Da gehörst Du hin
Die Europameisterschaft ist vorbei: Millionen von Menschen haben gefeiert und sich Nationalfarben ins Gesicht gemalt. Ein kollektives "Wir" wurde konstruiert, das es unter globalen Wettbewerbsbedingungen aber kaum mehr geben kann. Und jetzt?
Es liefen Tränen. Die Portugiesen, die Niederländer, die Deutschen, alle haben sie geheult. Auf der ganzen Welt versammelten sich in den letzten Wochen während der Fußballeuropameisterschaft 2008 Menschen vor Bildschirmen, in Fußballkneipen und in Hinterhöfen. Auch heute weht noch so manch Fahne im Wind. Fußball ist Globalkultur und bedeutet zugleich eine Revitalisierung des Nationalen. Die besten Kicker dieser Erde gehen wieder heim, wenn sie auch in anderen Ländern spielen. Sie kämpfen für das Land, in dem sie groß geworden sind oder für das sie heute zumindest einen Pass haben und spielen dürfen.
Fußball – global total
Noch nie war Fußball so populär wie heute. Fußball ist ein Milliardengeschäft und bringt Millionen von Menschen auf die Fanmeilen. Fußball war auch noch nie zuvor ein derart globaler Wettbewerb, durch den sich Menschen verschiedenster Kulturen begegnen und auch untereinander mischen. Während am ersten Spieltag der ersten deutschen Bundesliga 1963 nur vier ausländische Spieler aktiv waren, beläuft sich ihr Anteil heute auf 47 Prozent. Das sind 234 ausländische Fußballer insgesamt. Und beinah alle Mannschaften hatten bei dieser EM eingebürgerte Spieler oder zumindest Fußballer mit Migrationshintergrund in den eigenen Reihen.
So trat der gebürtige Brasilianer Brito Aurelio Dos Prazeres bei dieser EM als erster „Ausländer“ für das türkische Nationalteam in seiner 85jährigen Geschichte bei einem Turnier an. Heute heißt er Mehmet Marco Aurelio. Mit Deco und Pepe liefen gleich zwei Brasilianer im Trikot Portugals auf, das portugiesische Team wurde auch von einem Brasilianer, von Luiz Felipe Scolari, trainiert (es ist heute beinah schon verwunderlich, wenn ein Trainer aus dem Land kommt, das er trainiert).
Das Schweizer-Team hatte wiederum drei türkischstämmige Nationalspieler im Startaufgebot: Gökhan Inler, Eren Derdiyok und Hakan Yakin. Und als Derdiyok im Spiel der Schweiz gegen die Türkei den Ball unter strömendem Regen auf Yakin passte, das Leder auf dem Platz aber beinah in einer Pfütze liegen blieb, Yakin dennoch zum 1:0 für die Schweiz vollenden konnte, war man ein wenig verwirrt. Man hätte auch glauben können, hier haben türkische Nationalspieler ein wirklich traumhaft kurioses Eigentor in der Geschichte des Weltfußballs herausgespielt.
Das Paradox des Nationalen
Nichts schien unmöglich dieser Tage. Und doch wurden wir in den letzten Wochen tagtäglich daran erinnert, wo wir herkommen, was unsere Wurzeln sind oder sein sollen. Die Menschen in den Stadien und vor den Bildschirmen fieberten mit, sie malten sich Nationalfarben ins Gesicht und weinten plötzlich, als ihr Land aus dem Turnier „gekegelt“ (Bastian Schweinsteiger) wurde. Sie schrien „Wir“ und konstruierten damit ein Kollektiv, das es heute unter globalen Wettbewerbsbedingungen kaum mehr geben kann.
Nie zuvor in der Geschichte ließ sich das Nationale schwerer kategorisieren. Zwar waren Nationen schon immer heterogene Gebilde, in denen sich die verschiedensten Menschengruppen sammelten. Aufgrund der heutigen gestiegenen sozialen und geografischen Mobilität verlieren aber Territorien und Traditionen – zwei wesentliche Elemente zur Konstituierung einer Nation – für die Konstruktion des Nationalen an Gewicht (wenn auch keinesfalls an subjektiver Bedeutung).
Weil der Nation, trotz allgegenwärtiger Bewegung über Staatsgrenzen hinweg, dennoch keine Auflösung bevorsteht, spricht die Soziologin Saskia Sassen von einem „Paradox des Nationalen“. Schließlich erlebt sie eine Renaissance. Einerseits verstehen sich die Bürger als globale Akteure; andererseits verursacht gerade ihre globale Verortung einen Backlash von Deutungsversuchen, das Nationale bestimmen und kategorisieren zu wollen.
Fußball und die Konstruktion des Nationalen
Fußball hat stets zuverlässig für Gemeinschaftskonstruktionen und die Stärkung von Gruppenidentitäten gesorgt und war in seiner Entstehungsphase auch mit dem Militärischen verzahnt. Bereits im zweiten Jahrtausend v. Chr. wurde in China ein fußballähnliches Spiel namens Ts’uh-chüh erfunden, das vornehmlich zum Training der Soldaten gedacht war und durch das schon damals ein Gegenüber, das „Andere“, definiert wurde.
Der moderne Fußball mit festen Regeln aber entstand in England um 1850 (1863 wurde weltweit der erste Fußball-Verband, die Football Association (FA), auf einem Treffen mit Vertretern mehrerer Vereine in London gegründet, wo erstmals einheitlich verbindliche Regeln des Spiels festgelegt wurden). In den folgenden Jahrzehnten formierten sich immer mehr Nationalmannschaften und es gründeten sich Nationalstaaten. Der moderne Fußball fiel also mit der Hochphase von Nationalstaatsgründungen im 19. und 20. Jahrhundert zusammen. Ein Jahr bevor das Deutsche Kaiserreich 1871 gegründet wurde, gelangte der moderne Fußball auch nach Deutschland.
Lange Zeit war das Turnen die populärste Sportart auf deutschem Gebiet. Allerdings fehlte den eher diffusen Turngruppen ein soldatischer Gruppenzusammenhalt, den der Fußball liefern konnte. Im Gegensatz zum Turnen erforderte er ein „gemeinsames Vorgehen“, wie der Historiker Franz-Josef Brüggemeier in „Fußball – mehr als ein Spiel“ resümiert. Vor allem versuchte der 1900 gegründete DFB, „Nationalstaat und Leibesspiel in einen innerlichen und unzerstörerischen Zusammenhang zu bringen“, schreibt Arthur Heinrich in „Der Deutsche Fußballbund“. In etwa zeitgleich wuchs auch die Überzeugung, ethnische, kulturelle oder ähnliche Gemeinsamkeiten müssten in einem Staat mit entsprechenden rechtlichen Verankerungen für bestimmte Gruppen zusammenfallen.
Das führte auch zur Diskriminierung von Minderheiten in staatlichen Gebilden, davon blieb der moderne Fußball nicht unberührt. Adolf Hitler ließ nach der Machtergreifung 1933 in Deutschland lebende Juden vom Spielbetrieb ausschließen und die deutsche Nationalelf spielte während des Zweiten Weltkrieges nur gegen Mannschaften Verbündeter oder gegen die von „neutralen“ Staaten. Noch ein knappes Jahrhundert zuvor trat die bürgerliche Freiheitsbewegung 1848 unter der Bundestrikolore Schwarz-Rot-Gold für einen Gerechtigkeitskampf ein.
Man wollte sich als politische Nation und nicht als ethnisch fundierte Gemeinschaft verstehen. Dann schuf die Völkische Bewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an das Preußische Untertanengesetz von 1842 die geistige Grundlage für das ethnische Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahre 1913. Das galt bis zum Jahre 2000. Deutscher konnte demnach per Geburt nur werden, wenn mindestens ein Elternteil deutscher Abstammung war.
„Poldi“ und Klose
Heute soll alles anders sein. Seit der Teilimplementierung des ius soli ins deutsche Staatsangehörigkeitsrecht können Kinder ausländischer Eltern seit dem 1. Januar 2000 unter bestimmten Bedingungen die deutsche Staatsbürgerschaft per Geburt bekommen (das sogenannte „Optionsmodell“). Und auch beinah der komplette Sturm der deutschen Elf hat heute einen „Migrationshintergrund“. Deutschland wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem Einwanderungsland, wenn sich auch ein Großteil der Bevölkerung lange nicht dazu bekannt hat.
Gerade weil in den letzten Jahren ein Umdenken eingesetzt hat, Deutschland nun doch ein Einwanderungsland sein soll, werden jetzt Deutungsversuche unternommen, das Nationale zu bestimmen und klar zu definieren, wer unter welchen Umständen in Deutschland bleiben darf. Nicht umsonst heißt das im 1. Januar 2005 in Kraft getretene Gesetz zur „Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“ auch „Zuwanderungsgesetz“ und nicht „Einwanderungsgesetz“. Und an der Vorstellung, welche Gruppen in diesem Land als „Ausländer“ gelten, konnten auch all die „Migrationshintergründe“ nur bedingt etwas ändern.
So werden „Poldi“ und Klose heute von einem Großteil der Bevölkerung ohne große Diskussionen als Deutsche ins Team der Nationalelf gestellt (beide sind weiß und polnischstämmig). Selbst die rechtsextreme NPD bringt das nicht aus der Fassung, wenn sie eine „deutsche Nationalmannschaft“ fordert. Bei der Frage aber, ob ein schwarzer Spieler wie Gerald Asamoah ins deutsche Nationaltrikot gehört, wird es selbst im demokratischen Bereich der Bundesrepublik unruhig. Diese Debatten finden auch nicht nur in Deutschland statt. Als der Brasilianer Mehmet Marco Aurelioins vor zwei Jahren ins türkische Nationalteam wechselte, sprach der Chef der türkischen Schiedsrichtervereinigung in der Türkei von einer Degeneration der Nationalmannschaft.
Auch Spaniens Trainer Luis Aragonés ließ gegenüber seinen Spielern streng verlauten, dass man dem „Scheiß-Neger“ auf dem Platz (damit war der Franzose Thierry Henry gemeint) mal zeigen müsse, dass man „besser ist als er“. In diesem Wortlaut mag die Allgemeinheit zwar keine nationalen Zugehörigkeiten mehr verteidigen, die Vorstellung von einer nationalen Gemeinschaft rekurriert aber noch immer in weiten Teilen auf Ethnizität und Kultur.
Fußball: Realitätsmodell versus Realitätsflucht
Die Diskussionen, wer wo hingehört und wo nicht, sind Ausdruck von Abwehrreflexen in einer sich globalisierenden Welt. Der Umgang mit Minderheiten ist heute dennoch ein anderer als im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Nationen sind zu vermehrt durchlässigen Kollektiven im Zuge europäischer Immigration geworden. Minderheiten werden in Systeme mit einbezogen, wenn sie auch benachteiligt bleiben (gesetzt den Falle, sie dürfen überhaupt einwandern). Standen sich einst kriegerische, imperialistische Großmächte gegenüber, durch die zwangsläufig die Frage aufgeworfen wurde, wer das „Fremde“, „Andere“ im Äußeren von Territorien sei, kommt es heute verstärkt zur „Binnenbewertung“ von Minderheiten in einem Nationalstaat.
Das muss keineswegs die Abwertung des „Fremden“ implizieren, setzt dennoch die Kategorisierung des „Anderen“ voraus. Und wenn Menschenmassen in den Fußballstadien und vor den Bildschirmen multikulturelle Nationalmannschaften anfeuern, heißt das nicht, dass Minderheiten in einer integrationsfreudigen Aufnahmegesellschaft gleich mit offenen Armen empfangen werden.
Fußball ist nicht nur ein „Realitätsmodell“, wie Klaus Theweleit in „Tor zur Welt“ schreibt. Fußball bedeutet auch Realitätsflucht, wenn Menschen inmitten der Feierlaune eine multikulturelle Gesellschaft für mehrere Wochen schönfärben, die es unter den Gegebenheiten des Alltags nicht gibt. So tanzten während dieser EM türkische und deutsche Fußballfans in Berlin-Kreuzberg über Straßenkreuzungen und legten den kompletten Verkehr lahm. Türkische Fans machten selbst weiter, nachdem Philipp Lahm die türkische Elf mit dem 3 : 2-Siegtreffer aus dem Turnier schoss. Sie riefen auf einmal „Deutschland Türkiye“ und ließen den deutschen Adler auf dem türkischen Halbmond landen. Viele Deutsche freuten sich ebenso – zeitweise hatte man den Eindruck, Deutschland sei in einer harmonisch sich in den Armen liegenden multikulturellen Gesellschaft angekommen.
Mit der Realität hat das nur wenig zu tun, auf das Turnierende folgt der Alltag. Verwunderlich ist es nicht, dass Wilhelm Heitmeyer in den Folgen seiner Buchreihe „Deutsche Zustände“ resümiert, dass in den letzten Jahren die Zustimmung dafür kontinuierlich gestiegen sei, Ausländer solle man wieder nach Hause schicken, wenn Arbeitsplätze knapp in Deutschland werden (ohnehin kam es bundesweit und auch in anderen Ländern während der EM zu Ausschreitungen, was in den Medien förmlich unterschlagen wurde - in Dresden wurden beispielsweise türkische Fahnen verbrannt und gezielt drei Dönerbuden angegriffen).
Globalisierte Fußballkultur demonstriert dann auch, wie ein Land außerhalb der Fußballsommernachtsträume mit Minderheiten umgeht. Mulitikulturelle Nationalteams sind Spiegelbild der Einbürgerungspolitik von Nationalstaaten.
Multikulturelle Nationalteams – Spiegelbild der Einbürgerungspolitik von Nationalstaaten
In Frankreich laufen heute in etwa gleich viele schwarze Spieler für das Nationalteam auf wie weiße. Und mit Zinédine Zidane bleibt ein Sohn algerischer Einwanderer der bis heute beste französische Fußballer. Daran wird mehr als deutlich, dass Frankreich in den letzten zwei Jahrhunderten eine andere Einwanderungspolitik verfolgt hat als beispielsweise Deutschland.
Bereits im napoleonischen „Code civil“ von 1804 galt, dass in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern mit ihrer Volljährigkeit einen Rechtsanspruch auf die französische Staatsbürgerschaft erwerben. Heute ist das französische Einbürgerungsmodell ein Mix aus Elementen des ius soli (Territorialprinzip) und des ius sanguinis (Abstammungsprinzip). In Deutschland hingegen galt von 1914 bis 2000 das ius sanguinis.
Hakan Balta und Hamit Altintop sind gute Spieler. Gelegentlich schießen sie auch Tore. Sie treten heute für die türkische Nationalmannschaft an, sie sind aber in Deutschland geboren. Hakan Balta kam in Berlin-Charlottenburg zur Welt, die Altintop-Zwillinge (Hamit und Halil) stammen aus Gelsenkirchen. Hakan Balta, Hamit und Halil Altintop gingen in Deutschland zur Schule und lernten das Fußballspielen in der Bundesrepublik Deutschland. Spielberechtigt für Deutschland sind sie nicht.
Balta, Altintop und viele andere stehen exemplarisch für eine verfehlte Integrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland der letzten Jahrzehnte. Zwar spielen viele türkische Spieler für die Türkei, weil sie oder ihre Väter (oder die Familien) das wollen und sie auch von der türkischen Nationalmannschaft rechtzeitig angeworben werden. Zugleich wird an ihnen deutlich, dass sich Deutschland ein halbes Jahrhundert Menschen in einem Wohlfahrtsstaat als „Ausländer“ gehalten hat und ihnen immer wieder zeigte, dass sie im Grunde woanders hingehören. Im Team der deutschen Elf kam bisher mit Mustafa Do?an auch nur ein einziger Türkischstämmiger zu zwei Kurzeinsätzen und versank anschließend wieder in der Bedeutungslosigkeit.
Bis heute wird in Deutschland zwischen Unionsbürgern und Nicht-EU-Bürgern unterschieden. Und in diesem Punkt spiegelt sich das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei wider. Nicht-EU-Bürger besitzen weder das kommunale noch das allgemeine aktive und passive Wahlrecht (EU-Bürger besitzen nur das kommunale Wahlrecht und das Recht zur Wahl des Europaparlaments). Sie dürfen in der Regel auch erst einen Job annehmen, wenn kein Deutscher oder anderer Unionsbürger in Frage kommt (es sei denn, sie haben eine Niederlassungserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit unbeschränkter Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit).
Zudem soll „Mehrstaatigkeit“ in Deutschland, wenn möglich, noch immer vermieden werden, was dem europäischen Trend hin zum Doppelpass widerspricht. Davon sind vor allem Nicht-EU-Bürger betroffen; zwei Drittel aller Ausländer in Deutschland und somit auch alle Türkischstämmigen, die nicht eingebürgert sind, sind keine EU-Bürger. Bei der Einbürgerung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wird heute generell nicht mehr zur Einbürgerungsvoraussetzung gemacht, dass zuvor dessen Staatsangehörigkeit aufgegeben wird (§ 12 Abs. 2 StAG). Für Nicht-EU-Ausländer gilt das nicht.
Die Abwehr von Doppelstaatigkeit ist der unmissverständliche Versuch, lineare Staatsloyalitäten in einer Welt hervorzubringen, in der sich das Prinzip von Transnationalität immer mehr durchsetzt. Was in Frankreich und Großbritannien schon seit Jahrhunderten üblich ist, dass die ursprüngliche Staatsangehörigkeit trotz Einbürgerung beibehalten werden kann, ist inzwischen auch in vielen europäischen Ländern möglich, so beispielsweise in Italien, den Niederlanden oder Portugal (auch Spanien bietet mittlerweile in Kooperation mit einigen lateinamerikanischen Ländern die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft an).
Dementsprechend multinational sind meist auch ihre Nationalmannschaften. Gleichwohl gilt im Fußball länderübergreifend für alle Nationen des Fußballweltverbandes (das sind 207 Mitglieder, darunter 194 souveräne Staaten), dass ein Spieler für ein anderes Land nicht mehr antreten darf, sobald er ein Qualifikationsspiel für ein Land nach Vollendung des 21. Lebensjahres absolviert hat (dann darf man nur noch für dieses Land spielen).
Globaler Fußballsport – Ausdruck eines Nützlichkeitsprinzips europäischer Immigration
Das obligatorische Auflaufen für nur eine Nation ist in Zeiten von Transnationalität gerade eine Flanke in Richtung Schicksalsgemeinschaft. Entscheide dich, wo Du hingehörst, auch wenn man „Pole im Herzen und Deutscher im Schuh“ ist (Lukas Podolski). Früher gab es keine solchen starren Regelungen – es gab auch kaum Einbürgerungen. Heute ist man um die Besten der Welt bemüht, nicht nur in die Bundesligen sollen sie kommen, auch in den Nationalteams sind sie (bedingt) erwünscht. Mit Nächstenliebe hat das nichts zu tun. Globalisierte Fußballkultur ist Ausdruck eines Nützlichkeitsprinzips europäischer Immigration.
Zweifelsohne gilt, dass die Menschen schon immer migriert sind. Jedoch war das Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein „Auswanderungskontinent“. Zwischen 1815 und 1930 emigrierten mehr als 50 Millionen Europäer aus ökonomischen und politischen Gründen nach Übersee (38 Millionen gingen allein in die USA). Aus den Staaten des Deutschen Bundes und des Deutschen Reiches wanderten zwischen 1816 und 1914 um die 5,5 Millionen Menschen in die Vereinigten Staaten aus.
Erst im 20. Jahrhundert kehrten sich die Vorzeichen allmählich um, wenn auch bis in die 50er Jahre die Zahl der nach Nordamerika oder in andere überseeische Gebiete auswandernden Europäer höher war als die Zahl der außereuropäischen Immigranten. In den 70er Jahren hatte Europa plötzlich einen Wanderungsgewinn von 1,9 Millionen Menschen. Exemplarisch für diese Entwicklung stehen auch die zunehmenden Spielertransfers im Profifußball der letzten Jahrzehnte.
Nach Deutschland kamen nach den Anwerberverträgen ab dem Jahr 1955 vor allem die Schlechtgebildeten, die als Un- und Angelernte im industriellen Sektor Anstellung fanden, weil man diese Leute brauchte. Jetzt braucht man sie nicht mehr, heute sollen die Hochqualifizierten kommen, was den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt entspricht. Sie kommen nur nicht. Auch in der deutschen Bundesliga nahm nach deren Gründung im Jahr 1963 die Zahl ausländischer Spieler in den Jahren zu. Gerade heute erhofft sich die deutsche Bundesliga auch noch mehr „Hochqualifizierte“ in den Strafräumen. Die Besten der Welt gehen aber, bis auf wenige Ausnahmen, lieber nach Spanien und England, weil es dort das meiste Geld gibt.
Europa schottet sich seit Jahren gegen die Armen der Welt ab. Das wurde auch bei dieser EM inmitten der Feierlaune deutlich: Als in Wien die spanische Auswahl zum Elfmeterschießen gegen Italien antrat, wollten afrikanische Flüchtlinge die Grenze nach Melilla übertreten. Sie wollten nach Europa, ihr Versuch scheiterte kläglich. Sie wurden in Gefangenenlagern untergebracht.
Auch Deutschland hat sich durch den Anwerberstopp 1973 und dem „Asylkompromiss“ von 1993 dem Prinzip gezielter Selektion verschrieben. Asylsuchende können seit 1993 abgewiesen werden, wenn sie über ein sicheres „Drittland“ einwandern (Deutschland ist umgeben von „sicheren Drittländern“). Und wer deutscher Staatsbürger werden will, muss künftig mehr Leistungsnachweise erbringen als je zuvor (wenngleich der Einbürgerungswillige als Voraussetzung nur noch acht Jahre seinen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben muss) – ab September gibt es in Deutschland erstmals bundesweite Einbürgerungstests und in Europa gelten künftig einheitlich strenge Regeln für den Umgang mit „illegalen Einwanderern“.
Fußballstars aus armen Ländern werden hingegen hereingebeten. Das Prinzip zur Eingliederung aber bleibt: Komme, wenn wir Dich brauchen, ansonsten bleibe dort, wo Du bist. Populär sind all die Ronaldinhos, Ronaldos, Kakás und Eto’os heute, weil man sich an deren Ballkünsten erfreut und der weltweite Spielertransfer wirtschaftlich und kulturell bereichert.
Zwar kommt es in den Fußballverbänden und unter Fußballfans immer wieder zur Stimmungsmache: ein zu hoher „Ausländeranteil“ in den deutschen Ligen verhindere den Einsatz von deutschen Spielern. Darum könnten sie kaum Spielerpraxis ausbilden. So plant die FIFA jetzt auch eine neue „5+6 Regelung“, durch die ab 2013 in allen europäischen Ligen mindestens sechs Spieler pro Team aus dem jeweiligen Inland stammen sollen. Gewöhnliche Arbeitnehmer konkurrieren aber nicht mit immigrierenden Fußballprofis.
Fußballer bewegen sich vielmehr außerhalb des Konkurrenzbereichs vom eigentlichen Arbeitsmarkt. Keiner hat Angst, diese Spieler könnten einem den Arbeitsplatz wegnehmen (es sei denn man ist Profifußballer). Man glaubt auch nicht, diesen Spielern den Rang streitig machen zu können. Interessanterweise etablierte sich auch analog zur Zunahme von ausländischen Spielern in den Profiligen eine offensiv agierende rechte Fankultur, die es erst seit den späten 70er Jahren in den Stadien gibt (diese Fankultur will man heute aus den Stadien haben).
Dass rechte Fans heute eine durchwegs multikulturelle Truppe anfeuern, mag zwar keinen „rechten“ Sinn ergeben. Es demonstriert dennoch, dass internationalisierte Fußballligen (und Einbürgerungen in den Nationalmannschaften) die Vorstellung von ethnischer Gruppenzugehörigkeit gerade unter globalen Wettbewerbsbedingungen verfestigen können.
Nützlichkeitskriterien und der Wandel im Rassismusdiskurs
Die Nützlichkeitskriterien, nach denen Migrierende heute angeworben werden, sind wiederum Folge eines Wandels im Rassismusdiskurs des letzten Jahrhunderts, durch den man zunächst aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges lernen wollte. Die Erfahrung aus dem Dritten Reich lehrte ein grausames Ausmaß der Bewertung des Körperlichen für die Menschheit.
An Stelle des Körperlichen trat das Kulturelle. Menschen wurden nicht mehr per se durch phänotypische (äußerliche) Merkmale bewertet, die Unterschiede zwischen Menschengruppen wurden kulturell begründet. Allerdings wurden so auch die Ausschließungspraxen den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt „angepasst“, der Körper wurde in der Arbeitswelt bedeutungsloser. Jetzt brachte man die Kultur in Stellung und bewertete zunehmend (wieder) Sprachkriterien, die für eine kommunikativ ausgerichtete Gesellschaft maßgeblich sind.
In dieser Hinsicht kommt es im Fußball zu einer paradoxen Situation: Einerseits werden im Profibetrieb der oberen Ligen, und mittlerweile auch in durchmischten Nationalteams, wie in keinem anderen Arbeitsbereich ausländische „Arbeitnehmer“ nach dem Nützlichkeitsprinzip angeworben. Das ist Folge eines globalen Wettbewerbs und auch von einer Demokratisierung. Andererseits erleben wir im Fußball (noch immer) eine Reduzierung auf das Biologische.
Im Fußball zählt körperlicher Einsatz, das macht Fußball gerade (auch) so populär. Fußball ist ein körperbetontes Kollektiverlebnis in Zeiten einer Entkörperlichung. Menschen werden darum aber (immer noch) anhand physischer Merkmale bewertet, ein Kollektiv wird aufgrund biologistischer Vorstellungen konstruiert, das sich unter demokratischen Spielregeln nicht verteidigen ließe.
Tooooooooooooooooooooor für alle !!
Und doch hat ein globaler Markt vieles ermöglicht. Deutschland 08 kann heute auch heißen, Odonkor ist im Sturm, hurra, das ist die neue Bundesrepublik. Der steigende Anteil von Spielern mit Migrationshintergrund in den Reihen der Nationalelf zeigt ein neues Deutschland, welches sich klar vom alten abgrenzen kann. Im Grunde kann sich bei jedem Tor heute auch jeder freuen, was allerdings schon im Ersten Weltkrieg der Fall war, als Fußball plötzlich zur Unterhaltung an der Front diente. Offiziere und Soldaten spielten nicht nur gegen- und miteinander, auch die Länderteams wurden durchmischt. Gesellschaftliche Hierarchien wurden in diesem Moment oft bedeutungslos.
Anschließend sah das wieder anders aus, da schoss man sich in den Kopf. Heute schießt man auch Tore gegen sein „Heimatland“ unter der Beobachtung der ganzen Welt. Die Niederlande sind dann gar nicht gegen Russland ausgeschieden, Russland kam durch seinen niederländischen Nationaltrainer Guus Hiddink ziemlich weit. Und dass Polen gegen Deutschland verloren hat, kann man gleich für ein mediales Gerücht halten. Nein, Polen hat nicht gegen Deutschland verloren, sondern auch 2:0 gewonnen, durch zwei Tore von Lukas Podolski. Dann wäre auch Polen fast Europameister geworden.