episode One“ bis zu einem halben Jahr dauern, bis wieder ein bisschen gespielt werden kann.