Dank Flüchtlingskrise: Der Konsens ist futsch

EU-Innenminister drücken Umverteilung von Flüchtlingen durch - gegen erbitterten Widerstand aus Osteuropa. Doch die erzwungene Solidarität hat ihren Preis: Brüssel will auch den Hardlinern entgegenkommen und Grenzen abriegeln

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Diesmal hat die Brüsseler Regie gut gearbeitet. Nur wenige Tage, nachdem EU-Ratspräsident Donald Tusk offiziell einräumte, dass die Flüchtlingskrise außer Kontrolle geraten sei, haben die Innenminister am Dienstag in Brüssel den von der EU-Kommission und der Bundesregierung heiß ersehnten Beschluss herbeigeführt: 120.000 Flüchtlinge werden in den nächsten zwei Jahren zwischen den EU-Staaten hin- und hergeschoben, um die damit verbundenen "Lasten" einigermaßen "fair" zu teilen.

Der deutsche Innenminister de Maizière mit seinem luxemburgischen Kollegen Asselborn beim Treffen in Brüssel. Bild: EU

Der Beschluss kam mit qualifizierter Mehrheit zustande; Ungarn, Rumänien, Tschechien und die Slowakei wurden überstimmt. Vom EU-Sondergipfel am Mittwoch kann diese Entscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden - denn Tusk hat den Gipfel wohl nicht zufällig zu einem informellen Treffen erklärt, bei dem keine Beschlüsse gefasst (oder revidiert) werden. Die vier unterlegenen Staaten werden sich also fügen und sogar doch noch Flüchtlinge aufnehmen müssen. Ende gut, alles gut?

Wohl kaum. Denn diese Einigung mit der Brechstange hat einen hohen Preis. Zum ersten Mal haben die Innenminister das bisher in sensiblen Fragen übliche Konsensprinzip aufgegeben und eine Mehrheitsentscheidung getroffen. Und das, obwohl sich der luxemburgische Ratsvorsitzende Jean Asselborn und die EU-Botschafter buchstäblich bis zur letzten Minute um einen für alle akzeptablen Kompromiss bemüht hatten. Nun ist offenbar: Der Kompromiss ist gescheitert, der Konsens ist futsch.

Das war er zwar auch schon im Juni, als sich die Chefs beim EU-Gipfel zum ersten Mal über eine Quotenregelung unterhielten - und heillos zerstritten. Doch diesmal ist die Lage ernster. Denn zum einen hat sich die Krise seit Juni spürbar verschärft, wie man schon an den Zahlen sehen kann: Im Frühsommer war noch von 40.000 umzuverteilenden Flüchtlingen die Rede, nun sind es schon insgesamt 160.000 (40.000 plus die nun beschlossenen 120.000). Die Uno fordert sogar, die EU solle 200.000 aufnehmen.

Unmut über Berlin

Zum anderen trifft der Unmut mittlerweile nicht nur die EU-Kommission in Brüssel, die die Quoten vorgeschlagen hatte. Er trifft auch die Bundesregierung in Berlin, die mit ihren flüchtlingspolitischen Alleingängen - erst weitgehende Öffnung für syrische Asylbewerber aus Ungarn, dann plötzliche Grenzschließung - für erhebliche Irritationen gesorgt hat. Längst ist es nicht mehr nur Ungarns Regierungschef Viktor Orban, der von einem "deutschen Problem" spricht.

Auch in Kroatien, Serbien und sogar in Frankreich wächst der Unmut über die schwer nachvollziehbaren Windungen und Wendungen in Berlin. Mit ihrer Drohung, nicht gefügigen Staaten die EU-Subventionen zu entziehen, haben Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Wirtschafts-minister Sigmar Gabriel (SPD) die Stimmung weiter aufgeheizt. Die Lage drohte nicht nur außenpolitisch, sondern auch im Innern der EU außer Kontrolle zu geraten.

Die EU sei in einer "Notsituation" und habe handeln müssen, begründete Asselborn die nun getroffene Entscheidung. Ohne den Beschluss wäre die EU "auf andere Weise gespaltener gewesen und in ihrer Glaubwürdigkeit getroffen", fügte er hinzu. Indirekt räumte der Luxemburger damit ein, dass die Lage weiter verfahren ist und die Spaltung noch längst nicht überwunden. Dies bestätigen auch erste Reaktionen nach dem Innenminister-Treffen.

Der slowakische Regierungschef Robert Fico sprach von einem "Diktat" und kündigte an, er werde sich nicht an den Mehrheitsbeschluss halten. Dafür werde er auch ein Vertragsverletzungsverfahren riskieren, wie es die EU-Kommission bereits angedroht hat. "Der gesunde Menschenverstand hat heute verloren", schrieb der tschechische Innenminister Milan Chovanec auf Twitter. Die Umverteilung sei eine "leere Geste", mehr nicht.

Die Gegner der Lastenteilung haben nicht nur grundsätzliche Probleme mit der europäischen Solidarität, die sie wohl als Einbahnstraße verstehen. Sie fürchten auch - wohl nicht ganz zu Unrecht - dass der EU-Beschluss in Nahost und anderen Krisenregionen als Einladung für eine weitere Zuwanderung verstanden wird. Außerdem führen sie an, dass die "Fluchtursachen" nicht beseitigt seien und die Grenzen noch mehr abgeriegelt werden müssten.

EU-Gipfel soll die Einheit kitten

Beim EU-Gipfel am Mittwoch könnten die Osteuropäer zumindest teilweise erhört werden. Denn die Brüsseler Regie sieht vor, genau über diese Themen der Neinsager zu diskutieren - wenn auch nur informell. Die umstrittene Grenzschutzagentur Frontex soll gestärkt werden, die Flüchtlinge sollen möglichst schnell in neuen "Hot-Spots" in Griechenland und Italien abgefertigt und am Weiterwandern gehindert werden - und auch über Krisenländer wie Syrien oder die Türkei will man reden.

So sieht es Ratspräsident Tusk in seiner Einladung an Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs vor. Nach dem verbindlichen Beschluss zu den Quoten sollen die Hardliner mit unverbindlichen Grundsatzdiskussionen abgespeist werden. Die Rolle der US-Außenpolitik, der deutschen Flüchtlingspolitik oder der Waffenexporte in Krisenregionen steht dabei freilich nicht auf der Tagesordnung. Der Gipfel ist wohl eher als Beruhigungspille gedacht, bei dem sich die Chefs wieder einig zeigen können.

Doch ob diese Rechnung aufgeht, ist nach dem Hauruck-Beschluss der Innenminister alles andere als sicher. Wenn es schlecht läuft, treiben die unterlegenen Osteuropäer den Streit noch einmal auf die Spitze. Und die EU steht noch dümmer da als zuvor.