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São Paulo - Stadt ohne Wiederkehr

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São Paulo, urbane Katastrophe, Zivilisation als Wildnis, Stadt der Erstinkenden, Gigametropole, Zukunftsstadt, etc., im Positiven wie im Negativen überschlagen sich die Superlativen, tendieren die Stadtbeschreibungen außer Rand und Band zu geraten. Dieser Artikel versucht jedoch, einige der vielen Splitter, aus denen sich das Stadtbild zusammensetzt, rational zu fassen, indem mögliche historische, ökonomische, kulturelle und soziale Gründe für die Gegenwart São Paulos beschrieben werden, um sich letztendlich doch in das unvermeidliche Scheitern des europäischen rationalen Erbes zu fügen und der dystopischen Unmöglichkeit dieses Orts Raum zu verschaffen.

São Paulo 96, Stadtteil Bras, Foto GI

Vorspann I

Ich sitze auf dem Balkon der Casa das Rosas , während der Verkehr der Avenida Paulista meine Ohren betäubt. Doch langsam nimmt das Rauschen und Brummen eine beruhigende Qualität an, wie Meeresrauschen, und ich denke daran, wie es noch vor einer Woche war, als ich von São Paulo träumte, ohne je hiergewesen zu sein. Ich mußte an die mächtigen Wolkenkratzer denken, die ich auf Fotos gesehen hatte, und an die Obdachlosen, die sich nachts in den dunklen Nischen zu Füßen dieser Riesen aus Stahl und Glas zusammenkauern. Ich las Bücher über die 500-jährige und fortdauernde Geschichte der kolonialen Ausbeutung und der rücksichtslosen Bereicherung einer einheimischen Oberschicht. Freunde, die schon einmal hiergewesen waren, entwarfen das Schreckgespenst einer allgegenwärtigen Kriminalität. Ich dachte aber auch an Fußball, Caipirinha, Samba und Karneval.

Nun, eine Woche später, sitze ich hier zwischen den Wolkenkratzern in- und ausländischer Banken, zwischen Radio-, Fernseh-, Telefonfunk- und Satellitenantennen, die auf Mega- und Gigahertzfrequenzen Sprache, Texte und Daten rund um die Welt senden. Die Ungewißheit meines Traums von São Paulo, einer Riesenstadt in der Neuen Welt, ist verflogen. Fern ist mir der Gedanke, ich befände mich in der Dritten Welt. São Paulo ist eine Global City, wie sie Saskia Sassen beschrieben hat, oder besser, São Paulo ist Teil der Global City, der weltumspannenden Ströme von Geld, Waren, Menschen und Informationen. São Paulo, diese Phantomstadt, diese Megametropole umfaßt in ihrem abstrakten Stadtgebiet aber auch die Zweite, Dritte und Vierte Welt. Diese Stadt hält sich nicht an den dreidimensionalen Raster der cartesianischen Raumvorstellung. Hier wachsen die Slums vertikal und die Baumasse, diese angeblich festen Körper, scheinen in einem beständigen Fluß zu sein. São Paulo erscheint mir wie eine Stadt im WWW, die mehr durch ihre Links als durch ihre Festkörper geprägt ist. Nun, da mich solche Ahnungen beschleichen, weiß ich, ich bin angekommen, ich bin da.

Vorspann II

Rodney Brooks, Leiter einer Forschungsgruppe über Robotik und Künstliche Intelligenz (KI) am MIT, Masachusetts Institute of Technology, gilt als Pionier eines neuen Ansatzes in der KI. Seine Roboter verzichten auf den Luxus einer zentralen Steuerung ihrer Aktionen durch ein mächtiges Elektronengehirn. Brooks baut Roboter von der Größe von Spielzeuglastwagen oder Krebsen. Jedes einzelne Körperteil - die Beine, Arme und Fühler - dieser mechanischen Tiere wird durch einen eigenen Chip gesteuert, der gerade soviel Intelligenz besitzt, wie nötig ist, um die lokal nötigen Handlungen auszulösen. Vor, Zurück, Links, Rechts, Stop. Die Koordination zwischen den Gliedmaßen wird durch eine einfache Hierarchie von Prioritäten gewährleistet. Damit haben diese kleinen metallischen Biester jedoch schon mehr erreicht als so mancher riesiger Stahlkoloß, ausgestattet mit mächtigen Batterien und enormer Rechenpower, welche die NASA noch bis vor wenigen Jahren bauen ließ, um damit den Weltraum und ferne Planeten zu kolonialisieren. Brooks hingegen möchte noch kleinere Roboter bauen, Fleabots nennt er sie, also Flohroboter, und er ist überzeugt, daß es möglich wäre, durch Millionen solcher Flohbots z.B. die menschliche Besiedlung des Mars vorzubereiten.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Rodney Brooks

Die Roboter von Brooks funktionieren, ohne daß sie eine innere Repräsentation von der Welt hätten. Sie haben keinen Referenzort im Sinne einer inneren Kartographie des Raums, in dem sie sich bewegen. Brooks sagt:

Die beste Karte der Wirklichkeit ist die Wirklichkeit selbst.

Rodney Brooks

Künstliche Lebewesen, die mit der Logik von Ameisenhaufen, Termitenbauten oder Bienenschwärmen arbeiten, schaffen Werke, die wir eigentlich nur Zivilisationen zutrauen, die über einen ausgeprägten kulturellen Überbau verfügen. Ist São Paulo die Stein und Fleisch gewordene Wirklichkeit eines neuen Paradigmas? Ist sein chaotisches Stadtbild der Abdruck eines anarchistischen Selbtsorganisationsprinzips in der Wirklichkeit? Ist dies jene Form von Anarchie, die aus einem besonderen Zusammenspiel von Klima, Wirtschaftsliberalismus, staatlich gestützter Oligopolwirtschaft und "New Frontier"-Denken entsteht?

Einleitung/Hypothese

Die Entwicklung von São Paulo ist entscheidend für die Zukunft der globalen Techno-Zivilisation. São Paulo ist ein Laboratorium für einen neuen Typ Gesellschaft, deren Schicksal fast ausschließlich von der Ökonomie bestimmt wird. Ihr dynamisches Wachstum im zwanzigsten Jahrhundert übersteigt für Europäer alle vorstellbaren Dimensionen und läßt sie in gewißem Sinn als geschichtslos erscheinen. In dieser Hinsicht ähnelt São Paulo den ebenso schnell wachsenden Metropolen Asiens und Afrikas. Die gesellschaftlichen Konflikte der alten Welt, zwischen Intellektuellen und Technokraten, zwischen Arbeit und Kapital, welche die europäische Stadtentwicklung so nachhaltig geprägt hat, findet hier nur bedingt statt. Zwar wird ebenso polemisiert und theoretisiert, doch bleibt das ohne Auswirkung auf die reale Entwicklung. Eine intellektuelle Elite spricht zu sich selbst, während das Geld und die vitalen Bedürfnisse jener, die über Geld verfügen, beständig Fakten schaffen, während die Armut des "Volkes" als weiteres Faktum hingenommen wird.

Technologisches Wissen und Fähigkeiten kreiieren in einem der Willkür des Kapitals ausgelieferten Wirtschaftsraum die seltsamsten Wucherungen. Die eingewanderten Europäer sehen sich einer feindlichen Lebenswelt - im kulturellen Sinn ebenso wie im Sinn von "Natur" - ausgesetzt und haben sich eine historische Verachtung für die Leiden der Caboclos zugelegt. Unter dieser Distanz leidet das Selbstverständnis der "Brasilianer" als Volk, verschärft durch die Mechanismen und Zwänge der Weltwirtschaft. Daher kann von Verwurzelung nicht die Rede sein und die "Hit and Run"-Mentalität - zu kriegen, was zu kriegen ist und sich dann davonzumachen - allgegenwärtig. Daraus resultiert eine Politik der verbrannten Erde, Sinnbild geworden mit den Brandrodungen in den Urwaldgebieten, aber auch übertragbar auf die Stadt als kybernetischer Metaorganismus.

Zugleich hat die Einwanderung der Stadt eine große kulturelle Vielfalt beschert und ethische Minderheiten - jeder ist hier eine Art ethischer Minderheit - können ihre Besonderheiten frei ausleben. Aus europäischer, in diesem Fall kulturpessimistischer Sicht, könnte das als sozialdarwinistischer Kampf aller gegen aller verstanden werden. Doch zugleich begünstigt diese "Suppe" autokatalytische Prozesse, die auf europäischem Boden niemals entstehen könnten. In einem technokulturellen Gährungsprozeß werden die Umrisse einer Kultur des 21. Jahrhunderts sichtbar, die in Zukunft weit weniger als in den vergangenen 500 Jahren von Europa und den USA bestimmt sein wird.

Lokalisierung I

Vilém Flusser , der von 1940 bis 1972 in São Paulo lebte, beschreibt in seinem Essay "Alte und neue Codes: São Paulo", die Stadt folgendermaßen:

Eine beinahe chaotische, von Lücken durchbrochene Häusermenge erstreckt sich mit einem Durchmesser von zirka 45 Kilometern über ein bis zu 800 Meter hohes Mittelgebirge. Darüber wölbt sich eine Smog-Glocke. Durchstößt man mit dem Flugzeug diese Glocke, dann werden verstreute Gruppen von Hochhäusern und Hütten sichtbar, jedoch keine Plätze. Am Rande der Häusermenge, stellenweise auch in ihr, erkennt man Industrieanlagen. Alles ist ins Grauweiße und Rötliche getaucht, mit einigen dunkelgrünen Flecken. [...] Es stellt sich sofort die Frage, ob eine derartige Siedlung "Stadt" genannt werden kann.

Vilem Flusser

Bei der Fahrt vom Flughafen in die Stadt konkretisiert sich dieser Eindruck. Längs der Stadtautobahn erstrecken sich die Favelas, Hüttensiedlungen aus Wellblech und Pappe, selten Holz, noch seltener Ziegeln. Je näher man dem Zentrum kommt, desto dichter stehen die Hochhäuser, Häuser unterschiedlicher Höhe, Alters und Bauweise, oft in einem Abstand weniger Meter nebeneinandergesetzt und durchpflügt von Stadtautobahnen mit ihren kreuzungsfreien Verzweigungen, Über- und Unterführungen. Bausubstanz, die älter als 30 Jahre ist, gibt es praktisch kaumnoch. Die Straßen folgen selten dem so gewohnten Schachbrettmuster moderner Millionenstädte wie z.B. NYC. Plätze oder auch nur platzartige Erweiterungen scheint es nicht zu geben, auch keine Parks oder Kinderspielplätze. Nur in "Jardins", dem Viertel der Reichen, mischt sich Grün zwischen die Wohnanlagen und Villen. Der alles dominierende Beton der Häuser, Brücken und Straßenrandbefestigungen wirkt rau, rissig, vernarbt, von einer Schicht pulverisierten Smogs überzogen. Das Stadtbild spiegelt eine neoliberale, sich selbst überlassene, Wildwestgesellschaft. So etwas wie Flächen- oder Raumordnungspläne scheint es nicht zu geben. Wer über genügend Geld verfügt, baut wo und wie er will. Und es wird sehr viel gebaut. Während Gebäude, die keine zehn Jahre alt sind, bereits alt und verfallen wirken, werden neue hochgezogen. Die Stadtentwicklung scheint keinem übergeordneten Gesetz zu gehorchen als dem der beständigen Veränderung. So gleicht die Stadt mehr einem biotechnologischen, selbstorganiserenden Organismus, als einer von Menschen sinnvoll geplanten Struktur.

Geschichte

Abgesehen von einem Kloster am Ort der ursprünglichen Stadtgründung war São Paulo im 17. Jahrhundert eine Stadt der "Bandeiras". Dieser Begriff bezeichnet eigentlich eine Standarte oder Flagge, die in den Boden gerammt wurde, um den Herrschaftsanspruch eines aristokratischen Großgrundbesitzers über einen Landstrich zu verdeutlichen. Daraus abgeleitet entstand der Begriff der "Bande", Gruppen von Outlaws, die für private Auftraggeber "ordnungspolitische Aufgaben" übernahmen, sprich Gegenden von Indianern zu "säubern", damit sie zu sicheren Weidegründen für Viehherden wurden, entlaufene Sklaven wieder einzufangen oder Sklavenaufstände niederzuringen und nicht zuletzt Besitz gegen andere "Bandeirantes" zu behaupten.

Noch im 19. Jahrhundert war São Paulo verhältnismäßig klein, unbedeutend gegenüber Salvador de Bahia (bis ca. 1800 Hauptstadt), Rio de Janeiro oder der Goldgräberhochburg Minas Gerais. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann die Stadt an Bedeutung als Umschlagplatz für Kaffee und Mineralien, die aus dem Landesinneren kamen. Eine lokale Verarbeitungsindustrie entstand, bevor die nun veredelten Waren an die Häfen weitergeleitet wurden. In den zwanziger und vor allem den dreißiger Jahren setzte dann die sprunghafte Entwicklung São Paulos zur heutigen Größe ein.

Diese Entwicklung ist vor allem ein Produkt der europäischen Einwanderung und eng an den Aufschwung des Industriezeitalters nach fordistischem Modell in Brasilien gekoppelt. Die damalige Regierung hatte erkannt, daß die Jahrhunderte lang protegierte Wirtschaftsform des feudalen Großgrundbesitzes gegenüber modernen industriellen Produktionsformen nicht mehr wettbewerbsfähig war. Auch entwickelte das Ende des 19. Jahrhunderts Demokratie gewordene Brasilien langsam so etwas wie ein nationales Selbstbewußtsein und der kapitalistisch, und nicht feudal-aristokratisch, orientierte Teil der Oberschicht erkannte, daß nicht mehr Landbesitz und schier unermeßliche Bodenschätze allein den Wohlstand sichern konnten, sondern daß auch handwerkliches und technisches Geschick der Bevölkerung vonnöten sein würde, um sich in einer expandierenden Weltwirtschaft zu behaupten. Daher versuchte man gezielt die Einwanderung von fleißigen Handwerkern und Facharbeitern aus dem von Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise zerrütteten Europa zu begünstigen. Ob Deutsche, Polen, Italiener, sie sollten kommen und Brasilien, den schlafenden Riesen, erwecken helfen.

Bras, Sao Paulo, 1903, Foto GI

Und sie kamen. Der Stadtteil Bras war in den dreißiger Jahren bevorzugte Anlaufzone für die einwandernden Europäer. Für Millionen wurde dieses flache Stück Land, zwischen zwei Flüßen und daher auf sumpfigem Grund gelegen, zur ersten neuen Heimat, bevor sie zu Arbeit oder gar Selbständigkeit kamen und in bessere Wohngebiete ziehen konnten. Es ist bezeichnend, daß gerade dieser Stadtteil, obwohl doch eigentlich zentrumsnah, inzwischen wieder zur völligen Bedeutungslosigkeit abgesunken ist. Die beiden Flüsse verwandelten sich immer mehr in stinkende Abwasserkanäle. Eine Bahnlinie und eine Stadtautobahn wurden so angelegt, daß sie Bras verkehrsmäßig fast völlig vom Rest der Stadt abschlossen und daher jeglicher weiterer Entwicklung die Luft abschnitten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, der Bezirk dämmert vor sich hin. Entlang des Bahndammes und des verfallenden Güterbahnhofes erstrecken sich für Paulistaner Verhältnisse sehr niedere Gebäude, von Siedlungen verarmter Kleinbürger bis hin zu wirklichen Elendsquartieren. Im nächsten Jahrtausend könnte der Bezirk aber wieder aufleben, da eine neue Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke gebaut werden soll, die São Paulo mit Rio verbinden wird und deren Endpunkt sich ausgerechnet in Bras befinden soll.

Ökonomie

Das eigentliche Problem São Paulos befindet sich, tausende Kilometer von der Stadt entfernt, im Nordosten des Landes. Dort, im "Nordeste", den eigentlich fruchtbaren Tropen, sorgen die Reste des auf Sklaverei aufgebauten Feudalsystems im Verbund mit investorenfreundlicher, neoliberaler Politik dafür, daß Millionen von Menschen weder Land noch Arbeit haben. So bleibt ihnen als einziger Ausweg vor dem Verhungern die Abwanderung in die Millionenstädte des Südens, bevorzugt nach São Paulo. Wie menschliches Treibgut werden sie hier in den Favelas angespült, ein nicht enden wollender Zustrom, der die Errungenschaften der dynamischen Wirtschaftsmetropole beständig aufzufressen droht. Denn obwohl sich die Wirtschaft von São Paulo mit einer Wachtumsrate von mehr als 5% in den letzten Jahren vorteilhaft entwickelt, kann sie mit diesen meist analphabetischen und auch handwerklich nicht ausgebildeten Menschen nichts anfangen. Und auch in den Favelas - Slum ist nicht gleich Slum - werden sie zunächst nicht aufgenommen, da die eingesessenen Slumbewohner ihr Gewohnheitsrecht gegen die Neuzugänger verteidigen. Und so ziehen sie, ihr Hab und Gut in wenigen Plastiksäcken tragend, ziellos durch die Stadt oder haben es, mit einigem Glück, immerhin zu einem Handkarren gebracht, mit dem sie ihr faltbares Eigenheim, aus Pappkartons bestehend, transportieren.

Die Ursachen der Armut im Nordosten wirklich ausreichend zu beschreiben, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Doch das Thema soll auch nicht ganz ausgeklammert bleiben. Es hängt sowohl mit brasilianischen Besonderheiten als auch mit ausländischen Einflüssen zusammen. Nur einen Aspekt zu betonen, würde ein verzerrtes Bild liefern. Brasilianisch, oder im eigentlicheren Sinn portugiesisch, ist die Art, wie Brasilien kolonialisiert wurde.

Anders als die Passagiere der Mayflower kamen die Portugiesen nicht als Siedler, sondern als Koloniasateure im puren ausbeuterischen Sinn. Als Soldaten, Abenteurer, Statthalter des Königs, lag ihnen nichts daran, eine nachhaltige Entwicklung im Land einzuleiten, sondern bloß möglichst schnell möglichst viele Reichtümer anzuhäufen und damit anderswo ein besseres Leben zu beginnen. Diese Mentalität wurde durch die Politik des Königshauses noch gefördert, das alles unternahm, damit sich im Lande keine unabhängigen Denkströmungen entwickeln konnte. So war es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts verboten, eine Druckerpresse ins Land zu bringen. Ebenso wurde es gezielt unterlassen, Universitäten oder höhere Schulen zu gründen. Beides änderte sich erst mit der formalen Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1822.

Die Ansiedlung erfolgte bevorzugt an der Küste. Über die Häfen wurden die Reichtümer des Landes ins Heimatland verschifft und europäische oder sogar asiatische Luxusgüter importiert. Die adelige Oberschicht brachte riesige Landgüter in ihren Besitz und ließ sie durch Sklaven aus Afrika bestellen. Über Jahrhunderte hielt sich so ein Ausbeutungssystem, das weder Mensch noch Landschaft schonte und sich nur durch die wechselnden, bevorzugt produzierten Güter unterschied. Ein Boom löste den anderen ab. Zunächst Gold und Silber, dann Zuckerrohr, Kakao, Kaffee, Tabak, Kautschuk. War der Boden ausgelaugt oder wurden die gleichen Güter in anderen Erdteilen besser und billiger produziert, so wechselte man eben zum nächsten Produkt. Dabei wurden unter anderem auf mehreren tausend Kilometern die gesamten Küstenwälder abgeholzt, um für die jeweiligen Monokulturen Platz zu schaffen. Eine nachhaltige, auf Schonung von Resourcen bedacht nehmende Entwicklung wurde nie eingeleitet. Das Bildungsniveau der Bevölkerung blieb anhaltend schlecht und die Macht der Großgrundbesitzer ist, trotz starker Ermüdungserscheinungen, bis heute kaum gebrochen.

Dazu kam im zwanzigsten Jahrhundert die Macht der multinationalen Konzerne, die auf riesigen Flächen monokulturelle Agrarindustrie betreiben, gefördert und beschützt von der Staatsmacht im Namen einer neoliberalen Geldpolitik, die sich allein an makroökonomischen Zahlen wie z.B. der Geldwertstabilität orientiert, nicht aber an den lokalen Gegebenheiten und den ihnen unterworfenen Menschen.

Daten

Im Staat São Paulo lebten 1991 32% der Einwohner von zwei Mindestlöhnen im Monat oder darunter (ein Mindestlohn entspricht 112.- US$). 33,9% mußten sich mit 2 bis 5 Mindestlöhnen zufriedengeben und nur 12 Prozent verdienten mehr als 10 Mindestlöhne im Monat, während 4,2% über gar kein Einkommen verfügten, wobei São Paulo ca. 35% des brasilianischen wirtschaftlichen Bruttonationalprodukts hervorbrachte und in allen Werten durchschnittlich etwa doppelt so gut steht wie der Rest Brasiliens. Zum Vergleich mit Deutschland: Das jährliche Bruttoprokopfprodukt von São Paulo lag 1993 bei 4240.- US$, das von Deutschland bei 23560.- US$, wobei das Preisniveau in São Paulo ungefähr so hoch liegt wie in Europa, wenn bei einzelnen Produkten und Dienstleistungen nicht sogar höher.
Daten aus:SEADE - State Data Analysis System Foundation www.seade.gov.br/english/

Politik

Das wahrscheinlich verpönteste Wort in Brasilien ist "Landreform". Eine solche hat es, trotz zahlreicher Ansätze selbst zu Zeiten der Militärregierung (und erst recht in Zeiten demokratisch gewählter Regierungen, die auf jede Wählerstimme angewiesen sind und daher zu großherzigen Versprechungen neigen) nie gegeben. Und auch der jetzige Präsident, Fernando Henrique Cardoso (von den abkürzungsverliebten Brasilianern FHC genannt), ist weit davon entfernt, eine Landreform, die diese Bezeichnung verdient, einzuleiten. Dabei müßte er selbst es eigentlich am besten wissen, inwiefern dieses aus feudalistischen Zeiten geerbte System der agrarischen Großflächenwirtschaft die Abhängigkeit vom Ausland, von den Launen des Weltmarkts und den preisdrückenden Auswirkungen der GATT-Abkommen dauerhaft zementiert. Denn vor seiner politischen Laufbahn war Cardoso Soziologe an der Universität von São Paulo und hat die Dependenz-Theorie mitbegründet, jene Theorie, die erklärt, warum die Entwicklungsländer, die Rohstoffe exportieren und Produkte von hoher Fertigungstiefe importieren, immer nur auf der Verliererseite stehen werden.

Warum Cardoso von seiner eigenen Theorie scheinbar nichts mehr wissen will, ist relativ leicht erklärt. Bei der letzten Wahl, der, die ihn zum Präsidenten machte, war sein stärkster Gegner der ehemalige Gewerkschaftsführer Luís Inácio Lula da Silva. Dieser hatte aus seiner Bewegung, eine Vereinigung der verschiedensten linken Bewegungen, von radikalen Gewerkschaftern über städtische Sozialdemokraten bis hin zur Bewegung der Landlosen, in eine reguläre Partei umgeformt, die "Partido dos Trabalheros" (Arbeiterpartei), kurz PT.

Bei der Wahl 1989 war da Silva, im Volksmund "Lula" genannt, Fernando Collor de Mello nur knapp unterlegen und konnte sich, nach dem Scheitern dessen neoliberaler Radikalkur für die Wirtschaft, die der Währungsstabilität alle anderen Ziele unterordnete, gute Aussichten auf einen Wahlerfolg machen. Doch die Übernahme des Präsidentenamtes durch die Linke erschien wohl vielen Brasilianern zu radikal und so wurde Cardoso als Kandidat der bürgerlichen Mitte aufgebaut. Mit seiner Soziologenvergangenheit fiel es ihm leicht, ein sozialreformerisches Image über die Medien zu verbreiten. Doch um die Mehrheit im Parlament zu erlangen, mußte er mit der Partei der Großgrundbesitzer paktieren, die an Köpfen klein, an Einfluß aber immer noch groß ist. Somit wurde die Landreform wieder einmal zu einem Projekt, das vor allem Papierstapel füllte, die in Aktenordnern abgelegt werden. Solange aber in diesem Punkt nichts geschieht, werden die Slums von Rio und São Paulo weiter wachsen.

Siehe auch

Diese Ereignisse der jüngeren Geschichte haben Wurzeln in der Vergangenheit und stehen im Kontext der bereits erwähnten "ausländischen Einflüsse". Zwischen 1950 und 1964 wurde Brasilien von gewählten Präsidenten regiert. Was sich in dieser Zeit ereignete, die Entstehung von für südamerikanische Verhältnisse starken Gewerkschaften und die Ausbreitung einer kommunistischen Partei bis in die letzten Zipfel des Landes, war den USA nicht recht, die im Sinn der Monroe-Doktrin Brasilien als Teil ihres "Hinterhofes" betrachteten. So kam es 1964 zu einer vom CIA initiierten und von eingreifbereiten Flugzeugträgern vor Rio überwachten Machtübernahme der Militärs . Die Militärregierung hielt sich bis 1986. Es ist jedoch eine brasilianische Besonderheit, daß diese Militärherrschaft weniger grausam als in Argentinien, weniger totalitär als in Chile oder osteuropäischen kommunistischen Diktaturen verlief. So konnte sich ab den späten siebziger Jahren die Arbeiterbewegung von "Lula" entwickeln und durch Streikwellen in den achtziger Jahren entscheidend mit zum Sturz der Militärs beitragen.

Auch konnte die Militärdiktatur den Brasilianern die kulturelle Liberalität und die sprichwörtliche Lebensfreude nie austreiben. Zugleich ist es ein anderer Aspekt der brasilianischen Besonderheit, daß nun 10 Jahre nach Ende der Militärherrschaft Reste fortbestehen, wie sie sich zum Beispiel in der keiner demokratischen Kontrolle unterstehenden Militärpolizei manifestieren, die immer noch ihre Todesschwadronen ausschickt und im Zweifelsfall Demonstrationen Landloser mit Schußwaffengebrauch auflöst. Am 17.April 1996 starben bei einer solchen Militäraktion mindestens 19 Menschen (offizielle Statistik) im Bundesstaat Pará .

Mentalität

Den oben angesprochenen "brasilianischen Besonderheiten" liegt eine spezifische Mentalität zu Grunde, die sich in Grausamkeiten ebenso wie in einer übergroßen Herzlichkeit äußern kann. Es hat dies wohl niemand besser gezeigt als Sérgio Buarque de Holanda in seinem 1936 verfaßten Essay "Die Wurzeln Brasiliens". Dabei gelingt es ihm, viele Eigenheiten des Landes, die dem europäischen Besucher völlig fremdartig erscheinen, und ein Verständnis des Landes und der Städte nahezu verunmöglichen, einleuchtend auf eine besondere Mentalität zurückzuführen, die aus der Begegnung des Portugiesentums mit dem Land und zumindest teilweisen Verschmelzung mit Urbevölkerung und importierten Afrikanern entstanden sind. Nach ihm waren die ersten portugiesischen Einwanderer noch kaum vom Geist der Renaissance beleckt, sondern gefielen sich vielmehr in einer Fortführung mittelalterlichen Gedankentums.

Diese bestand zum einen in einer "edlen Gesinnung", die innere geistige Werte, Beschäftigung mit Kunst und Poesie, ritterliches Verhalten als wertvoller erachtete, als die Früchte harter Arbeit, welche das protestantische Ethos so sehr betont. Es ist eine Einstellung, die im Kern individualanarchisch ist, d.h. das Individuum über alles hebt und sich somit gegen alle systemischen Zwänge stellt, ob von Kirche, Staat oder Wirtschaftssystem ausgeübt. Das einzige Ordnungskriterium, aus dem Festigkeit, bzw. Kontinuität entsteht, ist die Familie.

Buarque belegt unter anderem, wie sich das auf die Art auswirkte, wie die Portugiesen ihre Städte anlegten. Das Schachbrettmuster, wie es die römischen, die spanischen und auch die US-amerikanischen Stadtgründungen prägte, wurde von den Portugiesen kaum jemals angewandt. Sie zogen es vor, den Verlauf der Straßen, die Plazierung der Häuser individuell anzulegen, auf örtliche Besonderheiten Rücksicht nehmend, grandiose und erbauliche Wirkung suchend: Die Terrasse mit der Aussicht auf die Meeres-Bucht, die sich an den Hügel schmiegende kurvige Straße, das Häuschen am Weiher, usw. Was sich in der mittelalterlichen Kleinstadt putzig ausnimmt, wird jedoch in der Megametropole zur Plage. São Paulo leidet darunter, daß es keine wirklichen Durchzugsachsen für den Autoverkehr hat, daß seine Straßen allzuoft in erzwungenen Sackgassen enden usw. Kein großer Wurf, keine Haussmannschen Boulevards helfen Ordnung in die Systemlosigkeit zu bringen.

Buarque zeigt auch, wie die brasilianische Mentalität des "herzlichen Familienmenschen" sowohl der Entwicklung eines demokratischen Staatsgedankens als auch der industriellen Arbeitsteilung im Wege stand. Da der Lebensmittelpunkt von vorneherein in der Familie gesucht wird, besteht kein Grund, hinauszugehen und sich in der "Polis" zu engagieren und organisieren. Der Sinn für das Gemeinwesen besteht schlichtweg nicht.

Der Familiengedanke in Gestalt der erweiterten Familie des Großgrundbesitzers schließlich begünstigte eine sich selbst genügende Wirtschaft, die alles "inhouse" zu produzieren trachtete. Die politischen Umstände haben dieses "inhouse"-System länger erhalten, als für die Wirtschaft des Landes gut war.

Die intellektuelle Tätigkeit schließlich konzentrierte sich allzuoft auf die gelungene Formulierung, die schöngeistigen Schnörksel, die erhabene Filosofie, anstatt praktische Handlungsanweisungen für das Alltagsleben auszuwerfen. Das äußert sich z.B. darin, daß Brasilien eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt hat, jedoch in vielen Bereichen immer noch von wenigen Familienclans regiert wird. Öffentliche Ämter werden hauptsächlich benutzt, dem eigenen Clan Geldquellen durch Postenschacher zu erschließen. So steht die aus dem Bürgertum stammende Intelligentsia dem Ereignis des Zusammentreffens der Moderne mit den Besonderheiten Brasilien verständnislos gegenüber und versucht, das Land mit politischen Rezepten zu kurieren, die aus Europa, USA oder neuerdings auch Asien stammen, in Brasilien aber zu Leerformeln verkommen. Diese fundamentale Verständnislosigkeit der brasilianischen Intellektuellenschicht gegenüber dem eigenen Land und zu welchen seltsamen Auswüchsen das führen kann, beschreibt auch Vilem Flusser sehr überzeugend in seinem Essay "Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen" und bildet hier die Brücke zwischen Buarque und der Gegenwart.

Das Singapur-Modell

Es ist nicht so, daß sich die Regierenden São Paulos mit den Favelas einfach abfinden würden. Man schämt sich dafür vor der Welt und versucht, diese Schandflecke zu beseitigen. Dabei begann man in den achtziger Jahren auf das sogenannte "Singapur-Modell" zurückzugreifen. Das bedeutet nichts anderes, als daß schnell billige Wohnblocks als Sozialwohnungen hochgezogen wurden, in die man die Bewohner zwangsumsiedelte. Doch diese blieben meist nicht lange, da sie mit der Wohnform in Kleinfamilienzellen wenig anzufangen wußten. Erst vor kurzer Zeit aus ländlichen Gebieten zugewandert, erscheint ihnen das Leben in der Favela immer noch erstrebenswerter, da es in seiner Kleinteiligkeit so etwas wie dörfliche Strukturen zuläßt, während dieser Zusammenhalt, der auch eine Form sozialer Absicherung bedeutet, in den "vertikalen Slums" zerbricht. Viele ziehen einfach bloß pro forma ein, um dann die Wohnung weiterzuvermieten. Wenn die Menschen aber bleiben, einfach weil ihnen der Rückzug in die Favela verwehrt ist, da diese plattgewalzt wurde, so leben sie meist auf Kosten der Infrastruktur der Häuser, ohne Sinn für deren Erhaltung. Die Hochhäuser erleben in kurzer Zeit eine innere Verslummung.

Zu Beginn der neunziger Jahre war eine Vertreterin der PT (Arbeiterpartei) für zwei Jahre Oberbürgermeisterin von São Paulo. Sie versuchte einen anderen Weg zu gehen, indem sie den Favela-Bewohnern Hilfe zur Selbsthilfe bot. Durch kleine materielle Zuwendungen, oft in Form von Baumaterial und Werkzeugen, ermöglichte sie es, daß die Bewohner Abwasserkanäle und Stromleitungen verlegen konnten und Ziegelhäuser bauten. So konnten die dörflichen Strukturen innerhalb der Stadt ausgebaut werden. Das Modell war ausgesprochen erfolgreich. Doch zugleich ließ sie die Bautätigkeit im großen Stil völlig erlahmen, selbst an begonnenen Baustellen wurde nicht weitergearbeitet. Dadurch brachte sie die Medien gegen sich auf und verlor bei der nächsten Wahl gegen den Vertreter der Bauindustrie.

Nun ist man wieder zum Singapur-Modell zurückgekehrt. Das Ergebnis sind immer mehr vertikale Slums, verrottete Hochhäuser, in denen weder Wasser noch Strom funktionieren, von denen niemand weiß, wieviele Menschen in ihnen leben und sterben, weil kein öffentlich Bediensteter, ob Polizist, Volkszähler oder Strommonteur es wagen würde, sie zu betreten.

Rasse

Es ist eine Besonderheit der Portugiesen in ihrer Kolonialistenphase, daß sie keinen biologisch begründeten Rassismus kannten, zumindest nicht in der Form, wie er von den Nordeuropäern praktiziert wurde. Mit anderen Worten, die Portugiesen empfanden keinen Abscheu davor, sich mit dunkelhäutigen Menschen zu vermischen. So kam es, daß in der Frühphase der Kolonialisierung viele Männer indianische Frauen heirateten, da ein großer Mangel an Europäerinnen herrschte. Es gibt kaum einen Nachfahren dieser ersten Einwanderer, die nicht ein wenig indianisches Blut in den Adern hatten. Später kam es auch zu häufigen Vermischungen zwischen "Weiß" und "Schwarz", "Rot" und "Schwarz" usw. (die Verwendung dieser auf die Hautfarbe bezogenen Begriffe erfolgt im Bewußtsein ihrer negativen, Rassismus implizierenden Besetztheit, zugleich aber um der Kürze willen und aus Mangel an Alternativen). Aus dieser Praxis heraus entstand die wohl nur in Brasilien bestehende Vielfalt der Vermischungen von Genen.

Diese wurde oft als Grund angegeben, daß es in Brasilien keinen Rassismus gebe. Dies ist jedoch eine auch in Brasilien gerne geglaubte Schönfärberei, um nicht zu sagen Lüge. Der Rassismus wird in Brasilien vor allem kulturell definiert. "Weiß" sein ist eine Haltung und heißt, Schulbildung zu haben und auf einem Karriereweg zu sein. Viele Brasilianer versuchen in Kleidung und Lebensstil möglichst "weiß" zu erscheinen, da dies die Basis für Erfolg im Berufsleben ist. Dieser Prozeß wird auch als "Branqueamento" (Weiß-Werden) bezeichnet. Wer das mit Erfolg betreibt, entkommt den "schwarzen" Elendsquartieren der Favelas und rückständigen Landgemeinden.

Problematisch ist daran vor allem auch, daß die Erfolgreichen nichts an die Gemeinden zurückgeben, aus denen sie kommen, nicht aktiv versuchen, dort das Niveau zu heben. Weißgeworden schließen sie sich dem Kleinbürgertum bzw. Mittelstand an und sehen mit ebensolcher Verachtung auf die Schwarzgebliebenen herab, wie die, die immer schon "Weiß" waren. Dieser kulturelle Rassismus kann u.U. schlimmer sein als ein offener Rassismus, da er schwerer zu bekämpfen ist, indem so getan wird, als gäbe es ihn nicht.

Tatsächlich aber stellen "Schwarze" die Mehrheit derjenigen, die für den Mindestlohn oder darunter arbeiten müssen. Nach Angaben des Journalisten Caco Barcellos tötete die Polizei in São Paulo im Zeitraum von 1970 bis 1990 8000 Personen, von denen die Mehrzahl arm, schwarz, Migranten aus dem Nordosten Brasiliens, um 19 Jahre alt war und über ein monatliches Durchschnittseinkommen von 60 US$ verfügte. Diese Angaben ähneln dem soziografischen Durchschnitt der Häftlinge in Brasiliens Gefängnissen, so z.B. im berüchtigten "Carandiru" in São Paulo, das mit 7200 Gefangenen hoffnungslos überbelegt ist, was immer wieder Anlaß zu Revolten gibt Quelle .

Lokalisierung II

Liberdade, dtsch. "Freiheit", heißt ein Stadtteil São Paulos, weil das der erste Stadtteil war, in dem ehemalige afrikanische Sklaven befreit leben konnten. Im Laufe des 20. Jhdts. wurde der Stadtteil zunehmend von japanischen Einwanderern übernommen, die auch sein heutiges Gesicht prägen, mit zahlreichen Einzelhandelsgeschäften und Sushi-Restaurants. In einer Straße in Liberdade kam ein arabischer Geschäftsmann auf die Idee, Hochzeitskleider zu verkaufen. Er war damit so erfolgreich, daß ihm zahlreiche andere arabische Händler nacheiferten, so daß es heute eine Straße in Liberdade gibt, in der lauter arabische Geschäftsleute Hochzeitskleider verkaufen. São Paulo ist eine ausgeprägt multi-ethnische Gesellschaft. Unter seinen 20 Millionen Einwohnern befinden sich die verschiedensten Volksgruppen. Außer in Liberdade, das eine Art Sonderrolle hat, hat das jedoch keinen äußerlich prägenden Einfluß auf die Stadt. Die ethnische Vielfalt geht im Betonmeer der Hochhäuser unter.

Ausdifferenzierungsprozesse

Die großen sozialen Gegensätze bewirken Prozesse der Segregation, wie sie z.B. auch Mike Davis bezüglich L.A. beschreibt. Der gehobene Mittelstand und die Superreichen verschanzen sich in durch High-Tech und bewaffnete Wächter gesicherten Häusern und Straßenzügen. Die Stadt ist durchzogen von Demarkationslinien, die für den Fremden auf den ersten Blick unsichtbar sind. Die Avenida Paulista gilt zur Zeit als eine Art Zentrum der Stadt, obwohl das kein Stadtzentrum im europäischen Sinn ist, sondern bloß eine Ballung von Verkehr und Finanzdienstleistungen. Die Paulista verläuft mehrere Kilometer entlang einer Hügelkuppe. Auf der einen Seite geht es hinab zum ehemaligen Zentrum. Da sich dort in älteren Hochhäusern durch Wohnungs-Besetzungen immer mehr vertikale Slums entwickelt haben, wurde das Viertel von den Wirtschaftskräften aufgegeben, die sich auf die Hügelkuppe der Paulista zurückzogen, ein Prozeß, der sich erst vor wenigen Jahren vollzog. Auf der anderen Seite der Paulista geht es hinunter nach "Jardins", dem Villenviertel der Superreichen.

In einer Art Übergangsviertel stehen die Hochhäuser zwar auch dichtgedrängt, doch hat sich hier eine große Vielfalt an Baustilen entwickelt. Die Hochhäuser haben gläserne Pförtnerlogen und schmiedeeiserne Zäune. Ihre Wände sind von bunten Kacheln oder teuren Tropenhälzern bedeckt. Sie wirken elegant, grazil, mediterran.

Sao Paulo 1957, Foto GI

Es ist nicht ratsam, die Paulista auf der falschen Seite zu verlassen. Die Gefahr, von umherstreifenden Jugendbanden überfallen zu werden, ist ausgesprochen groß. Auf der anderen, der "guten" Seite, werden diese Banden von Polizisten und Privatsherriffs vertrieben. Arme haben hier gar nicht erst das Recht, den Bürgersteig zu benutzen. So kann sich hier das Yuppietum in Cafes, Bars und Restaurants unbekümmert produzieren. Handies und Goldketten, deutsche Automarken und italienische Designermode werden hier ausgeführt. Allein der Smog, der sich manchmal fast zu einer Art Bodennebel verdichtet, macht alle gleich.

High-Tech

Die Bewohner São Paulos sind stolz darauf, an den neuesten technischen Entwicklungen teil zu haben. Dies wird unterstützt durch die Präsenz ausländischer High-Tech Unternehmen. Die Basis wird durch Produktionsanlagen von 5 Autoweltmarken gestellt (demnächst werden es 8 sein), die hier nicht nur produzieren, sondern auch forschen und entwickeln, neue Modelle mit Computern visualisieren lassen und sie mit aufgemotzten Fernsehclips bewerben. Autofirmen, Elektronikunternehmen, Nahrungsmittel- und Pharmazeutikhersteller zahlen Löhne, die ein Leben in einem bescheidenen Wohlstand ermöglichen, der dem der hiesigen Mittelklasse zwar nicht vergleichbar ist, aber doch so etwas wie ein Kleinbürgertum aus Arbeitern und Angestellten entstehen ließ, die am fordistischen Wohlstandsmodell teilhaben können, mit Auto, Waschmaschine, Videogerät und Home-PcŽs.

Im Sommer 96 hatten in ganz Brasilien 1 Million Menschen Internetzugang. Führender Informationsanbieter ist die Tageszeitung Folha mit Universo Online. Das Grafic-Design der brasilianischen Web-Pages ist den großen amerikanischen Vorbildern wie CNET oder Yahoo nachempfunden, doch werden die Vorbilder hinsichtlich Geschmack, Farbwahl, Icon-Gestaltung oft übertroffen. Ebenso wie sich das "tropische" Lebensgefühl in grazilen Hochhausbauten äußert, scheint es sich auch auf die Web-Pages-Gestaltung positiv auszuwirken. Die Angebote von Universo-Online oder etwa dem Suchdienst Cadê? lassen nichts zu wünschen übrig. Kurznachrichten werden in UOL stündlich aktualisiert, das redaktionelle Angebot ist breit und widmet sich auch besonderen Internet-Themen, welche z.B. in der Print-Version der Tageszeitung "Folha" nicht enthalten sind. Dazu gibt es interaktive Chat-Foren und Newsgroups mit vielen Möglichkeiten für die Leser, auch selbst zu Wort zu kommen. Cadê? ist ein spezifisch auf das brasilianische Netz zugeschnittener Suchdienst, der in Design und Funktionalität Yahoo nachempfunden ist. Ein anderer Server mit individuellen Abfragemöglichkeiten bietet gratis und unverschlüsselt Zugang zu aktuellen soziologischen Daten über Stadt und Staat São Paulo. Die größten und buntesten Web-Pages haben zweifellos die Fußballclubs, doch auch die Politiker, bis hinunter zur lokalpolitischen Ebene, demonstrieren ihre Aufgeschlossenheit für das Informationszeitalter.

Doch bei aller Buntheit und Informationsvielfalt beschleicht einen ein seltsames Gefühl angesichts der unüberwindbaren Schranken zwischen der gebildeten Schichte und dem "Rest der Gesellschaft", der sich nicht einmal Zugang zu normaler Schulbildung leisten kann, da Bildung ein Privileg der Besserverdienenden ist. Mehr noch als in Europa oder den USA erscheint das Internet als ein zwar schön gestalteter doch irgendwie schon sehr abgehobener Schnörksel am Dachfirsat der brasilianischen Gesellschaft. Mit verzweifelter Insbrunst versuchen die Paulistas auf der Höhe der Zeit zu sein. Und auch wenn das einem Teil von ihnen sichtbar gelingt, so trägt das doch nichts zur Verbesserung der Lage des anderen Teils der Gesellschaft bei.

Die zahlreichen riesigen Bildschirme an der Avenida Paulista und anderen Zentren des Geschäftslebens, von denen computeranimierte Werbeclips für Auto, Nahrungsmittelkonzerne, TV-Sendungen und Web-Pages auf die Passanten herabrieseln, den geschäftigen Banker ebenso wie den seinen Handkarren ziehenden Obdachlosen, umflort von den Ausdünstungen des brutalen Straßenverkehrs, scheinen das Sinnbild dieser Differenz zu sein.

Stein und Fleisch

Faszinierend an São Paulo ist nicht die Stadt an sich, das unüberblickbare Häusermeer manchmal graziler, oft plumper Hochhäuser, zerfurcht von holprigen Stadtautobahnen, über die sich der Verkehr in ewigem Stau quält, sondern die Tatsache, daß es in dieser Stadt überhaupt möglich ist, zu leben, und dabei auch noch Spaß zu haben, was den "Paulistas offensichtlich gelingt. Wenn mit "Leben" eine bestimmte vitale Qualität bezeichnet wird, dann Leben die Leute nicht in, sondern gegen diese Stadt. Es ist faszinierend, hier zu sein, weil es so absurd ist. Selbst erfahrene Paulistas erleben ihre Stadt als eine Art groteske Unmöglichkeit, mit der man sich einfach irgendwie abzufinden hat. So ist diese Stadt wie eine Art künstliche Natur. São Paulo ist der wahre Großstadtdschungel, nicht das geordnete Gittermuster New Yorks.

Die Paulistas haben merkwürdige Überlebensmechanismen entwickelt. Die Abschottung gegen Armut, Elend, Rassendiskriminierung ist normal, wird nicht als verwerflich angesehen. Ein Kunstkurator, der sich in seinen theoretischen Texten mit Poststrukturalismus und Political Correctness abmüht, möchte eine schöne alte Fabrik für eine Ausstellung nutzen. Zu diesem Zweck muß die Halle allerdings erst von Obdachlosen, die sie besetzt haben, mittels Polizeieinsatz geräumt werden. Eine Bekannte erzählt mir, das wirklich Schöne an Brasilien seien die vielen Blumen. Allerdings habe ich in São Paulo außer in "Jardins" keine freiwachsenden Blumen gesehen. Die Blumen sind also deshalb so schön, weil sie so selten sind.

Das soziale Leben ist ausgesprochen komplex. Es gibt angeblich 200 verschiedene Arten, sich zu umarmen, und jede Art signalisiert den Umstehenden, welches besondere Verhältnis die Umarmenden zueinander haben. Im Viertel zwischen Paulista und Jardins gibt es wie erwähnt viele gute Restaurants, doch die meisten sind nach außen hin kaum zu erkennen, ihre Eingänge sind schmal und unscheinbar und erst dahinter öffnen sich die Räume in großzügige Dimensionen. Das soziale Leben ist sehr schnell und kennt viel mehr Übergänge zwischen Härte und Herzlichkeit als es sich Bewohner der alten Welt vorstellen können. Und während die "Geister" den europäischen Bildungsidealen nacheifern, geben sich die "Körper" afrobrasilianischer Rhythmik hin. Das "Branqueamento", also der Versuch der aufstrebenden Mischline, kulturell möglichst "weiß" zu erscheinen, verwandelt sich nachts und zu Zeiten des Karnevals ins Gegenteil, dann, wenn es vorteilhafter ist, beim Tanzen und Musizieren afrikanische oder indigene Wurzeln wiederzuentdecken und die weiße Steifheit abzulegen.

Epilog - Stadt auf Wanderschaft

Das Finanzdienstleistungszentrum, das sich erst im Lauf der letzten Jahre entlang der Avenida Paulista angesiedelt hat, ist bereits wieder im Aufbruch. Auf Grund der unmöglichen Verkehrssituation auf der ewig verstopften Hauptstraße, wird es für die Banker immer schwieriger, ihre Geschäfte abzuwickeln. Nur die Top-Manager können sich den Luxus leisten, die Hubschrauberlandeplätze auf den Hausdächern zu benutzen. Alle anderen stecken im gnadenlosen Stau und darunter leidet das Geschäft. Deshalb wird nun in Flughafennähe ein neues Finanzzentrum aus dem Boden gestampft. Die "Global City" São Paulos fühlt sich keinem historischen Zentrum, keinem Stadtentwicklungsprogramm verpflichtet. Sie bewegt sich dorthin, wo es gerade opportun erscheint.

In weiterer Folge wäre es genauso denkbar, daß auch die Stadt als ganzes dieser Logik folgt. Jetzt noch florierende Stadtteile werden einfach aufgegeben. Die Stadt als Ganzes bewegt sich auf den Flughafen zu, erstickt diesen, ein neuer Flughafen wird gebaut, São Paulo beginnt, sich auf die Wanderschaft zu machen. Im Zeitraffer von Jahrzehnten betrachtet schiebt sich die Stadt wie ein großer Cyberorganismus über die Hochebene von São Paulo, Fabriken hinter sich herschleifend, Elendsquartiere ausspuckend, verödete Teile abstoßend und sich immer neues Land und Menschen einverleibend.

Credits:Eine Reihe wertvoller Anregungen verdanke ich persönlichen Gesprächen mit Barbara Freitag-Rouanet, Karin Stempel, Winnfried Hamman, Gisuelle Beigelman, Lucas Bambozzi, im Kontext des GI-Workshops Bras-Mitte (www.conteudo.com.br/artecidade/)